Ist der Autoservice dem Reifenhändler wirklich zuzutrauen? – NRZ-Interview mit BBE Automotive
Auch wenn das Thema Autoservice im Reifenhandel gefühlt eine zentrale Rolle spielt, fällt die Branche bei diesem Geschäft für den gesamten deutschen Aftermarket kaum ins Gewicht. Teilehändler haben dabei in der Vergangenheit auch ganz gezielt und vordringlich ihre eigenen Netzwerke und Systeme entwickelt. Es stellt sich allerdings nun die Frage, ob der Reifenhandel in Deutschland in Zukunft nicht eine größere Rolle für die Grossisten im Teilehandel spielen wird, insbesondere wenn die Erwartung eintrifft, dass diese Marktriesen für sich mehr als bisher das Produkt Reifen entdecken. Im Interview mit der NEUE REIFENZEITUNG erläutern Gerd Heinemann und Dr. Ralf Deckers von der Kölner Beratungsgesellschaft BBE Automotive, wo der Reifenhandel in Bezug auf Autoservice und den ihn befördernden Teilehandel steht und wo er vermutlich in einigen Jahren stehen wird.
Dieser Beitrag ist in der August-Ausgabe der NEUE REIFENZEITUNG erschienen, die Abonnenten hier auch als E-Paper lesen können.
NEUE REIFENZEITUNG:
Seit Jahren spricht man im Reifenhandel davon, zusätzliche Erlöse und Erträge sollten über Autoservice generiert werden. Ist Autoservice denn mittlerweile eine Domäne des Reifenhandels?
Gerd Heinemann:
Das kann man sicherlich nicht sagen, der Marktanteil des Reifenhandels an allen Autoservicearbeiten liegt weiterhin im Bereich von etwa drei Prozent.
NEUE REIFENZEITUNG:
Gibt es denn Organisationen im Reifenmarkt, die hier überdurchschnittlich gut dastehen?
Gerd Heinemann:
Premio und Vergölst waren die Pioniere im Markt und haben durchdachte Autoservicekonzepte umgesetzt. Einzelne Ketten wie Euromaster folgten, einige Kooperationen oder Ketten zeigen bisher aber keine offensichtlichen Aktivitäten in Richtung Autoservice.
BBE Automotive GmbH im Profil:
Die BBE Automotive GmbH ist eine auf die Automobilbranche spezialisierte Beratungsgesellschaft mit Sitz in Köln. Auftraggeber der Gesellschaft sind namhafte nationale wie internationale Unternehmen aus der gesamten Automobilbranche. BBE Automotive deckt sämtliche Teilmärkte der Automobilindustrie ab. Dazu zählen Automobilhersteller, Reifen- und Teilehersteller, Großhandel/Kooperationen sowie Handelsbetriebe und Werkstattnetze.
Zu den Schwerpunktthemen von BBE Automotive gehören:
- Markt-, Distributions- und Wettbewerbsanalysen
- Pricing
- Optimierung der Marketing- und Vertriebsperformance
- Training und Coaching
Mehr unter: www.bbe-automotive.de
NEUE REIFENZEITUNG:
Was ist der Grund dafür, dass es gerade diese reifenindustrienahen Organisationen sind, die sich im Autoservice ein Stück weit etablieren konnten?
Gerd Heinemann:
Gerade die genannten Ketten verfügen über eine relativ homogene Filial- oder Franchiselandschaft und fahren eine nationale, eher einheitliche Werbung. Das ermöglicht natürlich eine stringente Umsetzung der Konzepte.
NEUE REIFENZEITUNG:
Wie gesagt, seit Jahren sehen viele im Reifenmarkt Autoservice als großen Heilsbringer. Wer oder was hat warum verhindert, dass der Reifenhandel mittlerweile mehr als nur die knapp drei Prozent vom Markt hält?
Ralf Deckers:
Zum einen ist der Wettbewerb schon rein zahlenmäßig übermächtig. Gegen 4.000 Reifenfachhändler steht ein Vielfaches an Wettbewerber-Outlets mit starken Zentralen im Rücken und mit teils durchschlagender Werbung zum Pkw-Fahrer. Zum anderen fehlen bei einigen Reifenfachhändlern schlichtweg die Voraussetzungen, von der Werkstattinfrastruktur über das Personal bis hin zum erforderlichen Kapital für Investitionen. Schließlich gibt es auf Seiten der Kunden immer noch Vorbehalte, ob der Autoservice dem Reifenhändler wirklich zuzutrauen ist. Die Kunden werden hier aufgeschlossener, im Einzelfall mag das auch kein Problem darstellen. Eine weitere Barriere auf dem Weg zu höheren Marktanteilen ist dies trotzdem.
NEUE REIFENZEITUNG:
Hat sich der Teilehandel vielleicht bewusst nicht um die Entwicklung des Reifenhandels in Bezug auf Autoservice gekümmert?
Gerd Heinemann:
Die großen Kooperationen und Teilegroßhändler haben sich in den vergangenen Jahren intensiv um den Ausbau ihrer eigenen Werkstattnetze gekümmert. Den Reifenfachhandel hatten sie dabei nicht unbedingt im Fokus.
NEUE REIFENZEITUNG:
Erwarten Sie denn für die kommenden Jahre ein merkliches Wachstum des Marktanteils?
Ralf Deckers:
Was den Gesamtmarkt betrifft, glauben wir das nicht. Einzelne Betriebe oder Ketten, die bereits aktiv sind, werden sich aber sicherlich weiterentwickeln und auch in eher schlechten Jahren gute Betriebsergebnisse erzielen.
NEUE REIFENZEITUNG:
Was sind die strukturellen Grundvoraussetzungen für einen Reifenhändler, um ein erfolgreiches Autoservicegeschäft betreiben zu können?
Gerd Heinemann:
Die notwendigen Grundvoraussetzungen sind vielfältig. Vom Kfz-Meister über die Diagnosetechnik bis hin zur Qualifikation der Mechaniker. Viele Betriebe stehen heute noch bei nahezu ‚Null’.
NEUE REIFENZEITUNG:
Wie wichtig ist dabei die Anbindung an eine Organisationen?
Ralf Deckers:
Sich im Alleingang durchzukämpfen, ist wenig Erfolg versprechend. Absolut sinnvoll ist es, sich an ein etabliertes System anzuschließen. Systemzentralen vermitteln den Zugang zu technischen Informationen, sie bieten Schulungen an und sie helfen auch bei der Identifikation und Beschaffung von Teilen.
NEUE REIFENZEITUNG:
Können Reifenhändler langfristig erfolgreich sein, wenn sie sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren, also auf Reifen und Räder? Wie sollten sie dann aufgestellt sein (Vollsortimenter, viele Flottenkunden, Filialist, etc.)?
Ralf Deckers:
Man sollte jetzt nicht schwarzmalen und behaupten, dass der Handel mit dem Kerngeschäft Reifen komplett ein Auslaufmodell ist. Es wird immer Reifenspezialisten und Vollsortimenter geben. Diese müssen an nationale Flottensysteme angebunden sein und die Kompetenz rund um den Reifen maximal ausspielen. Auch die Lkw-Spezialisten werden eine gute Chance haben. Hier ist sehr viel Kompetenz gefordert, auch was Prozesse und Servicebereitschaft anbelangt. Und die Nutzfahrzeughersteller zeigen hier eher Zurückhaltung.
NEUE REIFENZEITUNG:
Offensichtlich scheuen viele Händler den Einstieg ins Autoservicegeschäft als ‚kostspieliges Experiment mit ungewissem Ausgang’? Wie hoch sind denn schätzungsweise die Anfangsinvestitionen und was verursacht permanent hohe Kosten?
Gerd Heinemann:
Der Reifenhändler muss in Personal, Schulung, Diagnosetechnik und Werkstattausrüstung investieren. Wer hier bei Null anfängt, wird mit fünfstelligen Beträgen rechnen müssen.
NEUE REIFENZEITUNG:
Wie sollte ein Reifenhändler genau vorgehen, wenn er sich im Autoservice langfristig erfolgreich etablieren will?
Gerd Heinemann:
Zunächst sollte er nicht den Alleingang versuchen. Es gilt einen professionellen Partner zu finden, der Autoservice ganzheitlich beherrscht. Auch intern müssen die Voraussetzungen geklärt werden, da ein solches Konzept von allen Mitarbeitern gelebt werden muss.
NEUE REIFENZEITUNG:
Macht eine Entscheidung aus der Not heraus Sinn, sich verstärkt um Autoservice zu bemühen? Muss nicht ein erfolgreicher Autoservice auf einem erfolgreichen Reifengeschäft aufbauen?
Gerd Heinemann:
Man darf nicht erwarten, dass das Autoservicegeschäft direkt nach dem Start explodieren wird. Das ist ein langer Weg, der im ersten Schritt über die vorhandenen Reifenkunden geht. Diese müssen an das neue Angebot herangeführt werden.
Ralf Deckers:
Und das neue Angebot sollte nur solche Services umfassen, die zum eigenen Unternehmensprofil passen und auch langfristig relevante Umsätze erbringen. Es macht jetzt keinen Sinn, aktuellen Trends hinterherzulaufen, also plötzlich in das Car-Sharing einzusteigen oder stark auf Randsortimente zu setzen, also etwa sein Herz für die Folierung zu entdecken.
NEUE REIFENZEITUNG:
Es scheint für Kfz-Werkstätten und Autohäuser deutlich einfacher zu sein, das Produkt Reifen umfassend ins Portfolio aufzunehmen, als für Reifenhändler, auch Autoservice zu machen. Warum setzen so viele Unternehmen aus der Kfz-Branche mittlerweile auch auf Reifen?
Gerd Heinemann:
Reifen ist technisch ein einfacheres Geschäft als Autoservice. Das Autoserviceangebot kann daher schneller um Reifen erweitert werden. Dazu werden ein paar wenige Maschinen und ein guter Lieferant benötigt. Die Werkstätten haben auch erkannt, dass sich mit dem Reifen Geld verdienen lässt und der Kunde fester an den Betrieb gebunden werden kann.
NEUE REIFENZEITUNG:
Müssen Teilehändler ihren Kunden im Reifenhandel andere Produkte und Dienstleistungen bieten als ihren Kunden in der Kfz-Branche? Gibt es im Reifenhandel eventuell spezielle Bedürfnisse nach Support und Know-how-Transfer?
Gerd Heinemann:
Sicherlich benötigen einige Betriebe spezielle Startpakete und eine intensive Betreuung im ersten Jahr. Wenn Teilehändler Potenzial sehen, werden sie ein solches Coaching sicherlich nicht ablehnen.
NEUE REIFENZEITUNG:
Nehmen Sie wahr, dass sich bestimmte Teilehändler dementsprechend ganz gezielt um ihre Kundschaft im Reifenhandel bemühen?
Ralf Deckers:
Von Interesse sind sicherlich die Systemzentralen der Ketten und Kooperationen. Einzelne kleinere Reifenhändler stehen aus unserer Sicht nicht im Fokus.
NEUE REIFENZEITUNG:
Viele Teilehändler führen oftmals ein ganz zentrales Ersatzteil – jedenfalls was unseren Markt betrifft – nicht in ihrem Sortiment: Reifen. Warum eigentlich nicht?
Gerd Heinemann:
Das trifft nicht ganz zu, einige sind bereits aktiv. Reifen sind bei vielen durchaus im Sortiment vorhanden, sie werden aber eher passiv beworben.
NEUE REIFENZEITUNG:
Kann man davon ausgehen, dass Teilehändler in Zukunft verstärkt auch Reifen und Räder anbieten werden? Das scheint jedenfalls die logische Konsequenz des strukturellen Wandels zu sein.
Gerd Heinemann:
Das würden wir keineswegs ausschließen. Das Geschäft ist aber auch komplex, hier müssen und werden die Reifenspezialisten mit ihren Stärken gegenhalten. ab
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