Herausforderung MotoGP-Reifen: Jedem und zugleich allen gerecht werden
Seit mehr als zehn Jahren engagiert sich Bridgestone in der MotoGP, der höchsten Klasse im Motorrad-Grand-Prix. Das ist nicht die einzige Analogie mit Blick auf die meist „Königsklasse des Motorsports“ genannte Formel 1, denn beispielsweises wird auch das entsprechende Pendant auf zwei statt vier Rädern seit 2009 auf Einheitsreifen ausgetragen. Obwohl damit bei jedem einzelnen Rennen der Erste genauso auf Bridgestone-Gummis über die Ziellinie fährt wie der Letzte, ist das Thema MotoGP-Reifen dennoch ein durchaus interessantes – und das nicht nur, weil der Hersteller in diesem Frühjahr seinen Rückzug aus der Serie nach dem Ende der Saison 2015 angekündigt hat.
Damit wird dann eine Ära ihr Ende finden, schließlich war Bridgestone schon viel länger im Motorrad-Grand-Prix dabei: Außer der Topklasse MotoGP gab und gibt es dort schließlich noch weitere Serien, die aber im Zuge immer neuer Reglementänderungen von der früheren Einteilung nach den Hubraumklassen mit 125er-, 250er- und 500er-Maschinen zwischenzeitlich zur jeweils auf Einheitsreifen ausgetragenen Moto2 und Moto3 (Dunlop) sowie eben der MotoGP (Bridgestone) mutiert sind. „Bridgestone engagiert sich seit 1991 im Motorrad-Grand-Prix“, so Thomas Scholz, MotoGP-Manager/-Koordinator bei dem Reifenhersteller, im Gespräch mit der NEUE REIFENZEITUNG. Dass nach so langer Zeit mit Ende kommenden Jahres nun Schluss sein soll, erklärt der bei dem Reifenhersteller für die Pressearbeit rund um die MotoGP verantwortliche Carmine Moscaritolo damit, dass man in dieser Serie nunmehr alles erreicht habe und es somit „nichts mehr zu gewinnen“ gebe für das Unternehmen.
Das mag mit Blick auf Dinge wie etwa die Markenbekanntheit im weltweiten Zweiradreifengeschäft möglicherweise richtig sein. Aber wie steht es damit, dass der Konzern eigenen Worten zufolge das MotoGP-Engagement vor allem auch zur Weiterentwicklung seiner Motorradreifen genutzt hat? Findet die in dieser Form dann etwa nicht mehr statt bzw. woher bezieht man den entsprechenden und Ende 2015 dann „wegfallenden“ Input? Bei der Ausstiegsankündigung hieß es zwar, Bridgestone wolle sich weiter im Motorsport auf zwei Rädern engagieren, aber wo genau ist noch nicht verlautbart worden. Und auch Moscaritolo muss der Redaktion eine konkretere Antwort auf diese Frage noch schuldig bleiben: Es sagt diesbezüglich, dass nach „anderen Möglichkeiten Ausschau“ gehalten werde. „Die MotoGP hat uns viel weitergeholfen in Sachen Weiterentwicklung“, bestätigt Scholz, der darauf baut, dass es auch nach Ende der Saison 2015 eine motorsportlich interessante Alternative für das dann auslaufende MotoGP-Engagement des Herstellers geben wird.
„Sonst gäbe es ab 2016 keine Serie mehr mit nennenswerter Bridgestone-Beteiligung“ befürchtet er. Wenn der aus den Erfahrungen einer Topserie wie der MotoGP stammende Beitrag im Zusammenhang mit der Entwicklung von Serienreifen aber wirklich so groß ist, wie der Hersteller selbst sagt, dann dürfte es recht schwierig sein, ein ähnlich anspruchsvolles motorsportliches Umfeld für diese Zwecke zu finden. Zumal die Anforderungen an einen MotoGP-Reifen im Vergleich zu denen an einen für die Formel 1 ungleich höher sind, wie Moscaritolo mit Verweis allein auf die deutlich kleinere Kontaktfläche zwischen Reifen und Fahrbahn erläutert. Was bei einem entsprechend fordernden Einsatz der eigenen Produkte gelernt werden kann, ist Bridgestone seinen Worten so wichtig, dass der Konzern „im Gegensatz zu anderen Herstellern“ [gemeint ist vor allem wohl Pirelli in der Formel 1] die Rennreifen und den zugehörigen Service an den Strecken weltweit sogar kostenlos zur Verfügung stelle.
„Wir profitieren dafür in Form von Entwicklung“, bestätigt er einmal mehr den Stellenwert des MotoGP-Engagements für die eigene Forschungs- und Entwicklungsabteilung, wo zudem das für Renn- und Serienreifen zuständige Team das gleiche sei. Kein Wunder also, dass der Konzern pro Rennwochenende bis zu 1.000 Reifen an jede der Strecke bringt und hinterher auch wieder komplett zurücknimmt, analysiert und schlussendlich entsorgt. Mit der Einführung des Einheitsreifenreglements soll sich demnach im Übrigen der Schwerpunkt der Entwicklung verstärkt in Richtung Sicherheit verschoben haben. „Wir würden zwar Wettbewerb bevorzugen, aber auch mit Einheitsreifen gibt es so etwas wie einen Lerneffekt: beispielsweise in Bezug auf die Aufwärmphase der Reifen“, wie der MotoGP-Pressemann des Reifenherstellers erläutert. Aber Scholz macht auf der anderen Seite unmissverständlich klar, dass der Entwicklungsdruck und die Fortschritte aus seiner Sicht nie größer waren als zu der Zeit, wo man gegen Wettbewerber wie zuletzt Michelin und davor zusätzlich noch Dunlop antrat.
„Da war Druck auf dem Kessel“, konstatiert er mit Blick auf die Entwicklungsarbeit in früheren Jahren und spricht dabei nicht nur von einer damals „viel höheren Lerngeschwindigkeit“, sondern gleichzeitig noch von einer besseren Medienpräsenz in Bezug auf das Thema Reifen in der Serie. Aber für die vor diesem Hintergrund auch an Moscaritolo immer wieder gerichtete Frage, ob das Einheitsreifenreglement im Motorrad-Grand-Prix irgendwann wieder zur Disposition stehen könnte, ist für diesen aus derzeitiger Sicht keine positive Antwort vorstellbar. „Das ist die Realität“, glaubt er, dass es – jedenfalls in näherer Zukunft – zu keiner Abkehr vom Einheitsreifen kommen werde. Wobei an dem in diesem Zusammenhang immer wieder angeführten Argument niedrigerer Kosten bei nur einem einzigen Reifenausrüster nicht viel dran zu sein scheint, berichtet Scholz doch von einem heute gegenüber etwa dem Jahr 2008 kaum veränderten Niveau. „Zumindest sind die Kosten nicht weiter gestiegen“, ergänzt er.
Alles in allem lässt sich Bridgestone seinen Worten zufolge sein MotoGP-Engagement so zwischen 20 und 25 Millionen Euro im Jahr kosten. Immerhin ist allein in der sogenannten „Technical Area“ bei jedem Rennwochenende eine 15-köpfige Mannschaft dafür zuständig, dass alles rund läuft. Sechs Monteure kümmern sich darum, dass die Gummis auf die Felgen kommen und nach einem Lauf wieder herunter, sechs Ingenieure bilden so etwas wie die Schnittstelle zwischen dem Reifenhersteller und den Fahrern/Teams, und ein paar Manager sind natürlich ebenfalls immer mit vor Ort, um alles in geordnete Bahnen zu lenken. In letztere Kategorie dürfte auch das zählen, was in den Aufgabenbereich von Thomas Scholz fällt. Ihm obliegt die ganze Organisation in Sachen der Reifen für die Rennen. „Wenn die Jungs zum Rennen rausfahren, dann ist meine Arbeit schon gelaufen“, sagt er.
In diesem Zusammenhang fällt ihm außerdem der „einzig positive Effekt des Einheitsreifens“ in der MotoGP ein: Das habe ihm seine Arbeit im Vergleich zu den Zeiten, als es noch Konkurrenz gab, deutlich einfacher gemacht. Früher sei der logistische Aufwand schon sehr groß gewesen mit über eine Saison bis zu 650 verschiedenen Reifenvarianten im Lager in Speyer, von wo aus sie dann in der Regel zum jeweiligen Rennkurs geliefert werden. Heute seien es nur noch etwa zwölf bis 13 verschiedene Slicks sowie drei unterschiedliche Regenreifentypen, die übers Jahr benötigt würden. Denn das Material, das den Teams bei den Rennen zur Verfügung gestellt wird, sei nun für alle gleich und unterscheide sich von Rennen zu Rennen nur hinsichtlich der spezifischen Anforderungen der jeweiligen Strecke. Die Zuteilung der Reifen für die einzelnen Teams bzw. Fahrer erfolge dabei per Los, also zufällig, räumt Moscaritolo bei der Gelegenheit gleich etwaige Spekulationen aus, der eine oder andere könnte vielleicht doch im Vorteil sein.
Insofern steht Bridgestone als MotoGP-Ausrüster vor der Aufgabe, für jedes einzelne Rennen im Terminkalender die Reifen mit an die Strecke zu bringen, die den örtlichen Gegebenheiten am besten Rechnung tragen, zugleich auf möglichst allen Maschinen sämtlicher Teams gleich gut „funktionieren“ und die zudem noch mit dem Fahrstil aller Piloten am ehesten harmonieren. Damit dieser Spagat gelingt, gibt es solche Ingenieure wie beispielsweise Peter Baumgartner, dem im Wesentlichen die Betreuung von auf Maschinen des Herstellers Yamaha antretenden Teams obliegt. „Man kann einfach besser helfen, wenn man die Marke kennt“, erklärt er den Sinn einer solchen Zuordnung. Immer wieder tausche er sich deshalb nicht nur mit den Fahrern, sondern auch deren eigenen Technikern aus. „Die Fahrer geben Rückmeldungen in ganz unterschiedlicher Form“, berichtet er von seinen Erfahrungen. Letztlich gehe es – fügt Scholz hinzu – „immer darum, Antworten zu finden“ bzw. den Anforderungen jedes Einzelnen, aber zugleich allen bestmöglich gerecht zu werden.
Den von Baumgartner und Kollegen wie ihm im Kontakt mit anderen Fahrern/Teams gewonnenen Input in die Weiterentwicklung aufseiten der Produkte einfließen zu lassen, hört sich bei alldem allerdings einfacher an, als es letztlich wohl ist. „Manchmal kommt man sich vor wie im Kindergarten, wenn man für vier im Sandkasten sitzende Kinder nur zwei Schaufeln zum Spielen hat“, beschreibt der Renningenieur den Balanceakt, den ein Reifenausrüster der MotoGP bei jedem einzelnen Lauf erneut schaffen muss. Bridgestone scheint der in den zurückliegenden Jahren alles in allem ganz gut gelungen zu sein, sonst würde jemand wie Herve Poncharal, Chef des MotoGP-Teams Monster Yamaha Tech 3 und zugleich derzeitiger Präsident der International Road Racing Teams Association (IRTA), dem Reifenhersteller nicht ein so gutes „Zeugnis“ ausstellen. „Bridgestone macht angesichts so vieler unterschiedlicher Fahrer, Maschinen und Strecken einen extrem guten Job“, lobt er.
Man darf gespannt sein, wie Michelin als alleiniger MotoGP-Reifenausrüster ab dem Jahr 2016 die Fußstapfen Bridgestones wird ausfüllen können. Eine Rückkehr zu einer Wettbewerbssituation aufseiten der Reifen ist allerdings auch für Poncharal kein Thema, bezeichnet er sich selbst doch als starken Fürsprecher des Einheitsreifenreglements. „Wettbewerb ist gut, aber bei den Reifen sind wir [damals, d. Red.] zu weit gegangen“, begründet er seine Sicht der Dinge. Dadurch habe man sich zu sehr auf das Thema Reifen konzentriert und dafür die Entwicklung anderer Dinge wie beispielsweise im Fahrwerksbereich entsprechend weniger vorantreiben können. Nichtsdestoweniger seien Reifen als wichtigster Faktor nach dem Fahrer selbst „Teil der Show“ und würden es auch in Zukunft bleiben. „Beim Motorrad ist der Reifen halt sehr sehr wichtig“, wie er sagt. Wer wollte ihm da – egal, ob nun das MotoGP-Einheitsmaterial gemeint ist oder Serienreifen für den „normalen“ Straßeneinsatz – widersprechen? christian.marx@reifenpresse.de
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