Nikolai Setzer im NRZ-Interview: „‚Taraxagum’ verspricht substanzielle Vorteile“

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Seit einigen Jahren setzt Continental ganz gezielt auf die Entwicklung von Naturkautschuk auf Basis des Russischen Löwenzahns (Taraxacum kok-saghyz) und nennt seine ersten Reifen, die den Alltagstest offenbar gut bestanden haben, entsprechend „Taraxagum“. Auf dem Weg zur Industrialisierung und zur Serienproduktion solcher Reifen liegen indes noch einige Herausforderungen, die es zu lösen gilt. Im Interview mit der NEUE REIFENZEITUNG erläutert Nikolai Setzer, Mitglied des Vorstandes der Continental AG und dort für die Reifendivision verantwortlich, wo diese Herausforderungen liegen, wie sie zu lösen sein sollen, welchen Potenziale sich dem Hersteller durch den neuen Rohstoff bieten und in welchem Zeitraum aus dem Projekt Realität für den Reifenmarkt werden könnte.

Neue Reifenzeitung:

Bei Continental setzt man große Stücke auf Kautschuk aus Löwenzahn. Was sind dabei Ihre hauptsächlichen Beweggründe?

Nikolai Setzer:

Wir wollen mit unserem „Taraxagum“-Naturkautschuk auf nachhaltige Weise einen alternativen Rohstoff zum Naturkautschuk vom Kautschukbaum entwickeln, da dieser für uns aufgrund seiner natürlichen Voraussetzung, welche neben seiner verblüffenden Gleichheit zum Naturkautschuk im Wesentlichen in seiner agrarischen Anspruchslosigkeit begründet ist, substanzielle Vorteile verspricht.

button_nrz-schriftzug_12px-jpg Dieser Beitrag ist in der Oktober-Ausgabe der NEUE REIFENZEITUNG erschienen, die Abonnenten hier auch als E-Paper lesen können. Sie sind noch kein Abonnent? Das können Sie hier ändern.

Neue Reifenzeitung:

Was spricht denn eigentlich dagegen, dass Continental selber Naturkautschuk anbaut, wie dies andere Hersteller ja durchaus tun?

Nikolai Setzer:

Das ist eine grundsätzliche Frage der Strategie. Bisher haben wir uns auf die Teile der Wertschöpfungskette fokussiert, wo wir unsere Stärken sehen, nämlich im Entwickeln von Premiumreifen, deren Produktion und Vertrieb. Also diejenigen Prozessschritte, die nach dem Anbau, der Ernte und dem Handel von Rohstoffen angesiedelt sind. Mit „Taraxagum“ gehen wir entwicklungsseitig hier einen großen Schritt weiter.

NRZinterview_Icon_WEB_200pxNeue Reifenzeitung:

Der Druck, Alternativen zum Naturkautschuk zu etablieren, ist zuletzt eigentlich immer geringer geworden, entsprechend günstig kann man den wichtigsten Grundstoff der Reifenproduktion mittlerweile einkaufen. Warum investieren Sie dennoch in Alternativen?

Nikolai Setzer:

Ganz einfach, da wir uns von Kautschuk aus Löwenzahn aufgrund seiner natürlichen Voraussetzung Vorteile versprechen, die sich, sofern wir sie erfolgreich in skalierter Serienproduktion umsetzen können, auch langfristig in seiner Wettbewerbsfähigkeit zeigen wird. Wichtig ist hierbei die nachhaltige Gesamtbilanz, welche sich schließlich in den Beschaffungskosten ausdrücken wird. Da ist es aus heutiger Sicht nicht entscheidend, auf welchem Niveau die stark schwankenden Preise für Rohstoffe heute liegen.

Neue Reifenzeitung:

Alles scheint sich in der Branche auf Kautschuk aus Russischem Löwenzahn zu konzentrieren, auch bei Continental. Gibt es darüber hinaus weitere erstzunehmende Alternativen zum Naturkautschuk, etwa Recyclingmaterialien, die Devulkanisation oder Kautschuk auf Guayulebasis? Betreibt Continental entsprechende Projekte?

Nikolai Setzer:

Wir haben bezüglich Primärrohstoff mit „Taraxagum“ schon von Anfang an auf Naturkautschuk aus der Wurzel des Russischen Löwenzahns gesetzt, da wir bei diesem Ansatz das größte Potenzial sehen. Ob dieses Potenzial ausreichend ausgeschöpft werden wird, hängt allerdings entscheidend davon ab, inwiefern wir die erforderlichen Industrialisierungsprozesse erfolgreich beherrschen werden. Wir sind sehr zuversichtlich, dass wir das mit dem „Taraxagum“-Projekt schaffen werden und machen deshalb mit der Investition von 35 Millionen Euro für das neue „Taraxagum Lab Anklam“ den nächsten logischen Schritt.

Neue Reifenzeitung:

Anbau der Pflanzen, Extraktion des Latex’ und Weiterverarbeitung zum Löwenzahnkautschuk funktionieren in kleinen Mengen – also unter Laborbedingungen – offenbar gut. Wo sehen Sie derzeit aber die größten technologischen Hürden für den kommerziellen Anbau und die industrielle Nutzung als Alternativrohstoff in Ihren Reifenwerken, und wie wollen Sie diese überwinden?

Nikolai Setzer:

Bevor wir größere Mengen „Taraxagum“-Naturkautschuk in unseren Werken in der Serienproduktion verarbeiten können, müssen wir noch Antworten auf eine ganze Reihe von technologischen Fragen finden, die zum Beispiel mit der Optimierung von Löwenzahnanbau, dessen effizienter Ernte und sich anschließender Verarbeitung des Latexsaftes aus den „Taraxagum“-Wurzeln zu tun haben.

Die ersten „Taraxagum“-Testreifen der Continental sind bereits produziert und haben den Alltagstest auf der Straße bestanden, nun geht es dem Hersteller darum, Lösungen für die erforderlichen Industrialisierungsprozesse für den Anbau der Pflanzen, die Extraktion des Latex’ und die Weiterverarbeitung zum Löwenzahnkautschuk zu finden, sollen einmal entsprechende Reifen in Serie gehen

Die ersten „Taraxagum“-Testreifen der Continental sind bereits produziert und haben den Alltagstest auf der Straße bestanden, nun geht es dem Hersteller darum, Lösungen für die erforderlichen Industrialisierungsprozesse für den Anbau der Pflanzen, die Extraktion des Latex’ und die Weiterverarbeitung zum Löwenzahnkautschuk zu finden, sollen einmal entsprechende Reifen in Serie gehen

Neue Reifenzeitung:

Technologisch betritt Continental mit dem Projekt absolutes Neuland. Sehen Sie dabei über die konkreten Ziele in Bezug auf die Reifenfertigung hinaus weitere Verwertungs- bzw. Vermarktungsmöglichkeiten? Man darf schließlich mit einigen neuen Patenten rechnen, oder?

Nikolai Setzer:

Über den Reifenbereich hinaus entwickeln auch unsere Kollegen von ContiTech verschiedene Lösungen für den industriellen Einsatz. Das reicht schon heute bis zu schwingungsdämpfenden Motorlagern und Gelenkwellen. Die Anwendung ist daher grundsätzlich auf vielfältige Weise möglich, denn die prinzipiellen Vorteile gelten erste einmal für alle technischen Gummiprodukte.

Neue Reifenzeitung:

Die mechanische Verarbeitung zum Löwenzahnkautschuk ist überaus energieaufwendig. Wie lassen sich diese Kosten rechtfertigen? Etwa über Stromproduktion aus anfallender Biomasse?

Nikolai Setzer:

Natürlich spielen am Ende die Gesamtkosten eine entscheidende Rolle. Da wir aus heutiger Sicht noch mindestens fünf Jahre brauchen werden, um „Taraxagum“-Löwenzahnkautschuk in die Serienproduktion einzuführen, müssen wir diese Frage heute noch nicht abschließend beantworten. So arbeiten wir intensiv in unserem Projekt auch auf diesem Gebiet, haben viele Ideen und behalten natürlich den Bedarf und die Entwicklung der Energiepreise allein schon aus ökonomischen Gründen permanent im Blick.

Neue Reifenzeitung:

In welchem Zeitraum planen Sie denn die umfassende Einführung von Produkten auf Löwenzahnkautschukbasis? Arbeiten Sie dabei an einem kompletten Austausch von Naturkautschuk oder geht es lediglich um dessen Ergänzung?

Nikolai Setzer:

Für die Reifenproduktion halten wir einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren für realistisch. Bei anderen Produktgruppen können sich natürlich auch andere kürzere oder längere Zeitfenster ergeben. In welchem Maße Naturkautschuk eine Ergänzung oder für einzelne Produkte und Produktionsstätten gar eine vollständige Substitution sein wird, hängt von dem Erfolg unseres Projektes und der dann vorhandenen Wettbewerbsfähigkeit der verwendeten Rohstoffe ab.

Naturkautschuk aus Russischem Löwenzahn – in der biologischen Nomenklatur als Taraxacum kok-saghyz bekannt – zeichnet sich durch eine verblüffende Gleichheit zum Naturkautschuk des klassischen Kautschukbaums Hevea brasiliensis aus und bietet nicht zuletzt aufgrund seiner agrarischen Anspruchslosigkeit und der Möglichkeit, ihn in Europa anzubauen, gewisse Vorteile

Naturkautschuk aus Russischem Löwenzahn – in der biologischen Nomenklatur als Taraxacum kok-saghyz bekannt – zeichnet sich durch eine verblüffende Gleichheit zum Naturkautschuk des klassischen Kautschukbaums Hevea brasiliensis aus und bietet nicht zuletzt aufgrund seiner agrarischen Anspruchslosigkeit und der Möglichkeit, ihn in Europa anzubauen, gewisse Vorteile

Neue Reifenzeitung:

Trotz aller Fortschritte, die Ihr Unternehmen bisher erzielen konnte, liegt immer noch ein nicht unerheblicher Teil des Weges bis zur Industrialisierung vor Ihnen – ein Weg mit vielen Unbekannten. Halten Sie es für denkbar, dass das Projekt vielleicht technologisch in einer Sackgasse enden oder sich dessen Umsetzung nicht mehr rechnen könnte?

Nikolai Setzer:

In Anbetracht der sehr breit gefächerten Expertise der wichtigsten Projektpartner wie Fraunhofer-Institut IME, Julius-Kühn-Institut und Eskusa sind wir überzeugt davon, dass wir „Taraxagum“ gemeinsam zum Erfolg führen können. Allerdings können wir auch nicht ausschließen, dass wir bei den weiteren Meilensteinen noch auf Herausforderungen treffen werden, die sich nicht kurzfristig lösen lassen. Uns geht es hierbei aber nicht um das Tempo, sondern darum, eine tragfähige Lösung zu entwickeln, die möglichst breitflächig umsetzbar ist.

Neue Reifenzeitung:

Continental plant die Errichtung einer Forschungseinrichtung in Mecklenburg-Vorpommern. Wozu soll diese Einrichtung konkret dienen und wie kommen Sie mit deren Einrichtung voran?

Nikolai Setzer:

Unser „Taraxagum Lab Anklam“ befindet sich derzeit noch in Vorbereitung. Die Bedingungen in Anklam, die Anbaufläche sukzessive auszuweiten und parallel dazu auch die Verarbeitungskapazitäten vom Labormaßstab in einen Industriemaßstab zu transformieren, sind ideal. Aber auch hier gilt ganz klar: Qualität vor Geschwindigkeit.

Neue Reifenzeitung:

Die ersten „Taraxagum“-Reifen sind bereits auf der Straße und zeigen dabei vergleichbare Leistungseigenschaften wie Reifen aus konventionellen Rohstoffen. Gibt es Anwendungen in der Reifenbranche, wo Löwenzahnkautschuk derzeit als nicht praktikabel erscheint? Warum nicht?

Nikolai Setzer:

Wir haben als Ausgangspunkt bewusst immer die neuesten Serienprodukte gewählt, z.B. den erst 2014 eingeführten WinterContact TS 850 P, um mit „Taraxagum“ von Anfang an die höchsten technologischen Anforderungen abbilden zu müssen. Da das hervorragend funktioniert, spricht aus heutiger Sicht nichts dagegen, den Einsatz auf andere Produktsegmente auszuweiten.

Neue Reifenzeitung:

Oder scheint es sogar möglich, dass Löwenzahnkautschuk sich dem Naturkautschuk gegenüber als überlegen zeigt, gerade in Verbindung mit anderen Weiterentwicklungen Ihrer Mischungstechnologie?

Nikolai Setzer:

Das können wir heute noch nicht sagen. Da wir allerdings unser gesamtes Materialentwicklungs-Know-how in die Züchtung und Entwicklung unseres Continental-Löwenzahns Tag für Tag einbringen können, haben wir alles in der Hand, um auch dessen Eigenschaften für unsere Reifen langfristig zu beeinflussen. Spannend bleibt die Weiterentwicklung von „Taraxagum“ für uns deshalb auf jeden Fall. ab

 

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