Michelin im Wandel: Kleine Schritte und große Sprünge – Hersteller wird unabhängiger von Dritten
Der Michelin-Konzern ist im Wandel. Es ist auffällig: Gerade in den vergangenen zwei bis drei Jahren hat der französische Hersteller nicht mehr nur „kleine Schritte“ unternommen, um seine Strukturen den sich ändernden Marktanforderungen anzupassen. Vielmehr vollzieht das Traditionsunternehmen, das 2014 sein 125-jähriges Bestehen feiern konnte, zunehmend „große Sprünge“. Man erinnert sich an die „französische Revolution“ – die Einführung des von allen als Ganzjahresreifen wahrgenommenen Michelin CrossClimate – Anfang dieses Jahres, aber auch an die zunehmende Durchdringung aller Vertriebsebenen und Vertriebskanäle – Stichwort: Onlinehandel und Großhandel. Michelin macht sich damit zunehmend unabhängig von Dritten. Hinzu kommen Anpassungen in Bezug auf die Logistik, wohl auch veranlasst durch die neue Stellung Michelins als ‚Großhändler’ im Markt; einige Lager werden geschlossen, neue werden in Fabriknähe errichtet. Und nun legt der Hersteller auch direkt Hand an seinen europäischen Fabrikenverbund, schließt teure, unproduktive Standorte. Ein Überblick des Wandels.
Dieser Beitrag ist in der NEUE REIFENZEITUNG erschienen, die Sie hier auch als E-Paper lesen können.
Dass sich bei Michelin etwas Großes entwickelt, musste man – wenn nicht bis dahin schon bei anderer Gelegenheit geschehen – spätestens Anfang dieses Jahres zur Kenntnis nehmen. Anlässlich der Vorstellung des Berichts für das Geschäftsjahr 2014 betonte Michelin-CEO Jean-Dominique Senard, man wolle im Vertrieb künftig „bestimmter“ auftreten. Eigentlich eine Petitesse, aber entsprechend kämpferische Töne hatte man aus Clermont-Ferrand in der Vergangenheit nicht allzu oft vernommen, war der Vertrieb des Branchenprimus doch jahrzehntelang eher nachfrage- und nicht unbedingt angebotsbestimmt, sprich: Michelin-Reifen werden gekauft, sie mussten nicht verkauft werden („Pull“ statt „Push“).
Erst kurz vor Senards Ankündigung hatte Michelin den deutschen Reifengroßhändler Ihle Baden-Baden übernommen, eine „Übernahme der Not gehorchend“, befanden damals die Beobachter. Ihle Baden-Baden – über die Jahre zunehmend in finanzielle Schieflage geraten – gehörte zu den wichtigen Michelin-Kunden in Europa und stand logistisch hinter der Michelin-Onlineplattform Popgom.
Nahezu in dieselbe Zeit der Ihle-Baden-Baden-Übernahme fiel eine weitere Investition in den Vertriebskanal Großhandel, in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Michelin investierte in die Gründung eines entsprechenden Unternehmens in Spanien namens „Nex Tyres“ zusammen mit Partner Rodi Metro Services. Was Senard im Februar mit dem Zahlenwerk für 2014 aber ankündigte, sollte noch weit über die Übernahme von Ihle Baden-Baden und ähnliche Aktivitäten im europäischen Großhandel hinausgehen; Michelin legte nach.
Im Juli dann teilte der französische Reifenkonzern mit, man werde den deutschen Reifengroßhändler Meyer-Lissendorf übernehmen. Auch hier konstatierten Beobachter eine enge wirtschaftliche Beziehung zwischen den beiden Unternehmen. Welchen Kaufpreis Michelin bezahlt hat, darüber lässt sich nur spekulieren, dürfte aber mehr als deutlich im zweistelligen Millionenbereich für Meyer-Lissendorf und für Ihle Baden-Baden insgesamt gelegen haben. Klar ist aber, dass sich Michelin durch diese Akquisitionen einen direkten Zugriff auf zwei führende Unternehmen auf dem europäischen Reifenmarkt gesichert hat, deren Zukunft ansonsten völlig ungewiss gewesen wäre, und dass Michelin damit diesen Absatzkanal langfristig für sich stützt und sichert und sich gleichzeitig unabhängiger von anderen macht. Nun ist es an Michelin zu beweisen, dass sich diese Investitionen in ein Geschäftsmodell auszahlen, dem landauf, landab hohe Überkapazitäten und minimale Margen anhaften, auch wenn weiterhin riesige Volumina über den Großhandel in den Reifenmarkt gelangen; man darf hier von deutlich über 50 Prozent ausgehen. Helfen könnten dabei weitere Umstrukturierungen der Michelin-eigenen Logistik; dazu unten mehr.
Für Beobachter des französischen Herstellers sind die beiden Übernahmen in jedem Fall Ausdruck des „bestimmteren“ Auftretens im Vertrieb, wie CEO Jean-Dominique Senard es angekündigt hat. In einem Verdrängungswettbewerb wird abgesichert und verdrängt, und das kostet.
Ein Geschäftsmodell mit Zukunft und großem Potenzial sehen alle Branchenvertreter indes im Onlinereifenhandel. Dies erkennt man mittlerweile auch ganz offen beim Traditionsunternehmen Michelin an. Nach dem Start der eigenen B2C-Plattform Popgom vor nunmehr über sechs Jahren hat man beim französischen Reifenhersteller die Experimentierphase in Sachen E-Commerce mittlerweile hinter sich gelassen. Dies wurde im April und Mai mehr als deutlich, als Michelin erneut mit zwei Akquisitionen für knapp 130 Millionen Euro auf sich aufmerksam machte und den Ausbau des eigenen Onlinereifenhandels offiziell in den Rang einer „Strategie“ erhob.
Im April investierte der französische Hersteller 60 Millionen Euro in eine Minderheitsbeteiligung von 40 Prozent am führenden französischen Onlinereifenhändler Allopneus SAS. Die B2C-Plattform bediene im ‚Michelin-Land’ immerhin sieben Prozent des Marktes und erfreue sich eines starken Wachstums, wie es damals hieß. Die Franzosen investierten aber auch außerhalb ihres Heimatmarktes kräftig in den Vertriebskanal E-Commerce.
Nur kurze Zeit nach Bekanntwerden der Allopneus-Investition teilte Michelin mit, man habe den führenden britischen Onlinereifenhändler Blackcircles.com komplett übernommen. Kaufpreis: 68 Millionen Euro. Der Hersteller sieht darin einen „weiteren Schritt in der Umsetzung einer aktiven E-Commerce-Strategie“, hieß es dazu anlässlich der Akquisition. „Unsere Strategie zeigt unsere Ambitionen“, so Michelin-CEO Senard. Michelin wolle „immer innovativer, effizienter und proaktiv für unsere Kunden“ da sein, meinte Senard; man wolle den Kunden „Produkte und Services anbieten, die ihren individuellen Bedürfnissen entsprechen“, Reifen immer öfter auch im Internet kaufen zu wollen.
Dass Michelin im Vertrieb künftig „bestimmter“ auftreten wolle, wie CEO Jean-Dominique Senard Anfang dieses Jahres betonte, zeigt sich unterdessen nicht nur auf der Ebene des Reifengroßhandels und im Onlinereifenhandel. Michelin und ihre Tochtergesellschaft Euromaster verfolgen im Markt bereits seit einigen Jahren klar eine Expansionsstrategie. Als sich Euromaster 2010 auch für Franchisepartner öffnete, betrieb man europaweit 1.600 eigene Niederlassungen, 320 davon in Deutschland – weiteres Wachstum über Equity-Betriebe schien nicht machbar und wurde auch von anderen Herstellern als nicht mehr zeitgemäß und wirtschaftlich uninteressant anerkannt. Es ist zwar derzeit nicht bekannt, welche Rolle in Zukunft die über 300 MLX-Partnerbetriebe spielen, die durch die Übernahme des Großhändlers Meyer-Lissendorf unweigerlich noch näher an Michelin herangerückt sind (Micheliner haben auch dort die Geschäftsführung übernommen), zumal sie gleichzeitig auch eine große Nähe zum Hersteller Hankook vereint; etliche MLX-Partner nehmen auch am Hankook-Masters-Programm teil.
Als sicher gilt unter Branchenbeobachter, dass die Einkaufsgesellschaft Freier Reifenfachhändler (EFR) immer stärker an Euromaster heranrückt und die EFR-Partner dort den Quasi-Rang von Franchisenehmern haben. Man kauft gemeinsam ein über ein eigens dafür gegründetes Euromaster-EFR-Joint-Venture namens Advantico und beim Flottenmanagement ist die EFR seit diesem Herbst Euromaster-Subunternehmer. In Deutschland zählen zum Euromaster-Servicenetz mittlerweile 350 eigene Filialen und Franchisebetriebe, in Österreich kommen noch einmal 20 hinzu. Die EFR ihrerseits bringt noch einmal weit über 260 inhabergeführte Reifenfachhändler in Deutschland und Österreich mit insgesamt rund 330 Niederlassungen mit ins Michelin-System. Und es dauert nur noch wenige Wochen, da kann der Konzern auch Gummi Berger mit aktuell 13 Filialen komplett zu seinem System zählen. In diesem Jahr ‚leistete’ sich der Gummersbacher Reifenfachhändler eine Doppelmitgliedschaft (man darf annehmen, mit Michelin-Unterstützung) – Gummi Berger war gleichzeitig Euromaster-Franchise-Partner und Team-Gesellschafter.
Zusätzlich zum offenkundigen Wandel im Michelin-Vertrieb in den vergangenen Monaten betreibt der Hersteller auch eine Neuausrichtung seiner Logistik. Nach dem gemieteten Lager in Freystadt südlich von Nürnberg, das Michelin per Ende 2014 schloss, steht nun auch dem Michelin- eigenen Auslieferungslager in Dormagen das Ende bevor, die Schließung soll bis Ende 2016 vollzogen werden. Das Lager dort liegt nur rund 100 Kilometer vom Meyer-Lissendorf-Zentrallager entfernt und steht somit für (ver-)doppelte Strukturen. Dass Michelin mit der Neustrukturierung seiner Logistik auch auf die jüngsten Akquisitionen im deutschen Großhandel reagiert, liegt auf der Hand. Michelin betreibt aktuell noch vier eigene Auslieferungslager in Deutschland, diese befinden sich in Landau, Ulm, Bad Fallingbostel und eben in Dormagen. „Neustrukturierung der Logistik“ bedeutet indes nicht nur Schließung von Lagern, im Gegenteil. Der Michelin-Konzern investiert derzeit an seinen deutschen Reifenwerken in Bad Kreuznach und in Homburg in neue Lagerkapazitäten. An beiden Standorten fanden im Laufe dieses Jahres entsprechende Grundsteinlegungen statt.
Seit Neuestem ist bekannt, dass der Wandel bei Michelin auch den europäischen Fabrikenverbund des Konzerns erreicht hat. Gerade die nun für Ende 2016 angekündigte Schließung des Laurent-Reifen-Runderneuerungswerks in Oranienburg bei Berlin mit 180 Mitarbeitern und die Verlagerung der Kapazitäten nach Frankreich wirken auf dem deutschen Reifenmarkt wie ein Fanal, hat es doch nach der Werksschließung bei Continental in Hannover-Stöcken (2007 und 2009) hierzulande keine Schließungen von Produktionsstandorten der Industrie gegeben. Eigentlich ist es hingegen fast immer der französische (und auch der britische) Reifenmarkt, der mit Werksschließungen in den internationalen Fokus gerät. Aber auch in Großbritannien will Michelin nun ein Reifenwerk schließen, wie der Konzern Anfang November bekannt gab. Betroffen sein wird die Lkw-Reifenfabrik im nordirischen Ballymena, die der Hersteller bis Mitte 2018 schließen will. Der europäische Lkw-Reifenmarkt habe seit 2007 ein Volumen von rund fünf Millionen Neureifen verloren und leide darüber hinaus stark unter Importen aus Fernost, begründet der französische Hersteller diesen Schritt. Man sehe jetzt die „große Notwendigkeit, Überkapazitäten zu reduzieren“ und die Produktion an „wettbewerbsfähigeren Standorten“ zu konzentrieren. Am Standort in Ballymena stehen 860 Jobs zur Disposition; die lokalen Medien schreiben derweil sogar von einer „Apokalypse“ für die strukturschwache Region. Wie der französische Reifenhersteller weiter mitteilt, werde die Schließung der Ballymena-Fabrik aber im Rahmen eines Investitions- und Restrukturierungsprogramms geschehen, es fließen insgesamt über 91 Millionen Euro.
Michelin verfolgt aber nicht nur Schließungspläne in Nordirland und in Deutschland. Auch in Italien soll demnächst eine Fabrik geschlossen werden, und zwar die Fabrik für Halbfertigprodukte in Fossano. Ebenfalls werden in Italien eines von drei Lagern (Tribano) sowie die Runderneuerung an der Lkw-Reifenfabrik in Alessandria geschlossen. Gleichzeitig will der französische Hersteller aber auch in Italien 180 Millionen Euro in seine Standorte investieren. So sollen die Produktionskapazitäten in der Pkw-/LLkw-Reifenfabrik in Cuneo sowie in der Lkw-Reifenfabrik in Alessandria bis 2020 um jeweils 20 Prozent erweitert werden. Ebenfalls sollen die Lager in Turin und Rom modernisiert werden. arno.borchers@reifenpresse.de
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