Michelin bekennt sich zum Standort Deutschland

Mit der wiederholt öffentlich vorgetragenen Behauptung, in 30 Jahren gebe es keine Reifenfabriken mehr in Deutschland, hat sich Conti-Chef Wennemer im eigenen Hause unnötig unbeliebt gemacht und den Herren und Damen des Wettbewerbs eine Steilvorlage gegeben. Die Angst um den Erhalt der Arbeitsplätze lässt die Belegschaften jedenfalls kreativer und innovativer als zuvor werden. Im Michelin-Konzern jedenfalls redet man miteinander, hört einander zu, sucht und findet Lösungen. Alles mit dem einen Ziel: Die deutschen Fabriken und damit Arbeitsplätze zu erhalten, sie wettbewerbsfähig zu halten und da, wo sie es derzeit nicht sind, wettbewerbsfähig zu machen. Das erfordert Verständnis und guten Willen von beiden Seiten.

Ob es in 30 Jahren nun wirklich noch Reifenfabriken in Deutschland geben wird, hängt einzig und allein davon ab, was „wir“ wollen. „Wir“, das sind Belegschaften und Management, aber auch Kunden und Lieferanten sowie die Gesellschaft vor Ort. Und es hängt auch davon ab, ob man die Ansichten über den angeblich schlechten Standort Deutschland unkritisch und ungeprüft übernimmt und nachredet. Es geht jedenfalls auch anders. Und dass es auch in Zukunft gut gehen wird, davon zeigt sich der für die Michelin-Reifenwerke in Bad Kreuznach, Bamberg und Trier verantwortliche Werksdirektor Dieter Freitag überzeugt, der – ohne jemanden beim Namen zu nennen – seinen Mitarbeitern stets sagt: „Man sollte nicht alles schlechtreden.“

Die bisherige Nummer Eins des weltweiten Reifengeschehens hat sich im Vorjahr vom Wettbewerber Bridgestone auf Platz 2 verdrängen lassen. Doch statt über zum Beispiel den Einfluss von der Umrechnung des US-Dollar zum Euro zu räsonieren, nehmen die Führungspersönlichkeiten des Konzerns dies zum Anlass, den Mitarbeitern zu erklären, dass man halt noch schneller werden müsse, denn tatsächlich habe die eigene Entwicklungsgeschwindigkeit mit der – vor allem – asiatischer Konkurrenten nicht mithalten können. Da man aber selbst noch großes Fortschrittspotenzial sehe, bestehe kein Grund zur unnötigen Beunruhigung.

Das Credo des Konzerns ist klar: Fünf Werte, eine Zielsetzung: Achtung vor dem Kunden, Achtung vor dem Menschen, Achtung vor dem Aktionär, Achtung vor der Umwelt und Achtung vor den Fakten. Damit ist der Konzern mit seinen immerhin 130. 000 Mitarbeitern auch ganz gut gefahren. In 71 Reifenfabriken werden in 19 Ländern Reifen hergestellt, und es ist völlig klar, dass Michelin nun mit aller Kraft versucht, das Potenzial in den asiatischen Märkten zu heben. Derzeit wird in Japan, China und Thailand produziert. In Nordamerika spielt Michelin ebenfalls an vorderster Front eine ganz und gar bedeutende, wenn nicht gar überragende Rolle, während Lateinamerika bisher mehr oder weniger ausschließlich als Markt für Nutzfahrzeugreifen gesehen wird. Der europäische Markt, das kann und muss man wohl so sagen, wird von Michelin geradezu dominiert und auch in den neu entstehenden mittel- und osteuropäischen Märkten spielen die Franzosen bereits hervorragend mit. Und nicht nur das. Sie haben nicht nur bereits Reifenfabriken in Ungarn, Polen, Rumänien und Russland, sondern sie sind ebenso wie kaum ein anderer Konkurrent damit beschäftigt, in diesen Ländern herausragende Marktpositionen für sich aufzubauen. Es geht eben nicht darum, im Osten Fabriken zu eröffnen, Billigarbeitskräfte zu beschäftigen, die Reifen dann nach Westeuropa zu exportieren, um so die eigenen Fabriken obsolet zu machen und letztlich zu schließen. Michelin ist da, wo die Märkte sind. Wo die Märkte sind, ist auch die Produktion und für jede Region der Welt forscht und entwickelt der Konzern, sei es in Frankreich (Clermont-Ferrand), USA (Laurens) oder in Japan (Otha). Die Tagesproduktion liegt bei etwa 850.000 Reifen und 60.000 Schläuchen. Nicht weniger als vier Millionen Kilometer Draht werden täglich hergestellt.

Das Herz der Michelin schlägt in Frankreich und die eigentliche Basis ist nach wie vor Europa. Allein 70.000 Menschen sind in Europa Tag für Tag mit der Herstellung und dem Verkauf der Reifen beschäftigt, die aus 37 Fabriken Tag für Tag herausrollen.

Fünf wichtige und größere Michelin-Fabriken befinden sich in Deutschland. In Karlsruhe werden Lkw-Reifen gebaut, in Homburg ebenfalls sowie die bekannten Remix-Reifen. In Trier wiederum entstehen die Wulstkerne, während in Bamberg nur Pkw-Reifen und in Bad Kreuznach Pkw- und kleine Lkw-Reifen auf dem Lieferprogramm stehen.

Und noch einen Schritt tiefer zur Verdeutlichung. Das Werk in Bad Kreuznach wurde im Jahr 1966, 40 Jahre ist es denn her, auf eine grüne Wiese gesetzt. Im Jahr 2004 kam es zur Feier einer absoluten „Schnapszahl“: Nicht weniger als 222.222.222 Reifen waren hergestellt worden. Im Jahr 2006 finden dort 1.600 Menschen Arbeit. Sie stellen sieben Millionen Pkw- und Llkw-Reifen sowie etwa 110.000 Tonnen Gummimischungen her. Die Arbeitszeit beträgt derzeit 37,5 Stunden wöchentlich. Gearbeitet werden, je nach Abteilung, 15 bis 20, ja sogar 21 Schichten an mindestens 250 Tagen, in einigen Fällen bis zu 350 Tagen pro Jahr. Die dort hergestellten Reifen gehen fast jeweils zur Hälfte in den Ersatz- und den Erstausrüstungsmarkt, unter anderem an Kunden wie Volkswagen, Audi, Mercedes-Benz, Ford und weitere Automobilhersteller.

Wer heute zur Werksbesichtigung in Bad Kreuznach vorfährt, kann weder innen noch außen erkennen, dass dieses Werk vor 40 Jahren gebaut worden ist. Alles ist auf dem neuesten Stand, alles außerordentlich gepflegt. Wenn in den zweiten 20 Jahren des Bestehens auch viele Bürojobs in Fortfall geraten sind, gibt es dennoch keine leeren Geisterflure. Die Büros sind entfernt oder aber umgebaut worden, es sind Meeting-Räume entstanden oder die Flächen werden anderweitig benutzt. Der Standort ist, wie übrigens auch der in Bamberg, nach ISO 14001 zertifiziert und glänzt mit der neuen Kraft-Wärme-Kopplung, die im Oktober in Betrieb genommen wurde. Durch dieses Verfahren kommt es zur Deckung des Bedarfs von 70 Prozent an Strom und 100 Prozent des Bedarfs an Wärme und Dampf für die Kochung. Nicht zu vergessen: Der CO2-Ausstoß wird jährlich um 7.000 Tonnen reduziert.

Damit nicht genug der Zahlen und nicht genug des Umweltengagements. Die weltweit größte Dachphotovoltaik-Anlage weltweit wurde im ersten Halbjahr 2005 auf den Dächern der Werke Bamberg und Bad Kreuznach montiert, die jedes Jahr 470 Haushalte mit jeweils vier Personen (Bamberg) bzw. 600 Haushalte (Bad Kreuznach) mit Strom versorgen kann. Eine Reduzierung des CO2-Ausstoßes um 1.340 Tonnen (Bamberg) bzw. 1.710 Tonnen (Bad Kreuznach) rundet das Bild ab.

Bis hierhin reines Zahlenwerk? Was wollen diese Zahlen nur sagen? Die Botschaft ist einfach: Der Michelin-Konzern tut alles in seinen Kräften Stehende, bestehende Fabriken weiter betreiben zu können und er geht dabei sehr innovativ und kreativ vor. Statt irgendwie anonym von Fabriken zu reden, die geschlossen werden oder weiter betrieben werden, kann man den Vergleich besser fassen: 1.600 Menschen arbeiten in Bad Kreuznach für Michelin, sodass mindestens 6.000 bis 7.000 Menschen direkt und indirekt von dieser Fabrik abhängen. Hält man sich nun noch vor Augen, dass knapp 45.000 Menschen in Bad Kreuznach leben und es dort 28.500 Arbeitsplätze gibt, ist die Bedeutung der Fabrik für Stadt und Region deutlich genug geworden. Michelin-Werksleiter Freitag hat Recht, wenn er nachdrücklich fordert, man möge doch bitte nicht alles gleich schlechtreden, sondern sich stattdessen Gedanken machen, was besser gemacht werden könne und wie.

Was aber hält einen französischen Konzern in Deutschland, wenn doch alles so schlecht und schwierig und die Löhne so hoch geworden sind? Die Antwort ist wiederum relativ einfach: die Menschen! Die Menschen, die jahrzehntelang für diesen Konzern gearbeitet haben und die auch möchten, dass die Kinder oder gar die Enkel dort wiederum Beschäftigung finden können. Und die dem Kunden und dem Menschen entgegenzubringende Achtung verpflichtet das Management wiederum, das auch möglich zu machen und möglich zu halten.

Jürgen Eitel, als Michelin-Direktor verantwortlich für die Länder Deutschland, Österreich und die Schweiz, hat vor Jahrzehnten Menschen eingestellt in Bad Kreuznach, die nun allmählich an ihre Pensionierung denken können und er will, dass die deutschen Werke erhalten bleiben, dass die Arbeitsplätze erhalten bleiben und dass die Menschen Perspektiven halten. Für ihn ist es tatsächlich in allererster Linie eine Frage des Wollens. Dabei ist seine Antwort unter Zugrundelegung der Fakten auch schnell nachvollziehbar. Die Herstellkosten seien nicht so gravierend unterschiedlich im Ost-West-Vergleich, da keine osteuropäische Fabrik so produktiv wie eine westeuropäische sei. Doch immerhin, die Unterschiede seien nicht von der Hand zu weisen. Dabei müsse man allerdings bedenken, dass Logistik ebenfalls eine große Rolle spiele und Geld koste. So könne man sich drehen und wenden wie immer man wolle, letztlich spreche man um einen Unterschied von vier bis fünf Prozent, verbunden mit der Frage, ob dies viel oder relativ wenig sei. Eitel lässt erst gar keinen Zweifel darüber aufkommen, dass vier bis fünf Prozent viel und irgendwann auch zuviel sein werden. Doch bevor eine solche Rechnung ernsthaft durchgespielt wird, muss es auch darum gehen, Bonuspunkte wie soziale Ausgewogenheit zum Beispiel zu vergeben. Dann muss in Rechnung gestellt werden, dass man dort zu sein hat wo die Kunden und die Märkte sind. Also: einfach weglaufen, das kann ziemlich gefährlich sein. Und deshalb ist er auch fest davon überzeugt, dass alle, die wegrennen, letztlich auch vom Markt und vom Kunden wegrennen. Man kann nicht Hightech verkaufen wollen und den Kunden klarmachen, dass sie in diesem Land oder in dieser Region der Welt unbezahlbar in der Herstellung geworden sei.

Aber ganz ohne Frage: Ein Unternehmen wie Michelin muss um Antworten auf Fragen ringen, muss mit Forderungen an seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen herantreten, die auf den ersten Blick in deren Augen gar „unverschämt“ sein mögen. In einigen Leserbriefen der örtlichen Presse hat sich das durchaus gezeigt. Motto: Das ist nur ein Anfang, es kommen immer wieder neue Dinge. Also sei es besser, jetzt schlicht und ergreifend nein zu sagen.

Doch diese „Experten“ haben übersehen, dass mit einem „nein“ der Fortfall des Arbeitsplatzes geradezu zementiert wäre. Aber wer kann sich das leisten? Letztlich muss es zu einer Lösung kommen, zu Kompromissen. Dazu wird es auch immer dann kommen, wenn diejeniegen, die etwas abgeben sollen, erkennen können, dass es fair zugeht und der Arbeitgeber gar keine andere Wahl hat, als dieses Entgegenkommen verlangen zu müssen. Die Mitarbeiter sind sehr viel pragmatischer als man denkt. Einige wären bereit, auf Lohn zu verzichten, wenn es denn bei der 37,5-Stunden-Woche bliebe, andere wiederum wollen lieber ein paar Stunden mehr arbeiten, aber keinen Abstrich an ihrem Einkommen hinnehmen. Ein Vorschlag eines Arbeiters hat das Management dann offenbar doch mehr beeindruckt als man dachte: Man möge doch bitte schön die Kantinen durchweg abschaffen, die das Unternehmen finanziell belasten. Michelin könne noch so sehr die Mittagessen „subventionieren“, ein Malocher habe dennoch kein Geld für die Kantine und ernähre sich von dem, was er von daheim mitgenommen habe.

Es sind alles nur kleine Trippelschritte, aber letztlich werden es Schritte und ganz zum Schluss ist ein beträchtlicher Teil des Weges zurückgelegt. Die Mitarbeiter in deutschen Fabriken befinden sich in einem Wettrennen mit der Zeit und je länger sie diesem Rennen irgendwie standhalten, umso sicherer ist es, dass sie dieses Rennen gewinnen werden. So viel ist deutlich: Die Arbeiter in deutschen und westeuropäischen Fabriken werden nur mit moderaten Einkommensverbesserungen rechnen können, die Arbeiter in Polen, Russland und anderen Billiglohnländern werden mehr verlangen, mehr bekommen und auch mehr bekommen müssen. Die Schere zwischen Ost und West öffnet sich somit nicht mehr, sondern sie schließt sich ganz allmählich. Das kann auch nicht anders sein, weil in den Billiglohnländern nicht nur Jobs entstehen sollen, sondern auch Märkte; und Märkte ohne Kaufkraft gibt es nicht, nirgendwo, auch im Zeitalter der Globalisierung nicht. Die Menschen wollen ein Auto in Ungarn oder der Slowakei nicht nur bauen und sich anschließend die Nasen an Schaufenstern platt drücken, sondern sie wollen das, was sie hergestellt haben, auch kaufen und nutzen können.

Anders als Continental will Michelin sich nicht auf den ganz schnellen Weg machen, sondern Strukturen erhalten, den Belegschaftsmitgliedern gerecht werden. Und das ist in letzter Konsequenz nur dann schwer, wenn man von Stakeholder-Value redet, dabei aber ausschließlich Shareholder-Value im Sinn hat.

Was bedeutet es denn eigentlich, wenn man hört, Polen zum Beispiel verdienten nicht mal 20 Prozent dessen, was deutsche Arbeiter verdienen? Grob gerechnet und wirklich stark vereinfacht kann man sagen, dass der Preis eines Reifens zu etwa einem Drittel durch Materialkosten, einem Drittel durch Logistik- und Vertriebskosten und einem weiteren Drittel durch reine Herstellkosten, wovon wiederum weniger als die Hälfte Löhne sind, beeinflusst ist. Und außer diesen nackten Zahlen geht es dann um Produktivität, um Zuverlässigkeit, Sicherheit und Qualität. Nahezu jeder Manager eines Großkonzerns behauptet, die Qualität der osteuropäischen Fabriken stehe der der westeuropäischen in nichts nach, während nun wirklich fast ausnahmslos jeder Fabrikenchef das genaue Gegenteil dessen bekundet, wenn er denn genug Mumm gegenüber seinem Vorstand hat oder hätte.

Was Zuverlässigkeit bedeutet, hat die Belegschaft der Michelin-Fabrik in Bad Kreuznach im letzten Jahr selbst, allerdings negativ, dokumentiert, denn der Krankenstand war – gemessen am Konzerndurchschnitt – sehr schlecht. Und solche Unwägbarkeiten bringen ein Werk schnell in Gefahr. Wenn in einem Team einer ausfällt, müssen die anderen Teammitglieder dessen Arbeit übernehmen. Das geht schon sehr kurzfristig auf Kosten der Produktivität. Was bei Michelin niemand offen ausgesprochen hat bisher, ist der Verdacht, dass doch mehr Micheliner als gedacht während der Weinlese taktisch erkranken und ihrem Hobby als Feierabend-Winzer frönen dürften. Wie man hört, ist inzwischen erfolgreich gegengesteuert worden.

Im Gegenzug, also für ein Entgegenkommen der Arbeitnehmerseite, ist der Konzern bereit, in die bestehenden Werke weiterhin zu investieren. Der Kampf geht über Produktivitätssteigerungen. Die Fabriken müssen nicht nur groß, sondern auch ausgelastet sein. Und wenn alle Investitionen in Rationalisierung und Automatisierung greifen, dann wird es innerhalb der nächsten zehn Jahre zu einer Verdoppelung des Ausstoßes kommen. Das aber bedeutet: Man wird, wenn alles gut geht, ohne Entlassungen auskommen können, aber man wird auch nicht mehr alle Abgänge ersetzen. Und erst recht wird es nicht zu einer Verdoppelung der Arbeitsplätze kommen. Ist das viel? Ist damit viel erreicht? Was wäre denn die Alternative? Noch mehr Reifenfabriken in Rumänien und noch mehr Arbeitslose in Deutschland bzw. Bad Kreuznach. Der Kampf ist nun mal sehr hart, aber er ist dennoch zu gewinnen. Es wird in 30 Jahren noch immer Reifenfabriken in Deutschland geben, einfach deshalb, weil Michelin alles daran setzt und es will (übrigens andere Konzerne wie Pirelli und Goodyear wollen das auch). Es gibt also eine klare Alternative zur Flucht.

1 Antwort
  1. Nachfrager says:

    Goodyear Europa meldet für das 2.Q eine “überdurchschnittliche”
    Entwicklung und performt um 25% besser als in Q2/2017.
    Liest sich schön, nur wie sieht das wirkliche Ergebnis denn bereinigt
    um den jeweiligen EUR-/vs. Dollar-Kurs Q2/2017 zu Q2 2018 aus?

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