Werden Notlaufreifen/Druckkontrollsysteme wirklich ein Massenmarkt?
Nach dem Erfolg der ersten Konferenz unter dem Titel „Intelligent Tire Technology“ veranstaltete die IQPC Gesellschaft für Management Konferenzen mbH im September nunmehr die zweite Veranstaltung dieser Art zum Thema „Intelligente Reifentechnologien – Mobilität, Sicherheit und Fahrdynamik“. Der Schwerpunkt des Kongresses, der wiederum im Steigenberger Airport Hotel in Frankfurt am Main stattfand, wurde erneut auf Mobilitätskonzepte und Reifendruckkontrollsysteme gelegt. Zwar standen neue Entwicklungen und Produkte in diesem Segment ebenso wie vor Jahresfrist auf der Tagesordnung, dennoch ging es bei den verschiedenen Präsentationen der Referenten um mehr: Fast bei jedem Vortrag stand die Frage im Raum, ob denn Reifendruckkontrollsysteme und insbesondere Notlaufreifen in näherer Zukunft eine solche Marktdurchdringung erreichen werden wie beispielsweise ABS, Airbags oder auch ESP.
Denn diese Systeme haben es inzwischen schließlich bis zum Serienstatus bei fast allen Neufahrzeugen geschafft. Verglichen etwa mit dem raschen Siegeszug von ESP in der europäischen Erstausrüstung scheint die Entwicklung in Sachen Druckkontrolle und Notlaufreifen als Serienausrüstung – so zumindest der Eindruck – doch etwas gemächlicher abzulaufen. Bei den Reifendruckkontrollsystemen kommt erschwerend hinzu, dass hier nach wie vor zwei unterschiedliche Ansätze um die Gunst der Kunden bzw. der Fahrzeughersteller buhlen: direkt messende Systeme mit den entsprechenden Druck- bzw. Temperatursensoren im Reifen oder solche, die über die Nutzung der ABS-Infrastruktur Drehzahldifferenzen in den einzelnen Rädern detektieren und mittels bestimmter Analysealgorithmen darüber indirekt auf Druckverluste in den Pneus zurückschließen können. Klar, dass die jeweiligen Vertreter der unterschiedlichen Anbieter in Frankfurt vor diesem Hintergrund ihre Produkte ins rechte Licht zu rücken wussten. Wirkliche Quantensprünge konnte indes keines der beiden Lager vorweisen, was allerdings nicht bedeutet, dass es an dieser Front keine Weiterentwicklungen geben würde.
Die Beru AG, die seit 1999 direkt messende Reifendruckkontrollsysteme anbietet und seit kurzem diese unter dem Namen TSS (Tire Safety System) vermarktet, stellte im Rahmen der IQPC-Konferenz eine neue Lösung für Nutzfahrzeuge vor. Eigentlich sogar zwei: eine einfache und eine komfortable, weil weitgehend automatisierte, Variante. Seit 2004 werde – so Nicola Fischer, Produktmanagerin TSS bei Beru – zwar schon ein entsprechendes System für die Antriebsachse des Actros von Mercedes verbaut, doch nunmehr könne die Bereifung eines kompletten Lastzuges überwacht werden. Die Besonderheit im Vergleich mit Pkw-Systemen hob Fischer einerseits hervor, dass die Sensoren für die Nutzfahrzeugreifen wesentlich robuster ausgeführt sind. Andererseits weisen Lkw-Reifen ihren Worten zufolge eine höhere Spreizung der Betriebsdrücke auf, wobei es gleichzeitig zu höheren Temperaturen komme. Insofern würden an das Messsystem höhere Anforderungen gestellt, um tatsächliche Druckänderungen im Pneu wirklich eindeutig von bloßen Temperaturänderungen unterscheiden und somit Fehlwarnungen des Fahrers vermeiden zu können.
Dass Fischer unabhängig davon eine Reifendrucküberwachung bei Nutzfahrzeugen für sinnvoll hält, steht außer Frage. Denn nach Beru-Untersuchungen ist rund die Hälfte aller Lkw mit einem zu niedrigen Reifendruck unterwegs. „Geht man von einem Lkw mit zehn Reifen aus, der pro Jahr 150.000 Kilometer zurücklegt und dessen Reifen einen ein bar zu niedrigen Reifendruck im Vergleich zum Solldruck von acht bar aufweisen, lassen sich dank Reifendruckkontrolle rund 1.300 Euro pro Jahr durch einen geringeren Reifenverschleiß, niedrigeren Kraftstoffverbrauch usw. einsparen“, rechnete sie vor. Dass man diese (Kosten-)Argumentation in den Vordergrund stellt, kommt wohl nicht von ungefähr. Laut Fischer ist bei Lkw-Flottenbetreibern das Thema Sicherheit halt nicht von so großer Bedeutung wie die Kilometerkosten. Nicht verwunderlich deshalb, warum Beru bereits plant, einen Schritt weiterzugehen, indem die vom Sensor gesammelten Reifendaten in Telematiksysteme integriert und somit dem Flottenmanager zur weiteren Auswertung zur Verfügung gestellt werden können.
An Systemen, die mehr können als Druck und Temperatur an den Fahrer zu übermitteln, arbeiten aber auch andere Anbieter. So gaben beispielsweise Dr. Gregor Kuchler, Innovation Manager Tire Informations Systems bei Siemens VDO, sowie Robert Lionetti von Goodyear einen Ausblick darauf, wohin die Zusammenarbeit beider Unternehmen in Sachen Reifensensorik führen könnte. Nachdem die Vision des intelligenten Reifens unter dem Schlagwort „Tire IQ“ schon bei der ersten IQPC-Tagung Ende vergangenen Jahres vorgestellt worden war (vgl. NEUE REIFENZEITUNG 1/2006), zeigten beide nunmehr die weitere Roadmap des Projektes. Demnach soll das System, mit dem sich über die Erfassung von Reifendruck und -temperatur hinaus viele weitere Informationen (Größe, Geschwindigkeitskennung, zurückgelegte Wegstrecken) speichern bzw. ermitteln sowie an die Fahrzeugelektronik übermitteln lassen, 2011 auf dem Markt verfügbar sein.
„Damit sich ein solches intelligentes System durchsetzt, muss es eine ganze Reihe von Bedingungen erfüllen. Die Sensoren sollten kleiner sein als die heute üblichen, und eine Reduzierung von deren Gewicht auf unter zehn Gramm ist ein es weiteres Ziel. Der Signalgeber muss außerdem ins Reifengummi integriert werden und sollte ohne eigene Batterieversorgung auskommen“, so Kuchler zu den Aufgaben, die es auf dem Weg zu „Tire IQ“ im Serieneinsatz zu lösen gilt. Bei Siemens VDO ist man allerdings zuversichtlich, dies durch die – wie Kuchler sagte – „Kombination der Stärken“ beider Kooperationspartner in den Griff zu bekommen. Wobei er nicht vergaß, die weitere Entwicklung des Systems hin zu einem immer intelligenteren zu projizieren. „Bis zum Jahr 2015 könnte so etwa die Reibwerterkennung durch die Sensoren hinzukommen, und 2020 lassen sich die von den Reifensensoren eines Autos gesammelten Daten vielleicht dank Fahrzeug-zu-Fahrzeug-Kommunikation an einen anderen Pkw übermitteln“, stellte er in Aussicht.
Darüber soll allerdings nicht der Eindruck entstehen, die Verfechter der indirekten Reifendruckmessung würden sich auf ihren Lorbeeren ausruhen. Robert Kessler aus der Forschungs- und Entwicklungsabteilung DWS (Deflation Warning Systems) des Herstellers Dunlop stellte in Frankfurt ebenfalls neuen Lösungen rund um die die ABS-Infrastruktur nutzenden Systeme vor. Denn die haben laut Kessler in der Regel ein Problem. „Während man einen Druckverlust in einem Reifen damit leicht detektieren kann und ein Minderdruck selbst in bis zu drei Reifen durch ausgefeilte Algorithmen sowie unter Zuhilfenahme zusätzlicher Daten wie etwa zum Lenkeinschlag oder der Gierrate, die ein ESP-Steuergerät zur Verfügung stellt, nicht unentdeckt bleibt, ist bei einem Druckverlust in allen vier Reifen gleichzeitig bislang allerdings Schluss“, erklärte Kessler. Nicht ohne jedoch mögliche Wege aus diesem Dilemma aufzuzeigen.
Seinen Worten zufolge lassen sich vier Reifen mit zu wenig Druck beispielsweise durch die zusätzliche Messung der Radlastschwankungen oder über die bei Druckabweichungen auftretende Resonanzfrequenzverschiebung der Torsionsschwingung eines Reifens bestimmen. Auch aus dem Vergleich der über die Reifendrehung ermittelten Geschwindigkeit mit der über ein GPS-Signal ermittelten lasse sich auf Abweichungen vom Solldruck zurückschließen. Im Vergleich dazu wesentlich weniger Details ließ sich Dr. Urban Forssell entlocken, wie genau das von Nira Dynamics AB entwickelte indirekte System funktioniert. Der Präsident und CEO des schwedischen Zulieferers ließ nur so viel durchblicken, dass das „TPI“ genannte System gleichfalls Luftverluste in allen vier Rädern gleichzeitig erkennen könne und auf einer reinen Softwarelösung basiere, die in vorhandene ABS- und ESP-Steuergeräte ebenso integriert werden kann wie es zum Beispiel die Rechenkapazitäten eines vorhandenen Airbag-Steuergerätes oder der Fahrwerkselektronik nutzen könne. „Airbag-Steuergeräte haben starke Prozessoren, deren Leistung – mit Ausnahme eines tatsächlichen Unfalls – meist ungenutzt brachliegt“, so Forssell.
Bei der Diskussion der Teilnehmer an der Tagung – unabhängig davon, welcher Anbieter letztlich dahinter stand oder ob nun Verfechter der direkten oder indirekten Reifendruckbestimmung – wurde eines jedoch deutlich. Als größter „Unsicherheitsfaktor“ bei allen Lösungen zur Überwachung des Reifendruckes wird der Autofahrer gesehen. Kalibriert es das System aus Unkenntnis der Funktionsweise bzw. der dahinter stehenden Zusammenhänge falsch oder ignoriert er – möglicherweise abstumpft aufgrund durch vorherige Fehldienung hervorgerufene Falschmeldungen – dessen Warnungen sogar, dann nützt selbst das beste System nichts. Und wenn in letzter Instanz der Fahrer ohnehin für den ordnungsgemäßen Zustand der Bereifung seines Fahrzeuges verantwortlich ist, wie kann man dem Verbraucher dann den Zusatznutzen eines Reifendruckkontrollsystems, das in der Regel ja auch mit zusätzlichen Kosten für ihn verbunden ist, näher bringen? Nur selten wirbt ein Fahrzeughersteller mit diesem Feature und beim Fahrzeugkauf – so jedenfalls die Erfahrungen der nach Frankfurt gekommenen Fachleute aus der Automobilindustrie – stehe das Thema Reifen meist nicht gerade an oberster Stelle der Prioritätenliste.
Vielleicht ist das mit ein Grund, warum sich die Systeme eher langsam im Markt durchsetzen, wenngleich die Verordnung der US-Verkehrssicherheitsbehörde NHTSA (National Highway Transportation Safety Administration), wonach neue Fahrzeuge in den Staaten zukünftig mit Reifendruckkontrollsystemen ausgerüstet sein müssen, nach Expertenmeinung der weiteren Entwicklung neue Impulse geben dürfte. Für Fahrzeuge, die serienmäßig mit Notlaufreifen ausgeliefert werden, schreiben die Hersteller ohnehin ein solches System zwingend vor. Doch obwohl BMW als Vorreiter in Sachen Reifen mit Notlaufeigenschaften voranprescht, scheinen Runflats noch weiter vom Status eines Volumenproduktes entfernt zu sein als die elektronische Reifendruckkontrolle. „Notlaufreifen haben bezüglich ihres Marktanteils nicht so zugelegt wie wir Reifenhersteller es vor Jahren noch erwartet haben“, sagte Matthias Strzelczyk von der Continental AG. Seinen Worten zufolge kommen Notlaufreifen im europäischen Markt auf einen Marktanteil von rund fünf Prozent, während es in den USA noch nicht einmal ein Prozent ist und in Japan überhaupt keine nennenswerte Verbreitung festgestellt werde.
„Auch für die kommenden Jahre erwarten wir in diesem Segment keine allzu hohen Zuwachsraten“, machte Strzelczyk deutlich und sprach von in etwa acht Prozent (sieben Prozent seitenwandverstärke Reifen, gut ein Prozent stützringbasierte System) bis zum Jahr 2011 in Europa. In den USA sollen es der Conti-Prognose zufolge in fünf Jahren dann immer noch nicht einmal zwei Prozent (1,2 Prozent seitenwandverstärke Reifen und 0,7 Prozent stützringbasierte System) sein. „In Japan sehen wir 2011 ebenfalls keinen nennenswerten Marktanteil von Notlaufreifen, denn bislang sind vonseiten der dortigen Fahrzeughersteller noch keinerlei Signale in dieser Richtung zu erkennen“, begründete er, warum Conti dort wie auch in Europa und den USA die Marktchancen für die von dem Unternehmen als Alternative zu Runflats angebotenen Mobilitäts-/Reifendichtkits als durchgängig erfolgversprechender bewertet.
„Wenn wir jetzt nicht an einem Strang ziehen, ist die einmalige Chance, Notlaufreifen als Standard durchzusetzen, bald verpasst“, sagte denn auch Hans-Rudolf Hein, bei BMW verantwortlich für den Bereich Reifen und Räder, im Rahmen der Podiumsdiskussion am Abend des ersten Tages der Konferenz in Frankfurt. Nichtsdestotrotz gaben sich seine Kollegen von den anderen großen deutschen Fahrzeugmarken weiterhin eher zögerlich. Wohl vor allem deshalb, weil bei ihnen Notlaufreifen nur von wenigen Fahrzeugkäufern als Option geordert werden. Bei BMW hat der Kunde bei der Mehrzahl der Modelle aber mittlerweile keine Wahl mehr. Die neuesten Fahrzeuge des bayerischen Herstellers – laut Hein gehört dazu auch der neue X5 – gibt es halt nur noch mit seitenverstärkten Notlaufreifen. Die Vertreter der anderen Hersteller würdigten den klaren Schnitt von BMW zwar als „mutig“ – eine Bereitschaft es dem Konzern gleichzutun war allerdings nicht erkennbar. Doch kann ein Hersteller allein dem Runflat-Reifengeschäft zu einem Status als Volumenmarkt verhelfen?
Das Ganze mutet an wie das klassische Henne-Ei-Problem: Was war zuerst da – Henne oder Ei bzw. sollte ein Fahrzeughersteller seine Kunden aktiv in Richtung Ausstattung mit Notlaufreifen bzw. Reifendruckkontrollsystemen „drängen“ oder sollte er lediglich auf eine entsprechende Nachfrage vonseiten der Verbraucher reagieren? Die Antwort auf diese Frage wurde in Frankfurt zwiespältig diskutiert. Vor dem Hintergrund des damit verbundenen Sicherheitsgewinns könne die Antwort eigentlich nur pro Runflats ausfallen, war zu hören. Doch angesichts der im Vergleich zu konventionellen Reifen höheren Kosten wolle man andererseits die Verbraucher nicht verschrecken, zumal von denen ja außerdem mitunter der geringere Komfort der seitenwandverstärkten Pneus bemängelt werde.
„Anfangs war das so, doch mittlerweile haben wir diesbezüglich große Fortschritte gemacht und die Komfortnachteile nahezu komplett ausgeglichen. Es wird jedoch nach wie vor immer Autofahrer geben, welche die Abstimmung eines Fünfer-BMW als nicht komfortabel genug empfinden. Aber dabei handelt es sich schließlich um ein sportliches Fahrzeug. Und im Vergleich etwa mit einem Porsche ist der Fünfer allemal äußerst komfortabel“, so Hein im Gespräch mit der NEUE REIFENZEITUNG. Er schätzt jedenfalls, dass rund drei Viertel aller Fahrer eines BMW mit Notlaufreifen bei der Winterumrüstung oder beim Austausch eines abgefahrenen Reifensatzes wieder auf Runflats die Servicebetriebe verlassen. Gleichwohl liegen ihm konkrete Zahlen dazu nicht vor, wie er auf Nachfrage dieser Fachzeitschrift durchblicken ließ. „Wenn die Fahrzeuge allerdings älter werden und schon in zweiter und dritter Hand sind, dann wird natürlich reifenseitig alles mögliche montiert“, konstatierte er.
Als Fazit aller Diskussionen während der diesjährigen IQPC-Konferenz drängte sich der Eindruck auf, dass es längst noch nicht als sicher gelten darf, dass sich Reifendruckkontrollsysteme und insbesondere Notlaufreifen als Massenmarkt oder gar als Standard etablieren. Zu zaghaft sind mit Ausnahme von BMW die Ansätze der meisten Fahrzeughersteller, und zu wenig ist der Verbraucher offensichtlich bereit in seine Sicherheit zu investieren. Vielleicht – so die Meinung einiger Kongressteilnehmer – wäre es eine gute Idee, die Autofahrer mithilfe geeigneter Marketingkampagnen besser über die Problematik aufzuklären. Ein anderer Weg wäre, auf eine entsprechenden Gesetzgebung zu setzen und zu hoffen, dass – wie die US-Verkehrssicherheitsbehörde in Sachen Reifendrucküberwachung vorexerziert hat – irgendwann auch in Deutschland bzw. Europa entsprechende Regelungen für mehr Sicherheit sorgen. Aber die Mühlen der Bürokratie mahlen bekanntlich langsam, und die letztendlichen Entscheidungen der maßgeblichen Stellen sind zudem nicht immer von dem nötigen Sachverstand geprägt.
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