Kommentar: Vorwärts in die Vergangenheit?

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„Früher war alles besser“ – so zumindest die bei so manchem vorherrschende Meinung beim Blick in die Vergangenheit. Der ist aber oft genug verklärt. Beispiel gefällig? Angenommen, es gäbe tatsächlich einen Weg, die Zeit zurückzudrehen, um dann beispielsweise das Internet und damit den im Handel immer noch wenig Begeisterung auslösenden Onlinevertriebskanal mit samt seiner (Preis-)Transparenz irgendwie „abzuschalten“: Ganz ehrlich, wer wollte wirklich auf die zahlreichen Vorteile verzichten, die mit einer weltweiten Vernetzung verbunden sind?

Wenn Veränderungen – welcher Form auch immer – einen konkreten Nutzen mit sich bringen, setzen sie sich in der Regel jedenfalls durch. Oder umgekehrt: Ohne (Zusatz-)Nutzen im Vergleich zu etablierten Standards haben es neue Errungenschaften schwer, sich ihren Platz im Markt zu erkämpfen. Man blicke nur in Richtung E-Mobilität, wo rein batterieelektrisch angetriebene Fahrzeuge immer noch ein Nischendasein fristen. Im Vergleich zu Verbrennern weiter zu teuer und abgesehen vom Anwendungsszenario als (Zweit-)Wagen im Nahverkehr mit zu geringer Reichweite gesegnet, kommen sie bis dato nur auf einen etwa 0,1-prozentigen Anteil am Gesamtbestand.

Gleichwohl gehen nicht wenige davon aus, dass E-Mobilen die Zukunft gehört, selbst wenn ihr Praxiseinsatz zumindest für Vielfahrer eher noch einem Schritt vorwärts in die Vergangenheit ähnelt. Mal eben vom Hamburg nach München düsen mit vielleicht ein oder zwei kurzen Tankstopps ist mit den derzeit viel geschmähten Dieseln sowieso, aber auch mit Benzinern kein Problem. Ein verglichen damit langes Verweilen an E-Ladesäulen – sofern entlang der geplanten Route vorhanden und frei – sorgt da schon für ungleich gemütlicheres Vorankommen, wie entsprechende Vergleiche diverser Automobilmagazine gezeigt haben.

Aber wer weiß. Möglicherweise gibt es ja bald größere Fortschritte rund um die Batterietechnologie. Dann verflüchtigte sich das Stirnrunzeln angesichts der jüngsten Ankündigung Volkswagens, 2026 die letzte Fahrzeuggeneration mit Verbrennungsantrieb in den Markt bringen zu wollen. Ist die Reichweitenproblematik bis dahin nicht gelöst, dann stellt sich schon die Frage, wie die heute geforderte und nötige (individuelle) Mobilität, die sicher nicht wenig zu unser aller Wohlstand beiträgt, dann wohl aussehen wird. Visionen diesbezüglich wurden und werden unzählige vorgestellt.

Doch sagt man nicht auch scherzhaft, wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen? Das wäre wohl ein bisschen übertrieben, denn eine gewisse Planung in Richtung Zukunft muss schon sein. Allerdings sind die anvisierten Ziele nicht immer realistisch. Papier, und auf dem sind die entsprechenden Konzepte/Strategien üblicherweise festgehalten, ist bekanntlich geduldig. Prognosen waren, sind und bleiben halt – wie eine andere Redensart besagt – „schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen“. Auch innerhalb der Reifenbranche hat sich schon so manche von ihnen im Nachhinein als Makulatur erwiesen.

Notlaufreifen beispielsweise sollten schnell der neue Standard werden, sind aber meist immer noch eher optional an Fahrzeugen montiert. Sensoren in Reifen, die abgesehen von Fülldruck und Temperatur auch Informationen zur Profiltiefe oder zum Straßenzustand liefern, sollen „in fünf Jahren“ Serie sein: Doch das war so schon vor runden 20 Jahren zu hören. Mit Blick auf das Überschreiten der Schwelle von 500 Millionen Euro Umsatz im Geschäftsjahr zuvor sagte Delticom 2014, binnen fünf Jahren diesen Wert auf rund eine Milliarde Euro verdoppeln zu wollen – für 2018 geht man nach letztem Stand aber „nur“ von 690 Millionen Euro aus.

Diese Liste ließe sich durchaus noch fortsetzen mit zahlreichen weitere Beispielen. Aber dafür sind „Fahrpläne“ schließlich gut: damit man weiß, wie viel man zu spät (oder zu früh) dran ist. Insofern wird sicherlich auch das neue Jahr 2019 wieder ein spannendes sein für die Reifenbranche mit Entwicklungen, die man so nicht erwartet hätte, oder mit Dingen, die man so oder zumindest so ähnlich hat kommen sehen. Ob es dabei aber insgesamt letztlich nur vorwärts in die Vergangenheit geht oder doch eher zurück in die Zukunft, wird man abwarten müssen. christian.marx@reifenpresse.de

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