Kommentar: Divergent oder konvergent?

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Bei sich auseinanderentwickelnden Dingen spricht man von einer Divergenz. Als ein Beispiel dafür könnte man die Stückzahlabsätze im deutschen Reifenersatzgeschäft während der ersten neun Monate des laufenden Jahres heranziehen. Zumal bis dato der Trend im Sell-out (Absatz Handel an Verbraucher) im Segment Pkw-Reifen sehr viel erfreulicher aussieht als im Sell-in (Absatz Industrie an Handel). Kein Wunder also, dass sich die positive Entwicklung im Handel in einer entsprechend guten Stimmungslage im Branchenbarometer des Bundesverbandes Reifenhandel und Vulkanisieurhandwerk e.V. (BRV) für das vierte Quartal 2019 niederschlägt.

Immerhin bewerten demnach mehr als die Hälfte der dafür Befragten sowohl die Lage für den Reifenfachhandel ganz allgemein wie auch die des eigenen Betriebes als „gut“ oder sogar „sehr gut“. Was Dinge wie Reifenabsatz, Umsatz, Rohertrag, Gewinn und Werkstattauslastung betrifft, wird für das dritte Quartal bzw. das vierte jeweils von gut 30 bis hin zu 45 Prozent eine (deutliche) Besserung gemeldet bzw. erwartet. Hinzu kommen je nachdem, welchen der fünf Parameter man betrachtet, noch zwischen 40 und 50 Prozent, die eine gleichbleibende Entwicklung berichtet haben (drittes Quartal) oder damit rechnen (viertes Quartal).

So richtig erklären kann sich die unterschiedliche Stückzahlentwicklung im Sell-in/Sell-out trotzdem niemand, selbst wenn nach Aufwerfen der entsprechenden Frage danach schon im September einige Leser der NEUE REIFENZEITUNG uns ihre Gedanken dazu haben zukommen lassen. Häufigstes zu hörendes Argument: Die Daten der European Tyre and Rubber Manufacturers’ Association (ETRMA) zum Sell-in bezögen sich ja nur auf die von in diesem Verband organisierten (europäischen) Reifenherstellern gemeldeten Stückzahlvolumina. Importierte bzw. von Anbietern außerhalb Europas produzierte Mengen würden also nicht berücksichtigt, wobei diese „in den letzten Jahren immer stärker gestiegen“ seien als die europäische Produktion.


Das ist einerseits nicht von der Hand zu weisen. Andererseits scheinen so deutliche Verschiebungen in einem so kurzen Zeitraum zugunsten von Importmarken doch ein wenig zu „sprunghaft“. Ein weiterer zu hörender Erklärungsansatz ist der einer leicht unterschiedlichen Saisonalität. Soll heißen: Bevor der Handel Reifen an seine Kunden verkaufen kann, muss er sie ja erst einmal im Lager und somit von der Industrie geliefert bekommen haben – sofern er dort überhaupt ordert und seine Ware nicht anderweitig (zum Beispiel über den Großhandel oder B2B-Portale) bezieht. Doch müsste sich dann eine steigende Nachfrage im Sell-out nicht dennoch zuvor schon im Sell-in widergespiegelt haben?

Trotzdem ist das Stichwort der Saisonalität vielleicht gar nicht so weit hergeholt, aber unter einem anderen Gesichtspunkt. Was wäre, wenn das Ganze mit der nach wie vor steigenden Beliebtheit von Ganzjahresreifen zusammenhängt? Hat letztere Gattung nach allgemeiner Auffassung bis dato vor allem im Segment der Sommerreifen „gewildert“ und dort entsprechend Volumina „gekostet“, könnte sich dieser Trend nun doch auch auf den Absatz von Winterreifen auswirken. Einem solchen Szenario folgend legte sich der Handel letztlich weniger Winterreifen ins Lager und brächte erst einmal die ohnehin dort schon vorhandenen an die Frau oder den Mann.

Indizien, die dafür sprechen, sind gleiche Vorzeichen beim Sell-in und Sell-out, was die Stückzahlentwicklung bei Sommer- und Ganzjahresreifen betrifft, aber gegensätzliche bei Winterreifen. Und das Ganze dann noch kurz vor dem eigentlichen Beginn der Umrüstung. Zumal vergangenes Jahr der Oktober und November mit einem Anteil von jeweils knapp einem Drittel am Gesamtjahresvolumen an Verbraucher vermarkteter Winterreifen die diesbezüglich bei Weitem stärksten Monate waren. Aktuell steht jedenfalls einem recht starken Minus hinsichtlich der Industrielieferungen gerade letzterer Profilgattung an die Reifenvermarkter hierzulande ein bisher rund dreiprozentiges Plus bei den Verkäufen Handel an Verbraucher gegenüber.

Vor diesem Hintergrund wird spannend zu sehen sein, welche Richtung die Marktentwicklung in den noch verbleibenden drei Monaten des Jahres nehmen wird. Denkbar wäre, dass alles bleibt, wie’s bis Ende September war. Genauso möglich wäre jedoch eine Konvergenz. Ein plötzlicher Wintereinbruch könnte der Industrie einen Nachfrageschub und bei entsprechender Lieferfähigkeit ein Aufpolieren ihrer Absatzstatistik bescheren. Oder aber die Verbreitung von Ganzjahresreifen ist bereits so weit vorangeschritten, dass auch die Pkw-Stückzahlbilanz des Handels ins Minus abdriftet. Bleibt zu hoffen, dass ihm dies erspart bleibt und sich seine positive Erwartungshaltung bestätigt. christian.marx@reifenpresse.de

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  1. […] Beginn der Hochphase des Winterumrüstgeschäftes 2019/2020 hatte der Eindruck entstehen können, als müsse dieses Jahr nur die Industrie, nicht aber der Handel Stückza… im deutschen Reifenersatzmarkt. Das sieht inzwischen aber schon wieder ganz anders aus. Nachdem […]

  2. […] „zu einem späteren Zeitpunkt“ nachreichen. Zumal nicht zuletzt bis Ende September sich die Stückzahlentwicklung aufseiten des Handels recht positiv dargestellt hat im Gegensatz zu derjenigen…. […]

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