Warum? Warum stoppt Marangoni die Neureifenfertigung? Und warum fing man sie an?

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Die italienische Marangoni-Gruppe hat es sich nicht gerade leicht gemacht, die Entscheidung zur Zukunft der Neureifenfabrik in Anagni bei Rom zu treffen, wie auch, sind davon doch rund 400 Mitarbeiter vor Ort und weitere in der Vertriebsorganisation betroffen. Doch nachdem das Unternehmen nach mehreren Jahren mit Millionenverlusten und null Aussichten auf Besserung im September nun endlich den Schlussstrich unter das knapp ein Vierteljahrhundert währende Experiment „Neureifenfertigung“ gezogen hat, wirken die Verantwortlichen bei Marangoni trotz der Schwere der Entscheidung erleichtert und sind zuversichtlich, sich in Zukunft wieder ganz und gar um das Kerngeschäft der Runderneuerung kümmern zu können und hier strategische Investitionen zu bündeln. Im Gespräch mit der NEUE REIFENZEITUNG erläutert Marangoni-CEO Massimo De Alessandri, wie es zu der Entscheidung kam, wo in der Vergangenheit Fehler gemacht wurden, warum der Ausflug in die Neureifenfertigung zwar nachvollziehbar, aber im Nachhinein vielleicht alles andere als ratsam war und wie es jetzt weiter geht mit der Marangoni Group.

„Hinterher ist man immer schlauer!“ – Diese Redensart ist so zutreffend wie sie auch niemals dabei hilft, unternehmerische Entscheidungen zu erklären. Nahezu ein Vierteljahrhundert, nachdem die (damals) von Mario Marangoni geleitete Marangoni-Gruppe das unter staatlicher Verwaltung stehende, weil sich in arger wirtschaftlicher Not befindende Ceat-Werk in Anagni bei Rom gekauft hat, scheinen die Dinge klar zu liegen. Die Neureifenproduktion hat spätestens seit 2006/2007 jährliche Millionenverluste zum Ergebnis der ansonsten gesunden Unternehmensgruppe beigesteuert und galt somit als ‚Klotz am Bein’, der die Entwicklungsfähigkeit der gesamten Gruppe gefährden konnte. Massimo De Alessandri, CEO der privaten Marangoni-Gruppe, will zwar nicht die Höhe der jährlichen Verluste in der Zeitung lesen, bestätigt aber eine Summe, für die man einige neue Werke zur Produktion von runderneuerten Reifen hätte bauen können – und noch einiges mehr. Kenner des Unternehmens hatten gegenüber der NEUE REIFENZEITUNG sogar spekuliert, die jährlichen Verluste seien sogar noch deutlich höher gewesen, wie Marangoni dies gegenüber dieser Zeitschrift bestätigen mochte, und seien auch über einen längeren Zeitraum angefallen.

Wie dem auch sei: Verluste im zweistelligen Millionenbereich können für ein Familienunternehmen wie Marangoni gefährlich werden, ist man doch ansonsten in einem eher margenschwachen und von starken Schwankungen betroffenen Markt unterwegs. Selbst wenn die Verluste nicht lebensbedrohlich werden sollten, schmerzlich sind sie allemal und werfen immer wieder die Frage nach dem Warum auf. Warum das Ganze?

Als Anfang der 1980er Jahre das drittgrößte italienische Kautschukunternehmen Ceat Spa in wirtschaftliche Schwierigkeiten geriet, stand das Unternehmen vor seiner Zerschlagung. Das Ceat-Reifenwerk in Turin ging samt F&E-Einrichtung an Marktführer Pirelli; das zweite 1961 in Betrieb genommene Reifenwerk in Anagni hingegen zog zunächst keinen Kaufinteressenten an und kam somit unter staatliche Kontrolle. Die Marangoni-Gruppe war bereits seit 1986 Ceat-Kunde und ließ dort im Rahmen eines Offtake-Agreements Marangoni-Pkw-Neureifen fertigen.

Wie sich Massimo De Alessandri jetzt im Gespräch mit der NEUE REIFENZEITUNG erinnert, habe die Marangoni-Gruppe in den 1980er und frühen 1990er Jahren eine Zeit großer Veränderungen durchlebt. Geprägt vom allgemeinen Unternehmenswachstum habe Mario Marangoni gemeinsam mit seinen Brüdern die Weichen für weiteres Wachstum gestellt, wozu Anfang 1988 der Börsengang und 1990 auch die Übernahme von Ellerbrock in Deutschland gehörte – unter anderem. Es lag damals auf der Hand, so De Alessandri, das Wachstum des Unternehmens voranzutreiben, verdienten in den späten 1980er Jahren im Westen Europas doch viele Neureifenhersteller reichlich Geld mit ihrem Geschäft; das Ende des Kalten Krieges und die Auswirkungen auf das Wettbewerbsumfeld waren zu dem Zeitpunkt einfach noch nicht abzusehen.

Jedes Unternehmen will wachsen, muss wachsen, will es im Wettbewerb nicht zurückfallen, erinnert CEO De Alessandri an altbekannte Weisheiten. Folglich lag es auf der Hand, die Ceat-Reifenfabrik für umgerechnet unter zehn Millionen Euro zu kaufen, erhielt das Unternehmen doch für die beabsichtigten Modernisierungen der Fabrik Zuschüsse und andere Förderungen vom italienischen Staat, der die Arbeitsplätze in Anagni – einem besonderen Fördergebiet damals – sichern wollte, so berichtete die NEUE REIFENZEITUNG bereits 1990.

Und am Ende war die Übernahme der Ceat-Reifenfabrik auch ein verlockendes Angebot, eine günstige Gelegenheit sozusagen, für eine renommierte und gut vernetzte italienische Unternehmerfamilie aus Rovereto, die auf Wachstum sann und zu den Großen der Branche aufschließen wollte. Ebenfalls erwähnenswert ist dabei natürlich die Entwicklung, die die Pkw-Reifenrunderneuerung in den Jahren damals wie auch danach durchlaufen musste. Es war absehbar, dass auch die eigene Runderneuerung bei Marangoni von der rückläufigen Bedeutung runderneuerter Pkw-Reifen immer stärker betroffen sein würde. Die eigene Runderneuerungsmarke „Marix“ wurde übrigens erst in den 1990er Jahren eingeführt. Diese Rückgänge galt es zu kompensieren.

Die Wachstumsgeschichte des Unternehmens hätte verschiedenen Beobachtern zufolge durchaus ein Erfolg werden können. Dass die Geschichte dabei aber kein gutes Ende nahm, hat vielerlei Gründe. In den öffentlichen Verlautbarungen der Marangoni-Gruppe von Anfang September machte das Unternehmen zuallererst Marktentwicklungen für die jetzt stattfindende Schließung bzw. den Verkauf verantwortlich – sollte sich denn ein Käufer finden.

Mit Sicherheit tragen diese Gründe allesamt schwer. Etwa, dass Marangoni unter den Krisen auf den europäischen Reifenmärkten immer besonders gelitten hat. Marangoni- genau wie zwischenzeitig auch Stunner-Reifen (deren Produktion wurde bereits 2005 eingestellt) erreichten preislich und als Marke kaum ein Marktsegment, das zumindest teilweise unangreifbar machte gegen die in den 1990er Jahren aufkommende Konkurrenz aus Fernost. Der Wettbewerb aus Asien und Osteuropa war unabwendbar und immens und zehrte an den Margen, so De Alessandri, der dem Neureifengeschäft unter der Geschäftseinheit „Marangoni Tyre“ für die ersten 15 Jahre seines Bestehens eine durchaus gute und gesunde Zeit bescheinigt. „Die Unternehmung lief gut, war profitabel und ohne nennenswerte Probleme“, so der Marangoni-CEO gegenüber der NEUE REIFENZEITUNG. Heute wird aber nahezu jeder dritte in Europa vermarktete Pkw-Reifen irgendwo in Asien oder von asiatischen Herstellern gefertigt.

Als dann 2007/2008 der Markt von einer ersten großen Krise heimgesucht wurde, wurde Marangoni hart getroffen. Nur einige Jahre später 2011/2012 kam es dann sogar noch schlimmer. Allein auf ihrem Heimatmarkt Italien musste die Marangoni-Gruppe einen Rückgang des Marktvolumens von immerhin 20 Prozent verdauen; in diesem Jahr waren die Rückgänge sogar noch schlimmer.

Diese Probleme machen ein Unternehmen der Realwirtschaft immer dann besonders angreifbar, wenn es nicht so ohne Weiteres auf Low-Cost-Produktionsstätten ausweichen oder über Synergien einige der Belastungen abfangen kann. Dies, so erzählt Massimo De Alessandri, sei vermutlich eines der größten Probleme für das Unternehmen gewesen: Während nach dem Mauerfall ab Anfang der 1990er Jahre viele Hersteller Produktionsstätten in Osteuropa übernommen bzw. auf der grünen Wiese aufgebaut haben, war man bei Marangoni niemals darüber hinausgekommen, eine entsprechende Erweiterung der eigenen Produktionskapazitäten in einem Niedriglohnstandort voranzutreiben.

Natürlich habe man gesucht, bescheinigt De Alessandri. Aber vielleicht, so mag man es heute sehen, hat die Marangoni-Geschäftsleitung damals schon den Schritt gescheut, sich weiter als Neureifenhersteller am Markt zu positionieren. Während das Unternehmen spätestens seit der Ellerbrock-Übernahme zur Spitze der europäischen Runderneuerung mit dem direkten Zugriff auf viel hochwertige Produktionstechnologie (etwa über die 1966 gegründete Marangoni Meccanica oder die immer stärker anlaufende Ringtread-Produktion) hatte, lag die Entwicklung der Neureifenfabrik und der Neureifenmärkte irgendwo im Ungefähren.

In der Marangoni-Neureifenfabrik in Anagni bei Rom wurden zuletzt nur noch rund zwei Millionen Reifen pro Jahr gefertigt – zu wenig, um profitabel zu sein

In der Marangoni-Neureifenfabrik in Anagni bei Rom wurden zuletzt nur noch rund zwei Millionen Reifen pro Jahr gefertigt – zu wenig, um profitabel zu sein

Sicher, Marangoni hat eigenen Aussagen zufolge in den 23 Jahren seit der Übernahme rund 150 Millionen Euro in die Anagni-Fabrik investiert. Dies ist aber kaum mehr als die üblichen fünf Prozent des Umsatzes, die Unternehmen landläufig in ihre Fabriken und die Entwicklung neuer Produkte investieren. 150 Millionen Euro – das reichte, um den Bestand der Fabrik zu gewährleisten. Um damit in Bezug auf die Qualität der Produkte oder der Effizienz der Produktionsstätte voranzukommen, hat es vielen Beobachtern zufolge eben nicht gereicht.

Wie auch der heutige CEO des Unternehmens bescheinigt, habe die maximale Produktionskapazität in Anagni nie bei mehr als 3,5 Millionen Reifen pro Jahr gelegen. Hinzu kommen noch einmal 300.000 Einheiten pro Jahr, die Marangoni seit 2000 am Standort in Rovereto in einer modularen Produktionsplattform namens MTM fertigen kann; diese war ausschließlich auf Reifen in 16 und 17 Zoll ausgelegt. Laut De Alessandri könne ein Unternehmen heute rund die Hälfte der in Westeuropa gebrauchten HP-Reifengrößen auch in Westeuropa produzieren, zumindest in einer wenigstens zu zwei Drittel ausgelasteten Fabrik, sodass ein Geschäft daraus werde. Die sogenannten Brot-und-Butter-Reifen hingegen sollten dann idealerweise aus einem Werk in einem Niedriglohnland stammen. Ein solches Werk aber fehlte dem Unternehmen aus Italien, und es sei ihm eben in den 1990er Jahren nicht gelungen, diesen offensichtlichen Mangel abzustellen, auch wenn man natürlich nach einer Produktionsstätte in Osteuropa gesucht habe. den Schritt, gleich eine komplett neue, eigene Fabrik in Osteuropa zu bauen, wollte man indes nicht wagen.

Neben der fehlenden Produktionsstätte an einem Standort mit einer günstigeren Kostenstruktur habe es aber noch andere „Schwächen“ gegeben. Einer: das Fehlen von Skaleneffekten. Üblicherweise kann eine halbwegs moderne Pkw-Reifenfabrik ab einer Kapazität von fünf bis 5,5 Millionen Reifen im Jahr profitabel betrieben werden. Ist die Fabrik kleiner, geht dies nur noch bedingt – etwa wenn sich der Staat an den Kosten beteiligt oder andere Synergien erzielt werden können. Nun haben Vertreter des Unternehmens stets die Möglichkeit zu Synergien zwischen den verschiedenen Geschäftsfeldern betont, etwa beim Einkauf oder in der Entwicklung. Viele Beobachter sahen darin mehr Wunschdenken als Realität. Tatsache ist aber, dass die Komplexität der notwendigen Reifenspezifikationen in den vergangenen Jahren dramatisch zugenommen hat. Dies hat eine Massenproduktion in Anagni noch unmöglicher gemacht als dies durch die geringe Kapazität vor Ort eh schon nahezu unmöglich gewesen wäre.

Ja, hätte man doch … ja, hätte man doch … Wie gesagt: Im Nachhinein ist es immer leicht, mit dem Finger aufzuzeigen, woran es gelegen hat, dass das Ende der Neureifenfertigung bei Marangoni eben so gekommen ist, wie es gekommen ist. Nach der Sommerpause hat das Unternehmen die Produktion am Standort Anagni nicht wieder angefahren. Zuletzt, so ist aus dem Umfeld des Unternehmens zu hören, wurden dort gerade einmal noch zwei Millionen Marangoni-Reifen gefertigt, von denen rund die Hälfte in Italien vermarktet wurde – ein nicht unerheblicher Teil übrigens über das Marangoni-eigene Retailnetzwerk „Pneusmarket“ mit 60 Niederlassungen in Norditalien –, weitere 20 bis 25 Prozent wurden jeweils in deutschland und Großbritannien verkauft, der Rest in anderen europäischen Ländern.

Was nun aus den 400 Mitarbeitern in Anagni wird? Darüber kann Massimo De Alessandri nur spekulieren. Fakt ist, derzeit sind diese nahezu ausnahmslos in Kurzarbeit, werden also vom Staat finanziert. Dies könnte noch bis zum Ende des kommenden Jahres die schlimmsten ökonomischen Härten für die betroffenen Arbeiter abfedern. Gerade für die Mitarbeiter im Werk empfinde De Alessandri unterdessen Mitgefühl, sehe man sie doch als Teil der Marangoni-Familie. Natürlich: „Es gibt niemals den richtigen Moment für eine solche Entscheidung“, betont er weiter. Auch der Neureifenvertrieb in Deutschland ist natürlich von der jetzt getroffenen Entscheidung betroffen.

Ein Management muss sich natürlich um das gesamte Unternehmen kümmern, und dem wird von allen Beobachtern eben eine gute Substanz und ein Geschäftsmodell konstatiert, das durchaus zukunftsfähig ist. Nur die Neureifenfertigung eben, dort musste man die vergangenen Jahre ein Sterben auf Raten beobachten, so einer aus dem engeren Umfeld des Unternehmens gegenüber dieser Zeitschrift, einer, der sich darüber freut, dass die Neureifenfertigung nun eben nicht mehr eine Belastung für das Runderneuerungsgeschäft der Marangoni-Gruppe darstellt, sondern hier neue Möglichkeiten schafft, in zukunftsfähige Produkte und Dienstleistungen zu investieren. Hätte man dies bereits früher haben können? Vermutlich ja. Aber so ist es eben.

In der Zwischenzeit versucht man bei Marangoni aber, die Produktionsstätte zu verkaufen. Wie der Marangoni-CEO gegenüber der NEUE REIFENZEITUNG betont, sei man in Gesprächen mit Interessenten, die allesamt aus Asien stammten und von daher bereits über notwendige Produktionskapazitäten an Niedriglohnstandorten verfügten und sich somit eine Reifenfabrik in Europa ‚leisten’ könnten. Übrigens: Ebenfalls zum Verkauf steht die modulare Produktionsplattform in Rovereto, deren Equipment verlegt werden könnte. Wie diese Geschichte ausgeht, ist schwer abzuschätzen. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Eine Meinung dazu, ob ein Verkauf tatsächlich stattfinden kann, mochte Massimo De Alessandri nicht offiziell äußern.

In Zukunft will die Marangoni-Gruppe ihre (freigewordenen) Ressourcen noch mehr in das Kerngeschäft mit der Runderneuerung investieren, soviel ist klar und kommt nicht unerwartet. Bereits ab 2007/2008 hat das Unternehmen in diesem Geschäftsfeld ganz gezielt Investitionsschwerpunkte gesetzt, etwa mit der Errichtung neuer Produktionsstätten in Nord- und Südamerika; aber auch die Vollgummireifenproduktion in Sri Lanka und die Entwicklung des Maschinengeschäftes (macht heute rund 25 Millionen Euro Umsatz pro Jahr) gehören dazu. Auch in Zukunft will das Unternehmen weiterhin neue Marangoni-Lkw-Reifen anbieten, die im Rahmen eines Offtake-Agreements durch einen europäischen Produzenten zugeliefert werden. arno.borchers@reifenpresse.de

 

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