Ganzjahresreifen: Wenn alle unzufrieden sind, dann …
… ist ein Kompromiss vollkommen – das soll einmal der französische Rechtsanwalt, Journalist, Politiker und Außenminister (1925-1932) Aristide Briand gesagt haben, der 1926 zusammen mit Gustav Stresemann für seine Mitarbeit an den Verträgen von Locarno mit den Friedensnobelpreis geehrt wurde. Insofern scheinen Ganzjahresreifen doch tatsächlich ein Paradebeispiel genau dafür zu sein. Denn nach wie vor gibt es innerhalb der Reifenbranche eigentlich niemanden, der nicht die (vermeintlichen) Nachteile eines solchen Kompromisses gegenüber einer saisonal angepassten Umbereifung betonen würde. Meist wird dabei mit Abstrichen bei der Sicherheit oder aber mit höheren Kosten argumentiert, weil Allwetterreifen demnach nicht die Laufleistungen erzielten, die sich bei regelmäßigem Wechsel zwischen Sommer- und Winterreifen realisieren ließen. Zuletzt hatte unter anderem der Bundesverband Reifenhandel und Vulkaniseurhandwerk e.V. (BRV) so argumentiert, während so manch anderer vor allem auch Sicherheitsdefizite zu Felde führt. Aber halt: Andererseits steigt trotzdem die Nachfrage nach Ganzjahresreifen weiter an, und wenn also zumindest ein zunehmender Anteil an Kunden mit ihnen zufrieden zu sein scheint, dann sind die Alleskönner entweder nicht vollkommen oder eben doch mehr als „nur“ ein Kompromiss, oder?
Nach Meinung des TÜV Rheinland eignen sie sich – sagt Steffen Mißbach im Namen der Prüforganisation – „nur für diejenigen, die nicht zwingend auf ihr Fahrzeug angewiesen sind“. Denn beispielsweise bei Schneefall sei der Bremsweg von Allwetterreifen länger als bei Winterreifen. Zur Feststellung, dass sich eine solche Aussage nicht verallgemeinern lässt, genügt ein Blick auf die gerade veröffentlichten Ganzjahresreifentests der Autozeitung und von AutoBild, wo neben den zu prüfenden „Kompromisslösungen“ jeweils auch ein reinrassiger Winterreifen mitgetestet wurde. Denn siehe da, beim Bremsen auf Schnee kam Goodyears „Vector 4Seasons“ zweiter Generation auf glitzerndem Weiß bei der Autozeitung aus 50 km/h nach 21,1 Metern zum Stehen, während Contis Winterreifen „TS860“ zehn Zentimeter mehr brauchte. Und AutoBild bescheinigte sogar rund der Hälfte der getesteten All-Season-Kandidaten in Sachen Schneebremsen aus 40 km/h eine „starke Leistung“ bzw. „das Niveau eines Winterreifens“. Konkret war der Bremsweg von Contis neuem „AllSeasonContact“ hier sogar 30 Zentimeter kürzer als der des zum Vergleich herangezogenen Referenzwinterreifens, während Klebers „Quadraxer 2“ und Goodyears „Vector 4Seasons“ mit ihm auf gleicher Höhe lagen.
Dass der Spritverbrauch mit Ganzjahresreifen zudem wie vom TÜV Rheinland behauptet darüber hinaus generell „höher als mit Sommerreifen“ ist, lässt sich so auch nicht unbedingt aus den neuesten Testergebnissen ablesen. Vielmehr hat AutoBild diesbezüglich der Mehrheit der zehn Finalisten von ursprünglich 25 Kandidaten in seinem 2017er-Allwetterreifentest einen Rollwiderstandsbeiwert unterhalb dem eines mitgeprüften Referenzsommerreifens bescheinigt. Mithin sind Kraftstoffeinsparungen mit einer saisonalen Umrüstung also eher unwahrscheinlich. Zumal die Hälfte des Jahres ja Winterreifen am Fahrzeug montiert wären, die in der Regel einen tendenziell höheren Rollwiderstandsbeiwert aufweisen. Bleibt noch das Thema Laufleistung, auf das die Prüforganisation genauso wie der BRV zusätzlich noch verweist. „Allwetterreifen sollten im Schnitt nach 40.000 Kilometern getauscht werden“, rät der TÜV Rheinland – oder wenn sie älter als sechs Jahre sind. Denn dann sei die Gummimischung eines Allwetterreifens – sagt Mißbach – „so weit ausgehärtet, dass er wesentliche notwendige Eigenschaften verliert und sich die Straßentauglichkeit deutlich verringert“. Aber dies gelte genauso für Sommer- und Winterreifen, wie er ergänzt.
Das sagt aber immer noch lange nichts über die tatsächlichen Laufleistungen der einzelnen Reifengattungen aus. Leider gibt es hier zwar keine direkt vergleichbaren Messungen aus ein und demselben Test in völlig identischer Dimension. Doch die Laufleistungen ausgewählter Sommerreifen hat das Magazin AutoBild für die Größe 205/55 R16 91V in Ausgabe 12/2016 veröffentlicht, wo beispielsweise für Goodyears „EfficientGrip Performance“ knapp 27.700 Kilometer angegeben werden. In der bis auf den Geschwindigkeitsindex identischen Größe 205/55 R16 91H wurden in Heft 40/2016 des Blattes für den Winterreifen „UltraGrip 9“ derselben Marke dann gut 31.300 Kilometer bestimmt. Vergleicht man dies nun mit den runden 40.000 Kilometern, die AutoBild aktuell in Heft 39/2017 für den Ganzjahresreifen Goodyear „Vector 4Seasons“ zweiter Generation in der Dimension 205/55 R16 94V genannt hat, dann ist unmittelbar klar, dass es mit der Behauptung eines Nachteils hinsichtlich der Laufleistung von Ganzjahresreifen nicht immer allzu weit her ist.
Hinsichtlich der Anschaffungskosten bleibt von einem vermeintlichen Vorteil einer saisonalen Bereifung – je nachdem, welche Marke betrachtet wird – letzten Endes leider ebenfalls nicht allzu viel übrig. Zumindest hat das eine entsprechende Preisrecherche der NEUE REIFENZEITUNG Ende Oktober bei einem großen Onlinereifenhändler für eben jene Reifenmodelle solcher Hersteller ergeben, die mit Produkten für den Sommer, den Winter und den ganzjährigen Einsatz in allen drei AutoBild-Reifentests für die Größe 205/55 R16 vertreten waren. In einigen der Fälle wie unter anderem etwa wiederum bei Goodyears „Vector 4Seasons Gen-2“ wäre es in der Theorie letztlich sogar günstiger, diesen zum Erhebungszeitpunkt für 71,60 Euro offerierten Ganzjahresreifen zu kaufen, wenn man davon ausgeht, anstelle dessen ansonsten einen für 65,50 Euro angebotenen „EfficientGrip Performance“ (Sommerreifen) und einen für 79,90 Euro offerierten „UltraGrip 9“ (Winterreifen) der Marke für jeweils rund sechs Monate eines jeden Jahres anschaffen zu müssen. Auch der Preis für Contis „AllSeasonContact“ entspricht ziemlich genau dem Mittelwert der entsprechenden Sommer-Winter-Kombination der Marke.
Bei alldem sind die Kosten fürs Umstecken, ein eventuelles Einlagern des gerade nicht benötigten Reifensatzes oder einen zweiten Rädersatz samt gegebenenfalls noch Sensoren für Reifendruckkontrollsysteme (RDKS) gar nicht mit eingerechnet. So ungern es Reifenservicebetriebe hören werden, ist vor diesem Hintergrund wenig verwunderlich, dass immer mehr Verbraucher auf Allwetterreifen setzen. Da dürfte auch die dauernde Betonung des Kompromisses, den Ganzjahresreifen zweifelsohne darstellen, nicht zielführend sein. Zumal schon gar nicht dann, wenn mit teils nicht zu den im Markt verfügbaren Daten passenden Behauptungen argumentiert wird angefangen bei Dingen wie den Schneebremswegen über das Laufleistungspotenzial und den Rollwiderstand bis hin zum Anschaffungspreis. Natürlich gibt es Einsatzbedingungen, bei denen ein Umrüsten von Vorteil ist: etwa bei Vielfahrern oder wenn es über einzelne Wintereigenschaften wie das Schneebremsen hinaus darauf ankommt, hinsichtlich aller Bereiche während der kalten Jahreszeit das Beste aus der Bereifung zu holen. Halbwahrheiten bringen jedoch niemanden weiter und sind im Gegenteil eher dazu geeignet, das Vertrauen der Verbraucher in den Rat des Fachhandels zu erschüttern. christian.marx@reifenpresse.de
Endlich mal ein Artikel, der die Informationen aller derer, die sich an dem Reifenwechselwahnsinn eine goldene Nase verdienen hinterfragt. Ich habe bisher keine Tests gefunden mit denen ich einen sehr guten Ganzjahresreifen mit Winter-, aber vor allem mit Sommerreifen vergleichen kann. Wie ist der Bremsweg der drei verschiedenen Reifensorten auf trockener und nasser Fahrbahn bei z.B. -10°C, 0°C, 10°C, …. ,40°C?
Hier im flachen Süden gibt es nur ganz wenig Schnee, dafür aber auch im Winter oft Temperaturen über 10°C. Ist mein Winterreifen dann noch besser als es der Ganzjahresreifen wäre?
Bevor ich mir für mein nächstes Auto zusätzliche Felgen und Winterreifen für 1000 Euro zulege, werde ich mal Ganzjahresreifen testen…