Pirelli investiert kontinuierlich in den Bestand des Werkes Breuberg
Deutschland ist ein Hochlohnland. Produktionsbetriebe, die hier im internationalen Wettbewerb bestehen wollen, müssen sich entsprechend spezialisieren und kontinuierlich an ihrer Wertschöpfung arbeiten. Im hessischen Breuberg werden bereits seit 1903 Reifen produziert. Die dann 1963 von Pirelli übernommene Fabrik der ehemaligen Veith-Gummiwerke ist dabei alles andere als ein Dinosaurier der deutschen Reifenindustrie. Im Gegenteil. Wie die NEUE REIFENZEITUNG bei einem Besuch der Pirelli Deutschland GmbH im Odenwald erfuhr, ist der Standort nicht nur sicher, sondern gilt gerade auch im Fabrikenverbund des mittlerweile zu ChemChina gehörenden Pirelli-Konzerns als überaus wettbewerbsfähig, wovon allein die 2014 und 2015 errungenen internen „Factory Awards“ zeugen. Damit die 2.800 Pirelli-Mitarbeiter in Deutschland – 2.300 davon in der Fabrik in Breuberg – auch langfristig mit ihrem Arbeitgeber planen können, muss dieser aber dennoch kontinuierlich in die Weiterentwicklung der Produktion und des Standortes sowie die Ausbildung seiner Mitarbeiter ingesamt investieren.
Dieser Beitrag ist in der November-Ausgabe der NEUE REIFENZEITUNG erschienen, die Abonnenten hier auch als E-Paper lesen können. Sie sind noch kein NRZ-Abonnent? Das können Sie hier ändern.
Neue Reifenfabriken werden in Westeuropa mittlerweile kaum noch gebaut; Schlagzeilen machen gelegentlich eher die Schließungen von Produktionsstandorten, etwa in Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder Italien. Von zentraler Bedeutung für den Bestand und vor allem Fortbestand einer Fabrik in einem Hochlohnland wie Deutschland ist dabei deren Platz im konzernweiten Fabrikenverbund, deren Automatisierungsgrad sowie deren Produktions-Line-up. Das Pirelli-Werk im hessischen Breuberg gilt dabei branchenweit als ein herausragendes Beispiel für eine Mischung aus Innovation und Tradition, aus Neuem und Altem.
Da am Standort bereits seit über 110 Jahren Reifen gefertigt werden, macht die Frage, ob auch heute noch eine neue Fabrik im Odenwald gebaut werden würde, eigentlich keinen Sinn. Die einzige Frage, die sich in Zusammenhang mit einer bestehenden Fabrik wirklich stellt, ist: Will man die Fabrik betreiben, und wenn ja, wie? Da Pirelli die Veith-Gummiwerke nun mal gekauft hat, hat sich der italienische Hersteller auch seit den frühen 1960er Jahren mit der Frage nach dem Wie beschäftigt und hat – so erläutern Michael Schwöbel, Sprecher der Geschäftsführung der Pirelli Deutschland GmbH, und Michael Wendt, Geschäftsführer Technik, im Gespräch mit der NEUE REIFENZEITUNG – darauf immer wieder Antworten gegeben, die die langfristige Entwicklung des Produktions- wie auch des Forschungs- und Entwicklungsstandortes Breuberg sichern konnten.
Eine der zentralen Entwicklungen, die Breuberg als Standort in den vergangenen Jahren stark beeinflusst hat, ist die Hinwendung Pirellis zum sogenannten Premium- und Prestigesegment und außerdem die klare Ausrichtung auf die europäische Erstausrüstung – gerade auch in diesem Segment. Auch wenn Pirelli Reifen aus dem sogenannten Brot- und Buttersegmenten nicht in den Mittelpunkt seines Marketings und seiner Kommunikation stellt, produziert das Unternehmen solche Reifen trotzdem. Aber es produziert sie eben nicht in Deutschland. Hatten viele interne und externe Beobachter 2006 noch befürchtet, die damals im rumänischen Slatina eröffnete Reifenfabrik könnte dem deutschen Produktionsstandort gefährlich werden, seien die Produktionskosten dort doch nicht mit denen in Deutschland zu vergleichen, so hat sich letzten Endes das neue Werk in Osteuropa als überaus hilfreich für die Pirelli-Fabrik in Breuberg erwiesen, sogar als „ein Segen“, wie Michael Schwöbel betont. Obwohl Pirelli an anderen Standorten zunehmend auch großdimensionierte Reifen fertigt, hat der Hersteller viele dieser Werke dennoch vornehmlich auf Produktsegmente unterhalb des Premium- und Prestigesegmentes ausgerichtet, während sich gleichzeitig Breuberg zunehmend auf eben dieses Segment und die Erstausrüstung mit entsprechenden Reifen hin entwickelt hat.
Die Errichtung 2001 des ersten MIRS-Moduls für Kleinserienreifen mit großen Durchmessern – etwa Runflatreifen für die Erstausrüstung bei BMW – hatte bereits die Richtung vorgegeben; heute betreibt Pirelli in Breuberg gleich sieben MIRS-Produktionslinien, weitere sind in Italien und Großbritannien in Betrieb, auch in den USA gibt es welche. Die Module arbeiten dabei vollautomatisch, die Mitarbeiter in der deutschen MIRS-Fabrik – im Pirelli-Sprech „Operator“ genannt – überwachen sie lediglich. Heute ist die Reifenfabrik im Odenwald jedenfalls diejenige im Verbund von weltweit immerhin 19 Fabriken, die die kleinsten Losgrößen fertigt. Da eine MIRS-Fabrik mit sehr wenig Personal auskommt, aber hohe Investitionen erforderlich macht, sei ihre Errichtung in einem Niedriglohnland kaum sinnvoll, betont der Geschäftsführer Technik Michael Wendt; Kosten- und somit Wettbewerbsvorteile durch die Automatisierung seien in solchen Ländern nur begrenzt möglich.
Die zunehmende Ausrichtung auf das Premium- und Prestigesegment und die Erstausrüstung zeigten und zeigen sich aber auch in der konventionellen Reifenproduktion am Standort Breuberg. Während sich die Veith-Gummiwerke vor über 110 Jahren noch mit Fahrradreifen, Schläuchen und Sätteln einen Namen machten, produziert Pirelli heute am Standort ausnahmslos UHP-Reifen ab 18 Zoll, bei denen die Margen dermaßen einträglich sind, dass es kaum einen Reifenhersteller auf dieser Welt gibt, der sich nicht speziell um dieses Marktsegment kümmert bzw. kümmern will. Außerdem verspricht das Segment deutlich überdurchschnittliche Wachstumsraten. Aktuell produziert Pirelli in Breuberg jährlich rund sechs Millionen Pkw-Reifen. Außerdem entstehen in der Odenwälder Fabrik jährlich noch zwei Millionen Motorradreifen der Marken Metzeler und Pirelli; die Marke Metzeler kam 1986 inklusive des zweiten deutschen Standortes München (heute nur noch Verwaltung) zu Pirelli.
Dabei geht heute knapp ein Drittel der Pkw-Reifenproduktion in die Erstausrüstung, die europaweit bekanntlich stark durch deutsche Automobilhersteller und ihre Marken bestimmt ist. Eine entsprechende Spezialisierung des Standortes habe im Laufe der Jahre nur deshalb vorgenommen werden können, da unter anderem auch das neue Pirelli-Werk in Rumänien einen Teil der Produktion der Reifen aus Breuberg übernommen habe, so Michael Schwöbel und Michael Wendt gegenüber der NEUE REIFENZEITUNG.
Die Tatsache, dass die europäische Erstausrüstung stark durch deutsche Fahrzeughersteller dominiert wird, hilft dabei dem hiesigen Standort des italienischen Reifenherstellers in zweifacher Hinsicht. Einerseits hilft sie, die Forschungs- und Entwicklungskapazitäten des hierzulande seit jeher starken, aber mittlerweile mit 200 Ingenieuren und Technikern hochkarätig besetzen F&E-Zentrums in Breuberg kontinuierlich zu stärken. Die Nähe zu den Erstausrüstern, folglich ein hohes Maß an Flexibilität, und ein gemeinsamer sprachlicher und kultureller Hintergrund seien dabei von zentraler Bedeutung, so Michael Wendt. Der Geschäftsführer Technik unterstreicht, dass die kompletten Entwicklungsprojekte im Auftrag deutscher Erstausrüster über das F&E-Zentrum in Breuberg abgewickelt werden, selbst wenn die Reifen schlussendlich nicht in der Fabrik vor Ort produziert würden. Dabei sei der Standort im Odenwald allerdings ein integraler Teil der F&E-Einrichtung der Pirelli-Konzernzentrale in Mailand; beide Einrichtungen agierten „im Team“, so Wendt weiter.
Andererseits hilft die oben beschriebene Tatsache aber auch den Bestand der Fabrik an sich langfristig zu sichern. Da Pirelli sich nun mal dem Premium- und Prestigesegment verschrieben hat und solche Reifen immer profitabel genug auch an einem (bestehenden) Hochlohnstandort wie Deutschland produziert werden können, nutzt man eben die vorhandene Einrichtung und spezialisiert sie entsprechend.
Dass Pirelli dies auch mit großem finanziellen Aufwand verbindet, illustriert eine Zahl: Allein in den vergangenen zehn Jahren hat der Hersteller in Breuberg 300 Millionen Euro in die Spezialisierung, Modernisierung und Automatisierung – also in Prozesse und Technologien – investiert und damit die Wertschöpfung immer weiter gesteigert. Zur Erinnerung: Die MIRS-Fabrik wurde Anfang des vergangenen Jahrzehnts eingerichtet und ist folglich nicht in dieser Investitionssumme enthalten. Im Vergleich zu einer jährlichen Investitionssumme von durchschnittlich 30 Millionen Euro wirkt die Errichtung einer neuen Kantine am Standort für rund eine Million Euro noch überschaubar.
Seit 1999 betreibt Pirelli in Breuberg ein eigenes Kraftwerk. Die seit gut einem Jahr modernisierte Gasturbine des Blockheizkraftwerks – wird jetzt durch ein Joint Venture namens Industriekraftwerk Breuberg GmbH (IKB) gemeinsam mit dem lokalen Versorger HSE betrieben, der 74 Prozent der Anteile hält – produziert dabei mittlerweile gut drei Viertel der im Werk verbrauchten Energie. Energieeffizienz leistet einen wichtigen Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit und damit zur Sicherung des Standortes, der eben im konzerninternen Vergleich bestehen muss; Energiekosten stellen für eine Reifenfabrik in der Regel einen großen Kostenblock dar.
Fachkräftemangel bei Pirelli?
Pirelli hat in Breuberg rund 2.300 Mitarbeiter aus 42 Nationen, deutschlandweit sogar 2.800. Auch wenn die Fluktuation unter den Mitarbeitern Michael Schwöbel zufolge überaus gering ist – der Sprecher der Geschäftsführung und gebürtige Odenwälder arbeitet seit 34 Jahren für Pirelli, Michael Wendt immerhin auch schon seit 27 Jahren –, ist das Recruiting ein zentraler Erfolgsfaktor. Deutschland mit seinem Ausbildungssystem und seinen dualen Studiengängen in technischen und wirtschaftlichen Fachrichtungen biete dem Hersteller dabei „einen riesigen Vorteil“, könne sich Pirelli auf diese Weise doch seinen „eigenen Nachwuchs nach eigenen Bedürfnissen“ ausbilden. Derzeit beschäftigt Pirelli Deutschland immerhin über 90 Auszubildende, die „zentrale Basis für unseren Nachwuchs“, so Schwöbel.
Man nehme in Breuberg zwar auch zur Kenntnis, dass mittlerweile weniger Bewerbungen eingehen, worin eben auch der demografische Wandel zum Ausdruck kommt. Augenscheinlich üben Pirelli als (größter) Arbeitgeber im Odenwald und auch als Marke aber eine dermaßen starke Anziehungskraft auf Bewerber aus, dass man bisher noch stets jede Stelle mit passendem Personal habe besetzen können, so Michael Schwöbel, der selber über ein duales Studium den Einstieg bei Pirelli fand. Die feste Verankerung des Herstellers im Odenwald zeigte sich erst kürzlich anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Übernahme der Fabrik durch Pirelli 1963. Über 25.000 Besucher kamen zum Tag der offenen Tür auf das Werksgelände, selbst Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier war anwesend.
Auch wenn jedes Reifenwerk im konzerninternen und selbst im branchenweiten Vergleich bestehen und seine Wettbewerbsfähigkeit beweisen muss und folglich Kennzahlen eine große Rolle spielen, ordne man nicht jede Entscheidung für den Standort Breuberg dem Gewinnstreben unter, so Michael Schwöbel und nennt dabei insbesondere Beispiele der nachhaltigen Entwicklung und der Mitarbeitermotivation, die für die Zukunft eines Produktionsstandortes in einem Hochlohnland wie Deutschland ebenfalls entscheidend sind bzw. sein können.
Etwa die Entscheidung dazu, eine neue Kantine zu bauen. Der Beschluss dazu sei durch eine Mitarbeiterbefragung gereift, so der Sprecher der Geschäftsführung weiter. Die neue Kantine wird noch dieses Jahr offiziell ihrer Bestimmung übergeben. Insgesamt setze man sehr auf die Einbeziehung der Mitarbeiter in wichtige Entscheidungen den Standort und die Arbeitsbedingungen – etwa das Schichtmodell – betreffend. Seit Jahren schon treffe man in Breuberg viele Entscheidungen im Konsens mit der Arbeitnehmervertretung; der Aufsichtsrat der Pirelli Deutschland GmbH ist dabei paritätisch besetzt. Die Einbeziehung der Mitarbeiter gewährleiste „Stabilität und Sicherheit“ für den Standort, ist Schwöbel überzeugt. Auch steigere sie die Identifikation der Mitarbeiter mit dem Standort. Da Identifikation immer auf Informationen und Verständnis aufbauen muss, hat Pirelli an verschiedenen Stellen im Werk Info-Boards aufgestellt, die die Beschäftigten über Firmen- und vor allem Produktionsinterna auf dem Laufenden halten sollen. Aktiv eingebundene Mitarbeiter trügen Entwicklungen des Standortes und diesbezügliche Entscheidungen besser mit, so die Lesart der Geschäftsführung.
Auf Identifikation setzt Pirelli im gesamten Werk übrigens auch ganz bewusst, indem die Hallen durch großdimensionierte Fotos von Mitarbeitern geschmückt sind; die Aussage dabei: Wir sind Pirelli! Im gesamten Werk lässt sich dabei die Verbindung zwischen Altem und Neuem spüren; die Pirelli-Fabrik in Breuberg ist eine hochmoderne Produktionsstätte, untergebracht in zum Teil über 100 Jahre alten Gebäuden. Da befindet sich beispielsweise ein hochmoderner schalldichter Besprechungsraum inklusive Präsentationstechnik mitten in einer Produktionshalle unter einem klassischen Sägezahndach. Und gleich nebenan zeigen Reifenaufsteller, dass Pirelli Erstausrüstungslieferant für Porsche, Lamborghini und Co. ist. Reifenhersteller, die in die Erstausrüstung liefern wollen, müssen bekanntlich nicht nur die Anforderungen des Lastenheftes erfüllen, sondern Produktion und Unternehmen müssen außerdem umfassende Audits bestehen. „Qualität hat für uns die oberste Priorität“, betont Wendt. Eine Liste bedeutender Auszeichnungen durch Kunden aus der Erstausrüstung – darunter Volkswagen, BMW und Porsche – und durch den Konzern selber mit den „Factory Awards“ 2014 und 2015 werfen dabei ein Schlaglicht auf das Erreichte.
Hat Pirelli in den vergangenen zehn Jahren durchschnittlich 30 Millionen Euro pro Jahr in Breuberg investiert, so versprechen Schwöbel und Wendt auch für kommenden Jahre Investitionen in ähnlicher Höhe. So soll die Produktion für den Prestigebereich weiter ausgebaut werden, folglich investiert Pirelli derzeit in neue Reifenaufbaumaschinen und Vulkanisationspressen; genaue Zahlen zu den stattfindenden Investitionen mochten die Geschäftsführer indes nicht verraten. Allerdings könne man allein an den Bauarbeiten unschwer erkennen: „Das Werk wird weiter aufgebaut und fit für die Zukunft gemacht“, betonen beide unisono. arno.borchers@reifenpresse.de
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