Auf (neuem) Kurs – Produkt-/Strategieinnovationen bei Michelin-Motorradreifen
In diesem Jahr bringt Michelin nicht weniger als gleich sechs neue Motorradreifenmodelle auf den Markt: „Power Super Sport“, „Pilot Power 3“, „Anakee III“ und „Anakee Wild“ sowie „Pilot Street“ und „Pilot Street Radial“. Besonders interessant sind dabei vor allem die beiden Letzteren, wenn auch vielleicht weniger im Hinblick auf ihre Produktmerkmale oder -eigenschaften, sondern vielmehr in Sachen des hinter ihnen stehenden Strategieansatzes.
Innerhalb von nur zwei Jahren bzw. seit der 2011 erfolgten Einführung des Tourensportreifens „Pilot Road 3“ hat der französische Hersteller damit seine gesamte Motorradreifenpalette erneuert. Angesichts dessen bzw. der Vielzahl der Neuheiten kann eine grobe Orientierung bezüglich des aktuellen Michelin-Motorradreifenportfolios zunächst einmal sicherlich nicht schaden. Im Gegensatz zu den beiden für den ausschließlichen („Power Slick“) bzw. einen 95-prozentigen („Power Cup“) Rennstreckeneinsatz ausgelegten und 2012 auf den Markt gekommenen Modellen aus der „Power“-Familie sind die Reifen mit dem führenden Namensbestandteil „Pilot“ in der Produktbezeichnung ausschließlich („Pilot Road 3“) oder zumindest vorzugsweise auf der normalen Straße zu Hause, so wie der „Pilot Power 3“, für den Pierre Fraisse, Direktor Entwicklung Zweirad bei Michelin, diesen Anteil mit 85 Prozent beziffert. Nach seinen Worten hat der neue Reifen nichts mit seinem Vorgänger zu tun, sondern wurde bezüglich seiner sämtlichen Konstruktionsdetails geändert.
Die Grenze zwischen den extrem sportlichen und den eher straßentauglichen Profilen markiert bei alldem der nun ebenfalls neu vorgestellte „Power Super Sport“: Er soll beides in einem vereinen, ist also zu 50 Prozent für den Einsatz auf der Rennstrecke und zu 50 Prozent für die Straße ausgelegt. Und wer jetzt noch nicht verwirrt ist, der muss noch den „Anakee III“ und den „Anakee Wild“ in diesem Schema unterbringen: Beide Profile sind zwar Bereifungsmöglichkeiten für Enduros, aber die dritte „Anakee“-Generation eher für solche Maschinen, die allenfalls gelegentlich asphaltierte Pisten verlassen, während die Ausführung mit dem Namenszusatz „Wild“ allein schon anhand der deutlich gröberen Profilierung den mit 50 Prozent angegebenen höheren Einsatzanteil abseits befestigter Wege erkennen lässt. Komplettiert wird das Neuheitensextett noch durch den „Pilot Street“ und den „Pilot Street Radial“, die laut Michelin für Maschinen bis zu einem Hubraum von 250 oder 300 Kubikzentimetern gedacht sind.
All dies hat der französische Konzern unter dem Motto „La Route“ (der Weg) der internationalen Fachpresse vorgestellt, wobei Michelin nach den Worten von Hubert Hannezo, der seit rund neun Jahren weltweit für Zweiradreifen im Unternehmen verantwortlich zeichnet, zugleich damit unter Beweis stellen will, dass man die „Marke ist, welche die Ansprüche der Fahrer versteht“. Und dies bezogen auf alle Segmente des (Motorradreifen-)Marktes, wie Fraisse ergänzt. Und so verwundert nicht, dass Michelin nun auch im Zweiradreifensegment von seinem „Total-Performance“-Konzept spricht und in diesem Fall Fahrspaß, Sicherheit und Laufleistung bei seinen Motorradreifen möglichst so unter einen Hut bringen will, dass Vorteile bezüglich eines Kriteriums nicht durch gravierende Nachteile bezüglich eines anderen Parameters erkauft werden. Denn auch wenn – wie Hannezo sagt – dem Motorradreifengeschäft innerhalb des Konzerns nur gut 1.000 Mitarbeiter zuzurechnen seien und es mit Blick auf das Gesamtunternehmen lediglich für einen vergleichsweise kleinen Anteil stehe, so leiste es dennoch einen „starken Beitrag zum Markenimage“.
Insofern verständlich, dass der Hersteller selbst bei solch sportlichen Gummis wie dem „Power Super Sport“ oder dem „Pilot Power 3“ immer auch darauf verweist, dass bei deren Entwicklung trotz des sicherlich im Vordergrund stehenden Fahrspaßes die Themen Laufleistung und Sicherheit nicht aus den Augen gelassen wurden. Einen Anteil daran hat bei beiden Modellen die weiterentwickelte Mehrkomponentenlaufflächenmischungstechnologie am Hinterradreifen: Nach wie vor ist dabei der Schulterbereich durch eine im Vergleich zur Laufflächenmitte weichere Mischung gekennzeichnet, doch Merkmal der mit „2CT+“ bezeichneten Technologie ist, dass die härtere Mischung nun auch bis unterhalb der weichen reicht. Damit verbindet Michelin im Vergleich zum bisherigen und an den Vorderradreifen unverändert zum Einsatz kommenden „2CT“-Ansatz eine höhere Stabilität des Reifens. Ansonsten ist die Aufgabenteilung wie gehabt: Die weichere ist für ordentlich Haftung in Kurven zuständig, während eine härtere bzw. widerstandsfähigere für die Übertragung der Antriebs- und Bremskräfte verantwortlich zeichnet und zugleich die Laufleistung erhöhen helfen soll.
Wie Christophe Duc, verantwortlich in Sachen Marketing Michelin-Motorradreifen weltweit, für den „Power Super Sport“ noch hinzufügt, wurde bei diesem Modell zudem die Karkasse rund zwölf Prozent steifer als beim „Pilot Power 3“ ausgelegt, damit für schnelle Runden auf der Rennstrecke der Luftdruck von 2,1 bar auf 1,7 bar (ohne Reifenwärmer) bzw. sogar 1,5 bar (mit Reifenwärmer) abgesenkt werden kann. Damit erhöhe sich die Bodenaufstandsfläche beträchtlich, was letztendlich für mehr Stabilität beim Herausbeschleunigen aus Kurven sorge. Darüber hinaus präsentiert der Reifenhersteller noch Ergebnisse von bei Dekra in Auftrag gegebenen Vergleichsmessungen, wonach der Reifen trotz gleicher Rundenzeiten wie mit den Wettbewerbsprodukten Pirelli „Diablo Rosso Corsa“ und Metzeler „Racetec Interact K3“ eine rund doppelt so hohe Laufleistung wie diese biete.
Ein 20-prozentiges Laufleistungsplus gegenüber seinem Vorgänger verspricht Michelin übrigens für den neuen „Pilot Power 3“, wozu demnach ebenfalls mehrere Maßnahmen beigetragen haben wie zu den erzielten Verbesserungen in Sachen Handling, Kurvenstabilität oder Nassbremsen. Abgesehen von „2CT+“ am Hinterradreifen mit einem höheren Silicaanteil der Mischung in der Laufflächenmitte und mehr Ruß zu den Schultern hin sind hier beispielsweise eine veränderte Reifenkontur und ein neues Profildesign zu nennen. Letzteres zeichnet sich nach den Worten von Produktentwickler Tommy Maussin dadurch aus, dass der Profilanteil ausgehend von der Laufflächenmitte mit zunehmender Schräglage zunächst auf bis zu 15 Prozent bei 30 Grad anwächst, um dann bei noch größeren Schräglagen in Richtung Slick zu tendieren. Im Mittel beziffert Maussin das Positiv-Negativ-Verhältnis des „Pilot-Power-3“-Profils mit zehn Prozent – beim „Power Super Sport“ sind es demgegenüber 7,5 Prozent insgesamt und zwölf Prozent bei 30 Grad Schräglage.
Hintergrund dessen ist natürlich, dass es bei mittleren Schräglagen und nassen Fahrbahnen vor allem darauf ankommt, Wasser aus der Bodenaufstandsfläche zu verdrängen und so für ein Mehr an Sicherheit zu sorgen. Apropos Nässe: Wie wiederum unter Berufung auf Dekra-Messungen berichtet wird, soll der neue „Pilot Power 3“ die Konkurrenz – Bridgestones „Battlax Hypersport S20“, Pirellis „Diablo Rosso 2“, Dunlops „SportSmart“ – beim Nassbremsen aus 50 km/h bis hinunter auf null mit einem zwischen knapp zwei und beinahe drei Meter kürzeren Bremsweg in die Schranken verwiesen haben.
Da ist es nur konsequent, dass Michelin auch den „Anakee III“ mit der Konkurrenz sich hat messen lassen – diesmal allerdings wieder in Bezug auf die Laufleistung. Und in Form von Bridgestones „Battle Wing“, Dunlops „Trail Max TR91“ und Metzelers „Tourance EXP“ könne er die in dieser Disziplin immerhin zehn bis 25 Prozent hinter sich lassen, erläutert Jean-Francois Roziere, der bei Michelin für die Entwicklung der Trail-Produktlinien verantwortlich zeichnet. „Hauptziel bei der Entwicklung des Reifens war allerdings das Erfüllen der Erstausrüstungsanforderungen von BMW für die R 1200 GS. Und das heißt in erster Linie Stabilität“, erklärt sein fürs Marketing von Trail-Reifen zuständige Kollege Stéphane Brihat. Mission geglückt kann man da übrigens nur sagen, denn der „Anakee III“ wird nach Angaben des Reifenherstellers bei 80 Prozent aller in diesem Jahr gefertigten Maschinen dieses Typs werksseitig montiert.
Gleichwohl warte der Reifen natürlich wie alle anderen auch mit der Michelin-DNA auf, womit einmal mehr Fahrspaß, Sicherheit und Laufleistung bzw. „Total Performance“ gemeint sind. Doch die Motorradreifenpräsentation hat den Blick abgesehen vom „Anakee Wild“, der ebenfalls noch in diesem Jahr auf den Markt kommen soll, außerdem noch auf zwei weitere Produkte und vor allem einen interessanten Strategieansatz gelenkt: die beiden Modelle „Pilot Street“ bzw. „Pilot Street Radial“. Sie sind für Maschinen mit 250/300 Kubikzentimeter Hubraum gedacht – der eine in Diagonal-, der andere in Radialbauweise. Das ist an sich nicht sonderlich aufregend oder spannend, doch dafür ist es das dahinter stehende Konzept schon ein wenig mehr. Denn damit zielt man in erster Linie auf die sogenannten „Emerging Markets“ ab, in denen sich die Motorisierung erst noch entwickelt. Und dabei spielen entsprechende Maschinen natürlich eine Rolle, zumal auf sie kommend vom Fahrrad über Mopeds als Nächstes umgestiegen wird, bevor dann vielleicht noch hubraumstärkere Maschinen oder irgendwann einmal Autos an der Reihe sind.
Eine solche Entwicklung beobachtet Michelin laut Hubert Hannezo etwa in Brasilien, wo sich die Neuzulassungen im fraglichen 250er-/300er-Segment während der vergangenen zehn Jahre verdreifacht haben sollen. Aber auch asiatische Märkte beispielsweise in Indonesien oder China zählt Hannezo, der selbst nicht Motorrad fährt, in diese Kategorie. Insofern bergen solche „neuen Märkte“ für ihn so etwas wie die „Hoffnung auf die Zukunft der Branche“, wie er es gegenüber dieser Fachzeitschrift formuliert. Selbst wenn man sich in dem anvisierten Segment gerade in den asiatischen Märkten mit den heimischen Herstellern wird „herumschlagen“ müssen, so vertraut Hannezo hier doch einerseits auf die Strahlkraft einer Weltmarke wie Michelin sowie andererseits darauf, dass viele der dortigen Anbieter „noch gar nicht wissen, welche Vorteile radiale Motorradreifen bieten“. Und dass die Nachfrage nach ihnen im Zuge einer verbesserten Verkehrsinfrastruktur in diesen Ländern steigen wird, ist für ihn nur eine Frage der Zeit. „Und vielleicht in zehn Jahren geht das Ganze dann mit den 600er-Maschinen weiter“, glaubt er.
Im Gegenzug erwartet er von den etablierten Motorradreifenmärkten beispielsweise in Europa und damit auch Deutschland mittelfristig offenbar kaum größere Wachstumsimpulse. Im Gegenteil: Die Motorradfahrer werden immer älter, und die junge Generation scheint in der Mehrzahl anderen Dingen den Vorzug zu geben – Handy/Smartphone und Spielkonsole haben offensichtlich einen höheren Anziehungsfaktor als die ohnehin als gefährlich stigmatisierten motorisierten Zweiräder. Dass der Handel im März im deutschen Ersatzgeschäft – wie Romain Demant, Leiter Marketing Motorradreifenersatzgeschäft Deutschland, Österreich, Schweiz, im Gespräch mit der NEUE REIFENZEITUNG durchblicken lässt – „beinahe null“ Motorradreifen im Sell-out abgesetzt hat, ist dabei allerdings wohl weniger auf eine solche längerfristige Entwicklung zurückzuführen als vielmehr auf die bis dato eher bescheidenen Witterungsverhältnisse. Was Michelin mit dem „Pilot Street“ bzw. „Pilot Street Radial“ vorhat, entbehrt trotzdem nicht einer gewissen Logik. christian.marx@reifenpresse.de
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