Nokian Tyres expandiert in den USA und Russland – und Europa könnte wachsen
Eine der großen Konstanten, die den russischen Reifenmarkt in den vergangenen Jahren bestimmt hat, ist dessen Unbeständigkeit. Erst die Jahre nach 2008 (die Lehman Brothers lassen grüßen), dann noch einmal die Rezession zwischen 2014 und 2016 im Zuge des Krim-Konflikts – Russland blieb in den vergangenen zehn Jahren ein Markt mit großen Herausforderungen, auch ein Reifenmarkt mit großen Herausforderungen. Das bekamen insbesondere Unternehmen zu spüren, die sich vor Ort besonders exponierten. Vor allen anderen musste hier Nokian Tyres mit ansehen, wie Umsätze in Russland und den anderen GUS-Staaten von über 560 Millionen Euro (2012) auf gerade einmal noch 222 Millionen Euro (2016) zusammenschmolzen. Während in der gleichen Zeit das Geschäft in Nordamerika florierte, wo der finnische Hersteller ab dem kommenden Jahr dementsprechend nun auch eine Reifenfabrik bauen will, trat man in Mittel- und Osteuropa in den zurückliegenden Jahren umsatzseitig augenscheinlich auf der Stelle. Bei einem Besuch in der Nokian-Tyres-Reifenfabrik im russischen Sankt Petersburg skizzierten hochrangige Vertreter des Herstellers nun gegenüber Pressevertretern, dass sich dies in Zukunft durchaus ändern könnte – eine große Chance und eine große Herausforderung, wozu auch die Erstausrüstung gehören könnte, wie die NEUE REIFENZEITUNG vor Ort erfuhr.
Als Nokian Tyres Anfang der 2000er Jahre beschloss, in Russland in eine Reifenfabrik zu investieren, war dies eine „mutige Entscheidung“, sagt Andrei Pantioukhov. Der General Manager Russia und Executive Vice-President von Nokian Tyres verweist anlässlich einer Präsentation vor europäischen Pressevertretern in Sankt Petersburg darauf, dass der Hersteller damals ein Investitionsvolumen projektiert hatte, das den Jahresumsätzen des finnischen Konzerns nahekam. Während der ursprüngliche Plan vorsah, im Nachbarland Finnlands eine Fabrik zur Herstellung von rund acht Millionen Consumer-Reifen jährlich zu errichten, war der Mut der Verantwortlichen damals recht bald schon belohnt worden. Wie Pantioukhov erläutert, der bereits seit 14 Jahren für die Finnen arbeitet und von Anfang an Verantwortung für das Projekt in Russland trug, sei man mit der Fabrik in Wsewoloschsk nahe Sankt Petersburg dermaßen erfolgreich gestartet, dass die Produktionskapazitäten entgegen den ursprünglichen Plänen deutlich stärker hochgefahren werden konnten und mussten, um der Nachfrage gerecht zu werden. Aktuell kann Nokian Tyres in seiner Russland-Fabrik nur gut 500 Kilometer vom Stammsitz im finnischen Nokia entfernt jährlich immerhin 17 Millionen Reifen fertigen, was einer Tagesproduktion von 48.000 Reifen entspricht; gerade hat der Hersteller für 55 Millionen Euro seine 14. Produktionslinie vor Ort in Betrieb genommen, wodurch sich das gesamte Investitionsvolumen seit Baubeginn auf 924 Millionen Euro hochschraubt.
Parallel zum Aufbau der russischen Reifenfabrik hatte Nokian Tyres übrigens seine Stammfabrik im finnischen Nokia klar auf das Nutzfahrzeugreifensegment ausgerichtet und dort auch die nominellen Kapazitäten von sechs Millionen Stück bei Einweihung der Russland-Fabrik auf aktuell 2,5 Millionen Stück zurückgefahren. Mit dieser Ausrichtung der Produktionsstätten ist Nokian Tyres etwa zum Weltmarktführer bei Forstreifen aufgestiegen, heißt es aus dem Unternehmen selbst.
Die Nokian-Tyres-Reifenfabrik in Wsewoloschsk, die 2005 ihren ersten Reifen ausliefern konnte, diente dabei seit jeher immer dazu, neben dem heimischen Reifenmarkt auch den Markt in Mittel- und Osteuropa sowie die nordischen Märkte mit Reifen zu beliefern. Vor Ort in Russland konnte der finnische Hersteller anlässlich der Eröffnung der Fabrik bereits auf langjährige, fest etablierte Geschäftsbeziehungen zurückblicken. Wie der General Manager Russia betont, habe Nokian Tyres bereits 1964 erstmals Reifen in die damalige Sowjetunion geliefert und war damit eigenen Aussagen zufolge der erste westliche Hersteller, der überhaupt Reifen in den Markt hinter dem Eisernen Vorhang liefern durfte.
In dem Jahr, als Nokian Tyres in Wsewoloschsk seine Reifenfabrik in Betrieb nahm, konnte man in Russland und den anderen GUS-Staaten immerhin schon auf einen Umsatz in Höhe von 117 Millionen Euro vertrauen. Dieser stieg durch die Fabrik und die sie begleitenden Retail-Initiativen – auch Vianor fasste 2005 Fuß in Russland, und zwar ohne eigene Equity-Betriebe – innerhalb weniger Jahre auf ein Mehrfaches dessen. 2012 lag der Umsatz, den Nokian Tyres in den Märkten dort generieren konnte, bereits bei über 560 Millionen Euro bzw. 35 Prozent der Gesamtumsätze, weswegen die Verantwortlichen damals natürlich von Russland als ihrem „zweiten Heimatmarkt“ sprachen. Damals konnte Nokian Tyres auch fast die Hälfte seiner Produktion auf dem heimischen Reifenmarkt vertreiben. Erst 2009 hatte der Hersteller damit begonnen, Reifen aus Russland zu exportieren.
Doch die Rezession des russischen Marktes – auch des russischen Reifenmarktes – in den Jahren 2014 bis 2016 ging nicht spurlos an den Finnen vorüber. Während die Nachfrage auf dem russischen Reifenmarkt nach Consumer-Reifen von damals über 40 Millionen Stück bis 2016 auf gerade einmal noch 32 Millionen Stück zusammenbrach, spielte den Finnen der ebenfalls zusammenbrechende Kurs des Russischen Rubels in die Hände: Exporte wurden auf einmal deutlich attraktiver, weil die Reifen für die Käufer außerhalb Russlands billiger wurden – und die Erträge für den Produzenten höher. Dementsprechend konnte Nokian Tyres auch seine Exporte – der dem Vernehmen nach immer fast vollausgelasteten Reifenfabrik nahe Sankt Petersburg – von 55 Prozent in der Zeit vor 2012 auf über 70 Prozent hochfahren, wovon vor allem auch die Märkte in Nordamerika und in Mittel- und Osteuropa profitierten, so betont jedenfalls Pantioukhov selbst. Auch wenn ihm zufolge die Exporte im laufenden Jahr bereits wieder auf rund 60 Prozent zurückgegangen sind, illustrieren solche Zahlen doch die hohe Reaktionsfähigkeit des Herstellers.
Auch wenn die ‚Umleitung‘ von Produktion von einem zu einem anderen Absatzmarkt bei Nokian Tyres offenbar reibungslos funktioniert, sind die Entwicklungen der verschiedenen anderen Märkte offenbar nicht gleichmäßig vorangekommen. Wie sich in den Jahresberichten von Nokian Tyres nachlesen lässt, konnte der Hersteller allein in den Jahren ab 2011 seine Umsätze in Nordamerika um 50 Prozent steigern, und zwar von 102 auf jetzt 153 Millionen Euro (2016). In dem gleichen Zeitraum konnte Nokian Tyres seine Europa-Umsätze außerhalb seines nordischen Kernmarktes hingegen nicht steigern; im Gegenteil: die Umsätze fielen sogar leicht von 409 auf 403 Millionen Euro. Eine Entwicklung, die sicherlich sehr dazu beigetragen hat, dass Nokian Tyres ab dem kommenden Jahr jetzt eine Reifenfabrik in Tennessee/USA mit einer Anfangskapazität von vier Millionen Reifen bauen will; Investitionsvolumen: 360 Millionen US-Dollar.
Beiläufig betrachtet könnte dies bedeuten, dass der mittel- und osteuropäische Markt konzernweit für Nokian Tyres an Relevanz verliert. Aber genau das Gegenteil wird der Fall sein, wie sich Aussagen anlässlich des Besuchs in der Nokian-Tyres-Reifenfabrik nahe dem russischen Sankt Petersburg zusammenfassen lassen, ohne dass bereits auf konkrete Ansätze verwiesen wurde. Aber die üblichen Mechaniken in einem Fabrikenverbund sprechen offensichtlich sehr dafür, dass Mittel- und Osteuropa – und damit auch Deutschland – zukünftig noch mehr in den Fokus von Nokian Tyres rücken werden.
Warum? Spätestens wenn 2020 die ersten Reifen in den USA für den nordamerikanischen Markt produziert werden, müssen diese eben nicht mehr aus Russland und Finnland dorthin exportiert werden. Folglich wird Nokian Tyres versuchen (müssen), die entsprechenden Reifen – wir sprechen, wie gesagt, von einer Anfangskapazität von vier Millionen Reifen in Tennessee – andernorts zu vermarktet. Auch wenn das Unternehmen sich bemüht, weiterhin zu den Marktführern auf dem russischen Reifenmarkt zu zählen, spielen die allgemeinen Entwicklungen dort Nokian Tyres nicht gerade in die Karten.
Nokian Tyres dürfe sich zwar eigenen Aussagen zufolge als Marktführer in Russland betrachten. Nur hängt das eben auch immer davon ab, welchen Teil des Marktes man betrachtet und inwiefern Marktsegmente definitorisch voneinander abgegrenzt werden. Eigenen Aussagen zufolge hat Nokian Tyres bei Winterreifen in den Premium- und Economy- bzw. A- und B-Segmenten einen Marktanteil von in Summe beeindruckenden 35 Prozent (2016) und ist damit Marktführer. Insgesamt – durch das leicht schlechtere Sommerreifengeschäft, das aber immer noch zum Marktführer reicht – kommt der Hersteller auf noch 28 Prozent Marktanteil bei Consumer-Reifen in den beiden genannten Segmenten. Rechnet man das Budget- bzw. C-Segment des Marktes hinzu, das Studien zufolge immerhin einen Anteil von 55 Prozent des gesamten Consumer-Reifenmarktes abdeckt und stark von heimischen Herstellern wie Cordiant und Nizhnekamskshina sowie (zumindest bis vor Kurzem noch) chinesischen Marken bestimmt ist, bleiben für Nokian Tyres in Russland gerade einmal noch 13 Prozent Marktanteil übrig. Pantioukhov erwartet für das laufende Geschäftsjahr indes ein Wachstum in den Marktanteilen; in den ersten neun Monaten des Jahres 2017 habe der Hersteller in Russland und den anderen GUS-Staaten seine Umsätze um 86 Prozent und damit deutlich über Markt steigern können.
Während die Marktsegmentierung bei Consumer-Reifen Nokian Tyres zufolge in Russland bei 15, 30 und 55 Prozent für das A-, B- und das C-Segment steht, rechnen Marktforschungsunternehmen hier eher mit einer nahezu paritätischen Aufteilung der drei Segmente, wodurch sich freilich auch die Marktanteilsverhältnisse anders berechnen lassen würden.
Kommt noch ein Trend hinzu, über den es auf Ebene der statistischen Marktbeobachter offenbar kaum unterschiedliche Ansichten gibt, der aber den finnischen Premiumreifenhersteller – so sieht Nokian Tyres sich und seine Produkte – in Russland auf eine harte Probe stellt: Kunden wandern zunehmend in tiefer liegende Marktsegmente ab. Mit anderen Worten: Premiumkunden kaufen zunehmend im Economy-Segment und Economy-Kunden im Budgetsegment. Nokian Tyres begegnet dieser Entwicklung des russischen Reifenmarktes natürlich auch damit, sein Produktangebot entsprechend anzupassen. So gilt der Winterreifen Nokian Nordman dem Hersteller zufolge etwa als „Marke“ für das B-Segment, während der Nokian Hakkapeliitta klar im A-Segment positioniert sei. Eigentlich spräche einiges dafür, dass Nokian Tyres sein Markenangebot für den russischen Reifenmarkt ausweitet, um den Wanderungsbewegungen der Kundschaft folgen zu können. Doch solche Pläne liegen derzeit nicht vor, zumindest mochte General Manager Andrei Pantioukhov gegenüber der NEUE REIFENZEITUNG entsprechende Initiativen nicht bestätigen.
Des Weiteren sind auf dem russischen Reifenmarkt natürlich auch andere Hersteller in den Marktsegmenten präsent, die für Nokian Tyres interessant sind. Michelin, Continental, Bridgestone, Yokohama und Pirelli betreiben sogar eigene, wenn auch eher kleine Fabriken vor Ort; Goodyear hingegen hat seinen Fokus augenscheinlich nicht auf Russland gelegt. Hinzu kommen noch Importreifen aus Korea – namentlich von Hankook und Kumho – sowie solche von Reifenherstellern aus China, die sich im Budgetsegment positionieren, durch die Schwäche des Rubels in Russland zuletzt aber immens an Marktbedeutung eingebüßt haben und durch günstige heimische Marken ersetzt wurden.
Betrachtet man Nokian Tyres darüber hinaus auch als Marktführer auf den Nordischen Märkten, bleibt dem Hersteller für die kommenden Jahre also im Prinzip nur, das Wachstum in Mittel- und Osteuropa zu forcieren. Darin liegen große Chancen für den finnischen Hersteller, aber auch große Herausforderungen, schafft der folglich steigende Mengendruck – per se schon ein Unsicherheitsfaktor – auch einen steigenden Margendruck. Und auf das Ertragsniveau ist man in Nokia seit Jahren zurecht stolz.
Dass dabei übrigens die Erstausrüstung eine nennenswerte Rolle spielen könnte, sieht Andrei Pantioukhov folglich nicht. Gegenüber dieser Zeitschrift erläuterte er, die Erstausrüstung sei bekanntlich „kein Eckpfeiler unserer Wachstumsstrategie“. Nokian Tyres bestätigte in Sankt Petersburg zwar, dass man bereits seit Längerem Kompletträder an Fahrzeughersteller wie BMW, VW, Audi, Skoda, Volvo, Ford, Mercedes Benz oder Toyota liefere, und dies vorwiegend in Deutschland. Diese Reifen würden aber fast ausnahmslos über die Autohausorganisationen der besagten Automobilhersteller vertrieben. Allerdings gehen einige der Reifen auch direkt ans Band der Automobilhersteller; Nokian Tyres habe OE-Freigaben von BMW und von Porsche, bestätigte die Zentrale des Reifenherstellers auf Nachfrage der NEUE REIFENZEITUNG den Status der Fabrik in Wsewoloschsk nahe Sankt Petersburg. Würde Nokian Tyres in großem Umfang auch auf die europäische Erstausrüstung setzen, um zukünftig zu wachsen, entstünde ebenfalls der oben bereits erwähnt Unsicherheitsfaktor: Die Finnen würden über kurz oder lang vielleicht nicht mehr als „der profitabelste Reifenhersteller der Welt“ gelten. Nokian Tyres konnte 2016 eine Umsatzrendite von 31,2 Prozent melden – mit Pkw-Reifen allerdings (Gesamtunternehmen: 22,3 Prozent). Forciertes Wachstum in Mittel- und Osteuropa scheint letzten Endes aber unausweichlich – eine große Chance und eine große Herausforderung für Nokian Tyres. arno.borchers@reifenpresse.de
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