Es werde Label – Wer, wie, was rund um die EU-Reifenkennzeichnung
Die EU sprach, es werde Reifenlabel – und es ward Reifenlabel: So oder so ähnlich wird sich die Branche später einmal vielleicht an 2012 erinnern. Denn ab dem 1. November dieses Jahres müssen nach dem 1. Juli gefertigte Reifen, die innerhalb der Europäischen Union an die Frau oder den Mann gebracht werden sollen, gemäß der sogenannten Reifenkennzeichnungsverordnung 1222/2009 hinsichtlich der drei Kriterien Rollwiderstand, Nassbremsen und Abrollgeräusch klassifiziert werden. Grund genug für die NEUE REIFENZEITUNG, sich im Vorfeld der „heißen Phase“ zum Jahresende hin intensiv mit der Thematik bzw. dem Wer, Wie und Was rund um das Labeling auseinanderzusetzen.
Gerade einmal knapp sechs Jahre ist es her, dass der NEUE REIFENZEITUNG erstmalig so etwas wie eine mögliche Kategorisierung von Reifen im Hinblick auf ihren Rollwiderstandsbeiwert zu Ohren gekommen ist. Bei der zweiten Ausgabe der IQPC-Tagung „Intelligent Tire Technology“ im Herbst 2006 referierte ein Vertreter des Umweltbundesamtes (UBA) darüber, welche Rolle die schwarzen Rundlinge im Zusammenhang mit dem Schutz der Umwelt spielen können. Neben solchen Dingen wie den von polyzyklisch aromatischen Kohlenwasserstoffen im Gummi potenziell ausgehenden Gefahren, die dank REACH ja mittlerweile gebannt sein sollten, kam dabei auch zur Sprache, wie über einen geringeren Reifenrollwiderstand Kraftstoff gespart und zugleich damit die vom Straßenverkehr ausgehenden Kohlendioxidemissionen reduziert werden können. Dies vor dem Hintergrund, dass die Europäische Union sich zum Ziel gesetzt hat, den Ausstoß dieses für den allgemein befürchteten Klimawandel verantwortlich gemachten Gases wo und wie immer es geht zu reduzieren.
Erstkontakt
Nur einen Vortrag später bei derselben Tagung warf ein Michelin-Redner dann ein Chart an die Wand, auf dem die Buchstaben von „A“ bis „G“ entsprechend einer siebenstufigen Einteilung von Reifen in Bezug auf ihren Rollwiderstandsbeiwert zu sehen waren. „Reifen könnten in Segmente eingestuft werden, um physikalische Einflüsse zu berücksichtigen und die Bewertung relevanter zu gestalten“, stand da zudem erläuternd zu lesen. Zu diesem Zeitpunkt dürfte so mancher all dies eher noch als eine geschickte Marketingidee des französischen Herstellers abgetan haben. Denn bekanntlich hat Michelin schon früher als andere Unternehmen aus der Reifenindustrie an seinem „grünen“ Image gefeilt: Nicht nur allein über das Thema Langlebigkeit seiner Produkte, sondern noch verstärkt spätestens nach der Markteinführung von Silicareifen Anfang der Neunzigerjahre. Diesen Meilenstein kann man im Rückblick wohl guten Gewissens dafür verantwortlich machen, dass heutzutage in der Branche mehr und mehr von „grünen“ Reifen die Rede ist bzw. zwischenzeitlich kaum noch ein Hersteller weltweit nicht davon spricht, seine Produkte seien selbstverständlich rollwiderstandsoptimiert.
Vermutlich ist es auch der Lobbyarbeit der Franzosen zu verdanken, dass der EU bei ihren Bemühungen in Sachen Reduzierung der vom Straßenverkehr ausgehenden Kohlendioxidemissionen während der folgenden zwei Jahre verstärkt die Rolle der Fahrzeugbereifung bewusst wurde. Vorrangig wollte die europäische Politik zwar die Automobilhersteller in die Pflicht nehmen und ihnen ab 2012 beim Kohlendioxidausstoß eine Obergrenze von 120 Gramm pro gefahrenem Kilometer im Durchschnitt für ihre Neuwagenflotten vorgeben. Doch schließlich wurden nach einem Kompromissvorschlag daraus Ende 2008 dann 130 g/km und umzusetzen durch motortechnische Maßnahmen am Fahrzeug. Allerdings sollten weitere zehn Gramm Kohlendioxid pro Kilometer durch andere technische Verbesserungen erzielt werden, wobei an dieser Stelle dann neben der Verwendung etwa von Biokraftstoffen auch „bessere Reifen“ ins Spiel kamen. Parallel dazu war in den politischen Gremien und der Branche schon über die Einführung eines Reifenlabels analog zur Energieeffizienzkennzeichnung von Elektrohausartikeln wie Kühlschränken, Waschmaschinen und dergleichen diskutiert worden.
Kein Scherz!
Selbst wenn der alljährliche Aprilscherz auf den Internetseiten der NEUE REIFENZEITUNG schon 2007 die kurzfristige Einführung einer Kennzeichnungspflicht für den Reifenrollwiderstand ankündigte, so wurde die tatsächliche EU-Verordnung über die „Kennzeichnung von Reifen in Bezug auf die Kraftstoffeffizienz und andere wesentliche Parameter“ erst im November 2009 vom Europäischen Parlament abgenickt. Das lässt sich an deren Nummer 1222/2009 ebenso unschwer ablesen wie der Umstand, dass es beim sogenannten Reifenlabeling eben nicht nur um die Energieeffizienz bzw. den Rollwiderstand geht, sondern dabei noch andere für wesentlich gehaltene Produkteigenschaften – namentlich das Abrollgeräusch und das Nassbremsverhalten – Eingang finden. Und genau dies hatte zuvor Stoff für mancherlei Diskussion geliefert.
Denn dass bei der Reifenentwicklung grundsätzlich ein Zielkonflikt zwischen guten Nassbremseigenschaften und einem niedrigen Rollwiderstand besteht, wusste etwa Continental immer wieder zu betonen, während auf der anderen Seite beispielsweise Michelin den Standpunkt vertrat, mit der richtigen Technologie lasse sich sehr wohl beides unter einen Hut bringen. Auf diese Linie sind mittlerweile mehr oder weniger alle Reifenhersteller grundsätzlich eingeschwenkt. Die vorherigen „Auseinandersetzungen“ bzw. kleinen Scharmützel der beiden Lager im Vorfeld haben letztendlich jedoch dazu geführt, dass auf dem Reifenlabel nun eben nicht nur Einstufungen in Bezug auf die Umwelteigenschaften von Reifen (Energieeffizienz/Rollwiderstand, Abrollgeräusch) zu finden sind, sondern mit der Bewertung des Nassbremspotenzials auch ein sicherheitsrelevantes Kriterium. Doch was genau verbirgt sich nun eigentlich ganz konkret hinter den einzelnen Angaben auf dem Reifenlabel?
Rollwiderstand
Auf dem Weg zur „Ökologisierung des Verkehrs“ bzw. zur Erreichung des Ziels, durch gezielte Maßnahmen den Gesamtenergieverbrauch (und damit auch der Kohlendioxidemissionen) in der EU bis 2020 um 20 Prozent zu senken, sollen energieeffizientere Reifen einen Beitrag leisten. Und weil aufgrund ihres Rollwiderstandes etwa 20 bis 30 Prozent des Kraftstoffverbrauches von Fahrzeugen auf die Reifen entfallen, werden sie zukünftig in unterschiedliche Energieeffizienzklassen basierend auf ihrem Rollwiderstandsbeiwert eingestuft. Es gibt sieben Klassen angefangen bei „A“ für die energieeffizientesten Modelle bzw. diejenigen Reifen mit dem im Vergleich geringsten Rollwiderstand bis hin zu „G“-eingestuften Reifen am anderen Ende der Skala, die in puncto Energieeffizienz am schlechtesten abschneiden. Die Einordnung in die jeweiligen Klassen erfolgt in der durch einen Reifen samt Tankstellensymbol charakterisierten Kategorie aufgrund von Rollenprüfstandsmessungen, die von den Herstellern selbst vorgenommen werden.
Näherungsweise unterscheiden sich die Rollwiderstands-/Energieeffizienzklassen in Bezug auf den Rollwiderstandsbeiwert um etwa ein Kilogramm je Tonne. Die genauen Wertebereiche variieren jedoch für die unterschiedlichen Fahrzeugarten (siehe Tabelle), und je nach Gattung gibt es auch Klassen, die per Definition nicht belegt sind: „D“ bei Reifen für Pkw (Reifenklasse C1) und Llkw (Reifenklasse C2) sowie „E“ bei Reifen für Lkw (Reifenklasse C3). Effektiv bleiben dadurch eigentlich jeweils nur sechs Klassen übrig. Von der Kennzeichnung erhofft sich die Politik, dass Reifenkäufer dank des Labels zukünftig verstärkt Wert auf einen geringeren Rollwiderstand legen werden, deswegen der diesbezügliche Wettbewerb zwischen den verschiedenen Anbietern beflügelt wird und somit letztlich vermehrt Produkte auf den Markt kommen, die „zur Energieeffizienz im Straßenverkehr und damit zur Verringerung der Schadstoffemissionen beitragen“.
Nassbremsen
Bis dahin unterscheidet sich das Reifenlabel zunächst einmal noch nicht allzu sehr von der Energieeffizienzkennzeichnung der sogenannten „weißen Ware“ (Kühlschränke, Waschmaschinen etc.), an deren Erscheinungsbild man sich schon aus Gründen der Wiedererkennung durch die Verbraucher orientiert hat. „Reifen sind keine Waschmaschinen“ – diese oder ähnliche Formulierungen waren aber schon im Zuge der Diskussionen um das Reifenlabeling immer wieder zu hören, und was sich so platt dahergesagt anhört, findet sich dann auch mehr oder weniger so im Text zur Verordnung mit der Nummer 1222/2009 wieder. „Verbesserungen in Bezug auf einen Parameter, etwa den Rollwiderstand, können sich nachteilig auf andere Parameter wie die Nasshaftung auswirken“, steht da zu lesen. Da ist es nur konsequent, dass das Reifenlabel darüber hinaus Reifenkäufern noch Informationen zu den Nassbremseigenschaften der schwarzen runden Gummis mit an die Hand gibt.
Auch dafür sind wieder sieben Klassen von „A“ bis „G“ vorgesehen, von denen je nach Fahrzeugklasse jedoch mindestens eine oder sogar zwei von vornherein nicht belegt sind. Anders als beim Rollwiderstand müssen Reifenhersteller zur Einstufung ihrer Produkte diese hierbei gegen Standardreferenzreifen antreten lassen, woraus sich der sogenannte Nasshaftungskennwert bestimmen lässt. Je nach seinem Wert resultiert entsprechend der ergänzenden Verordnung 1235/2011 (EG) daraus die Einordnung gemäß dem bekannten Buchstabenschema in der Kategorie, die auf dem Label mit einem Reifen samt Regenwolke dargestellt wird. Dabei bleibt die grundsätzliche Logik die gleiche wie bezüglich des Rollwiderstandsbeiwertes: Ein mit „A“ eingestufter Reifen ist besser, weil er einen kürzeren Bremsweg bei Nässe vorweisen kann, als einer mit der schlechtesten Abstufung „F“ (beim Nassbremsen ist „G“ per Definition bei allen Fahrzeugen nicht besetzt). Je nach Fahrzeuggattung gelten allerdings auch dabei wieder unterschiedliche Wertebereiche, wie sich der nebenstehenden Tabelle entnehmen lässt.
Externes Rollgeräusch
Dritter und letzter beim Reifenlabeling zu berücksichtigender „wesentlicher Parameter“ ist das externe Rollgeräusch. Gemessen wird hier das Vorbeifahrgeräusch im montierten Zustand am Fahrzeug, das einerseits in Dezibel anzugeben ist. Auf Basis der Messwerte und in Abhängigkeit von der Fahrzeuggattung, der Reifenbreite (bei Pkw) und der Einsatzart (Llkw/Lkw) erscheint darüber hinaus zudem noch ein Symbol mit bis zu drei stilisierten Schallwellen. Sind alle drei davon schwarz ausgefüllt, entspricht der jeweilige Reifen bezüglich des externen Reifengeräusches den derzeit noch gültigen EU-Grenzwerten gemäß der Verordnung 2001/43/EG (siehe Tabelle). Sind zwei von ihnen in Schwarz gehalten, dann erfüllt der Reifen bereits die Grenzwerte nach der Verordnung 661/2009/EG bzw. unterschreitet diese um bis zu drei Dezibel. Ist nur eine der stilisierten Schallwellen schwarz gefärbt, ist der Reifen sogar mehr als diese drei Dezibel leiser als die EU-Grenzwerte gemäß 661/2009/EG vorsehen.
„Verkehrslärm ist eine erhebliche Belästigung mit gesundheitsschädigender Wirkung“, erklärt die EU, warum abgesehen von Rollwiderstand/Energieeffizienz und Nassbremsen das externe Abrollgeräusch beim Reifenlabeling mit einbezogen wurde. Auch hier hofft man zum Wohle durch Straßenlärm in Mitleidenschaft gezogener Bürger auf technologische Weiterentwicklungen, mit denen das externe Rollgeräusch zukünftig „weit über diese Mindestanforderungen hinaus“ reduziert werden könne. Anders als bei den anderen beiden Labelkriterien, wo sich entsprechend gute Einstufungen in Form von Kraftstoffeinsparungen bzw. einem Plus an Sicherheit durch einen kürzeren Bremsweg auf nasser Fahrbahn für ihn auszahlen, hat der Reifenkäufer von einem leiseren Außengeräusch allerdings nicht unbedingt selbst etwas. Denn wie es um das Geräusch im Fahrzeuginneren bestellt ist, steht auf einem ganz anderen Blatt: Es kann zwar ebenfalls entsprechend leiser sein, muss es aber nicht zwangsläufig. „Ich glaube nicht, dass das externe Rollgeräusch in Verkaufsgesprächen eine exorbitant große Rolle spielen wird“, meint daher auch Hans-Jürgen Drechsler, Geschäftsführer des Bundesverbandes Reifenhandel und Vulkaniseurhandwerk e.V. (BRV).
Mehr nicht?
Angesichts all dessen taucht unwillkürlich die Frage auf, ob sich mit dem von der EU ausgewählten Satz von lediglich drei Parametern ein Reifen hinsichtlich seiner Eigenschaften wirklich umfassend charakterisieren lässt. Wer einmal einen Reifentest einer der bekannten Automobilmagazine gelesen hat oder die Gelegenheit dazu hatte, mit Entwicklern aus der Reifenindustrie zu sprechen, kann diese Frage mit einem ganz klaren Nein beantworten. Was ist beispielsweise mit den Wintereigenschaften von Reifen für die kalte Jahreszeit? „Informationen zur Nasshaftung spiegeln eventuell nicht die Haupteigenschaften von Reifen wider, die speziell für den Einsatz auf Schnee und Eis konzipiert wurden“, weiß auch die EU selbst. „Da es noch keine harmonisierten Prüfmethoden für diese Reifen gibt, sollte vorgesehen werden, dass die Klassifizierung dieser Reifen hinsichtlich ihrer Haftungseigenschaften zu einem späteren Zeitpunkt angepasst werden kann“, heißt es dazu weiter in der Verordnung 1222/2009.
„Das Label kann nur begrenzt zur Kaufentscheidung beitragen“, ist man vor diesem Hintergrund beim Deutschen Verkehrssicherheitsrat (DVR) überzeugt. Zwar informiere es über den Einfluss der schwarzen runden Gummis in Sachen Kraftstoffverbrauch, Bremsweg auf nassen Fahrbahnen oder die von ihnen ausgehenden Geräuschemissionen, doch die Qualität eines Reifens werde noch von zahlreichen weiteren Kriterien bestimmt, wird dieser Standpunkt unter Verweis auf Dinge wie beispielsweise die Fahrstabilität, Seitenführung in Kurven, Aquaplaningeigenschaften, Trockenhaftung, Lebensdauer und bei Winterreifen auch den Grip auf Schnee und Eis begründet. Diese Kriterien bewerteten Fachmagazine, Automobilklubs und Prüforganisationen in regelmäßigen Reifentests, so der DVR weiter. Insofern liefere die Reifenkennzeichnung in ihrer zum 1. November kommenden Form nur einen ersten Überblick über wichtige Basiseigenschaften des Reifens, gebe aber nicht über das gesamte Spektrum an Leistungseigenschaften Auskunft und ersetze damit „weder Reifentests noch die Beratung durch den Fachmann“.
Hin zur Praxis
Trotz des Labelings wird der Reifen also nach wie vor ein beratungsintensives Produkt bleiben. Und wenn man sich die Regularien rund um die drei Kriterien anschaut, ist eher schwerlich vorstellbar, dass der normale Autofahrer die Hintergründe all dessen wirklich versteht bzw. überhaupt wird verstehen wollen. Wenn die Labelwerte ab dem Herbst ins Spiel kommen, muss ihm aber möglichst praxisnah erklärt werden können, was es damit auf sich hat. Zumal der DVR und auch andere derzeit noch nicht wie bei Kühlschränken oder Waschmaschinen davon ausgehen, dass selbst preiswertere Reifenmodelle mit der besten Labeleinstufung „A“ gleichzeitig in den beiden Kategorien Rollwiderstand und Nasshaftung aufwarten werden. „Beim Reifen verhält es sich anders: Die Reifentechnologie ist deutlich komplexer als man annimmt. Denn Reifen, die besonders kraftstoffeffizient sind, weisen auf nasser Fahrbahn in der Regel einen schlechteren Bremsweg auf als solche, die einen höheren Rollwiderstand haben. Dieser Konflikt beschäftigt die Hersteller von Qualitätsreifen bereits seit Jahren, mit dem Ziel, bei beiden Kriterien ein möglichst hohes Niveau zu erreichen“, erklärt der DVR die Zusammenhänge.
Laut der „Initiative Reifenqualität“ des DVR beträgt der Bremswegunterschied zwischen Bereifungen benachbarter Labelklassen auf nasser Fahrbahn drei bis sechs Meter bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 80 km/h
Zudem wird vorgerechnet, dass mit Blick auf die Rollwiderstandseinstufung der Unterschied von einer Klasse zur nächsten einem Mehr- bzw. Minderverbrauch von etwa 0,1 Liter Kraftstoff auf 100 Kilometer Strecke entspricht. Da dies wiederum etwa der Distanz von Flensburg nach Salzburg gleichkomme, würde bei den derzeitigen Spritpreisen ein mit Reifen der Rollwiderstandsklasse „B“ ausgerüsteter Pkw auf dieser Strecke rund 1,70 Euro Kraftstoffkosten sparen im Vergleich zu demselben Fahrzeug mit Reifen der Rollwiderstandsklasse „C“. Analog dazu wird der Bremswegunterschied auf nasser Fahrbahn zwischen Autos, die mit Bereifungen benachbarter Labelklassen ausgerüstet sind, mit drei bis sechs Metern bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 80 km/h beziffert. „Das bedeutet, dass ein Reifen der Klasse ‚C’ auf einer durchschnittlich griffigen Straße vier Meter später zum Stehen kommt als einer der Klasse ‚B’ – immerhin eine gute Wagenlänge. Das heißt, während das eine Fahrzeug den Unfall knapp verhindert, prallt das andere mit 25 bis 30 km/h auf den Vordermann“, veranschaulicht der DVR.
Aufklärungsbedarf
All dies ist für manchen Verbraucher sicherlich ein Buch mit sieben Siegeln. Aufklärung ist also vonnöten und genau hier kann der Reifenhandel sich profilieren. Zumal eine von Goodyear Dunlop Tires Germany in Auftrag gegebene repräsentative Umfrage zutage gefördert hat, dass in Deutschland nicht einmal jeder zehnte Autofahrer das zum 1. November kommende Reifenlabel kennt. „Das Label bietet dem Verbraucher eine wichtige Orientierungshilfe. Der Autofahrer erhält auf einen Blick nachvollziehbare und unabhängige Informationen über Sicherheit, Wirtschaftlichkeit und Umweltverträglichkeit der Produkte“, ist Dr. Rainer Landwehr, Geschäftsführer der Goodyear Dunlop Tires Germany GmbH, überzeugt. Eine Einschätzung, die auch von den Autofahrern geteilt wird – zumindest dann, wenn sie zuvor über die Inhalte der Regelung informiert werden.
Danach vertraten nämlich 59 Prozent der Befragten die Meinung, dass die Kennzeichnung „die Transparenz des Reifenangebotes“ erhöhe. Außerdem waren sich 64 Prozent sicher, dass die Regelung „die Auswahl erleichtert“. Demgegenüber hielten 25 Prozent der Teilnehmer an der Studie die EU-Regelung für „überflüssig“, während über zwei Drittel angaben, das Reifenlabel „wahrscheinlich“ oder „auf jeden Fall“ bei ihrer nächsten Kaufentscheidung zu berücksichtigen. „Das Reifenlabel sagt aber nicht alles aus, denn neben den drei Kriterien der Kennzeichnung gibt es noch weitere wichtige Aspekte, um die Leistungsfähigkeit eines Reifens zu beurteilen“, so Landwehr. „Fachzeitschriften testen rund 15 Reifeneigenschaften, und wir werten bei der Entwicklung unserer Reifen mehr als 50 Leistungsparameter aus“, sagt er.
Pflichten des Handels …
Die Beschäftigung mit dieser Thematik ist für den Reifenhandel nicht nur unter Umständen nützlich, sondern im Hinblick auf die Einführung des Labelings auch unabdingbar. Zumindest dann, wenn er Reifen der Klassen C1 (für Pkw), C2 (für Llkw) und C3 (für Lkw) an die Frau oder den Mann bzw. „in den Verkehr“ bringt, wie es im Amtsdeutsch so schön heißt. Denn rund um den Verkauf solcher Reifen an Endkunden – Runderneuerte, Geländereifen für den gewerblichen Einsatz, für vor dem 1. Oktober 1990 erstzugelassene Fahrzeuge ausgelegte Reifen, Notreifen des Typs T, Reifen mit einer zulässigen Geschwindigkeit von weniger als 80 km/h, Reifen für Felgen mit einem Nenndurchmesser kleiner als 254 Millimeter oder größer als 635 Millimeter, Spikereifen, Rennreifen sowie Motorradreifen brauchen nicht gelabelt zu werden – obliegen dem Handel ab dem genannten Stichtag nämlich einige Pflichten.
Er muss sicherstellen, dass für im Verkaufsraum ausgestellte Reifen die zugehörigen Labeldaten in deren unmittelbarer Nähe zu finden sind – entweder mittels Aufklebern auf der Lauffläche oder durch irgendeine sonstige Produktauszeichnungsmethode. Und wenn es beispielsweise in einem Verkaufsgespräch um Modelle geht, die im Verkaufsraum selbst nicht sichtbar sind, sondern etwa noch im Lager liegen, dann muss der potenzielle Käufer ebenfalls über die Labeleinstufungen informiert werden. All dies gilt im übertragenen Sinne natürlich auch für virtuelle Verkaufsräume, also Onlineshops: Dort muss die Kategorisierung der Reifen hinsichtlich Rollwiderstand/Energieeffizienz, Nassbremsen und Abrollgeräusch ebenso zur Verfügung gestellt werden. Darüber hinaus sind dem Kunden nach einem Kauf die Labelwerte auf bzw. zusammen mit der Rechnung mitzuteilen.
… und seiner Lieferanten
Schließlich hat sich die EU mit der Verordnung 1222/2009 auf die Fahnen geschrieben, mit der neuen Reifenkennzeichnung einen Rahmen zu schaffen, der „die Endnutzer in die Lage versetzt, beim Reifenkauf eine sachkundige Wahl zu treffen“, und auf diesem Wege „durch die Förderung kraftstoffeffizienter und sicherer Reifen mit geringem Rollgeräusch“ letztendlich die Sicherheit sowie die wirtschaftliche und ökologische Effizienz im Straßenverkehr zu steigern. Doch ein Reifenvermarkter kann seinen Kunden nur das über die von ihm angebotenen Produkte mitteilen, was ihm sein Lieferant zuvor dazu gesagt hat. Daraus folgt sofort, dass hier natürlich die Reifenhersteller, aber etwa auch Importeure, die Reifen von außerhalb der EU auf den europäischen Markt bringen, ebenfalls in der Pflicht stehen. Sie müssen ihren Kunden – also beispielsweise dem Reifenfachhändler, Werkstätten oder dem Autohaus – die Labeleinstufungen für die gelieferten Produkte zur Kenntnis bringen.
In der Regel wird dies über die jeweiligen Warenwirtschaftssysteme geschehen, zumal wohl alle namhaften Softwarehäuser eine entsprechende Unterstützung in ihren Branchenlösungen bereits umgesetzt haben. Darüber hinaus müssen die Lieferanten entweder jeden einzelnen Reifen der Klassen C1 (für Pkw) und C2 (für Llkw) mit einem Labelaufkleber auf der Lauffläche versehen oder jedem Posten identischer Reifen eine gedruckte Kennzeichnung mit auf seinen Weg geben. Außerdem müssen Reifenlieferanten die Einstufungen ihrer Produkte natürlich auch in sämtlichen Verkaufsunterlagen bzw. technischen Werbematerialien wiedergeben. Des Weiteren haben sie sicherzustellen, dass EU-Behörden im Falle eines Falles bis zu fünf Jahre nach der Bereitstellung des letzten Reifens eines bestimmten Typs anhand technischer Unterlagen nachvollziehen können, ob die gemachten Angaben zur Energieeffizienz-, Nassbrems- und Geräuscheinstufung korrekt sind/waren.
Problemzonen
Wenn man sich vor Augen hält, wie viele Reifenmarken, -modelle oder -dimensionen sich im europäischen Markt tummeln, wird schnell ersichtlich, was für ein Aufwand hinter diesem ganzen Projekt steht. Allein für den deutschen Markt hat Peter Sponagel vom Wirtschaftsverband der deutschen Kautschukindustrie (WdK) jüngst von rund 2.500 Reifenvarianten gesprochen. Da wird es mitunter vielleicht nicht ganz so einfach sein, den Überblick zu behalten. Zumal es im Pkw-Segment Reifen ein und derselben Marke und Typs in der gleichen Dimension und mit identischen Last-/Geschwindigkeitsindizes gibt, die sich trotzdem unterscheiden (könnten): nämlich wenn solche Ausführungen ins Spiel kommen, die aufgrund ihrer speziellen Erstausrüstungsspezifikation – etwa mit Stern markierte Reifen für BMW oder MO-/AO-Reifen für Mercedes bzw. Audi usw. – nicht zwangsläufig genauso gelabelt sein müssen wie die „normale“ Ersatzmarktversion.
BRV-Geschäftsführer Hans-Jürgen Drechsler bezeichnet es in diesem Zusammenhang als „Worst-Case“-Szenario, wenn ein und dieselbe Reifendimension bei gleicher Profilausführung und in entsprechend vielen Ausführungen mit unterschiedlichen Labelwerten angeboten würde. Im Fall eines Falles wären die dahinter stehenden Zusammenhänge auf Nachfrage nämlich auch einem Kunden zu erläutern. Doch selbst wenn solche Erklärungen manchen potenziellen Reifenkäufer noch nicht verwirren sollten, so vielleicht doch der Umstand, dass Reifen einiger Zweit-/Drittmarken der etablierten Hersteller und ganz zu schweigen von diversen gedanklich in die „Billigschublade“ sortierten Produkten mitunter zumindest die gleichen oder eventuell sogar bessere Labelwerte vorweisen können als ein Reifen der sogenannten Premiummarken – und dabei gegebenenfalls noch günstiger zu haben sind.
Achtung Baustelle!
Wie Hersteller mit mehreren Marken diese zueinander positionieren, ist zwar in erster Linie ihre eigene Angelegenheit. Doch wird so etwas zweifelsohne mittelfristig auch Auswirkungen auf das Verkaufsgespräch bei so manchem Händler haben. Laut Drechsler ist er jedenfalls schon einmal danach gefragt worden, ob bei den Reifenlabelwerten so etwas wie ein „Downgrading“ möglich sei. Zudem stellt sich die Frage, was mit den Reifen(-beständen) ist, die vor dem 1. Juli produziert wurden. Können die „nachgelabelt“ werden? Eine einheitliche Linie fährt die Industrie nach den Worten des BRV-Geschäftsführers diesbezüglich – „leider“, wie er bedauert – nicht: Bei dem einen gelten die aktuellen Labelwerte demnach auch für dieselben Reifen, die schon ab Anfang dieses Jahres vom Band gelaufen sind, beim nächsten Selbiges sogar rückwirkend ab Frühjahr 2011 und noch ein anderer hat zum 1. Juli gleich komplett neue Artikelnummern eingeführt.
Baustellen rund um das Reifenlabel gibt es also genügend, wenn es zum 1. November und damit mitten im Wintergeschäft richtig ernst wird. Eine erste Bewährungsprobe für den Handel wird sein, den potenziellen Reifenkäufer wie vom Gesetzgeber gefordert über die Reifenlabelwerte zu informieren und ihm bei der Gelegenheit zu vermitteln, dass die darauf festgehaltenen drei Parameter so gut wie gar nichts mit den Wintereigenschaften der Reifen zu tun haben. Unter den Tisch fallen lassen kann man das Ganze als Verkäufer trotzdem nicht, denn der BRV befürchtet unter anderem, dass gewisse Kreise auf Basis von Abmahnverfahren Kasse zu machen versuchen könnten, wenn bei Testkäufen eine Verletzung der Beratungspflicht oder eine unterbliebene Produktauszeichnung im Verkaufsraum festgestellt wird.
Fazit: Noch viele Fragezeichen
Ob an dieser Befürchtung etwas dran ist, wird man abwarten müssen. Rund um die Energieeffizienzkennzeichnung von Autos soll es Drechslers Worten zufolge solche Fälle jedenfalls schon gegeben haben. Ob von dem Reifenlabeling wie von so manchem Marktteilnehmer erwartet wirklich die sogenannten Premiumreifen profitieren werden? Auch das lässt sich jetzt noch nicht beantworten. Ohnehin ist laut dem BRV der Marktanteil der Premiummarken im deutschen Pkw-Reifenersatzgeschäft verglichen mit anderen Ländern mit rund 64 Prozent (Stand 2010) schon recht hoch. Bemerkenswert ist allerdings, dass die Hersteller entsprechender Marken in jüngster Zeit auf breiter Front immer wieder betonen, das Labeling sei gut und sinnvoll, aber eben längst nicht alles: Es decke nur drei Parameter ab, während Automobilzeitschriften bei ihren regelmäßigen Reifentests so um die 20 berücksichtigten und man selbst noch eine ganze Reihe mehr, heißt es.
Hat sich da vielleicht so manch „Etablierter“ ein wenig zu viel versprochen vom Reifenlabeling und gehofft, mit guten Werten in den beiden wichtigeren Kennzeichnungskategorien Rollwiderstand/Energieeffizienz und Nassbremsen zugleich die sogenannten „Billigheimer“ schlecht dastehen lassen bzw. noch eine Weile länger auf Distanz halten zu können? Galt es lange Zeit als gesetzt, dass Premiumreifen den Spagat zwischen diesen beiden Disziplinen am besten schaffen, brauchen sich offenbar auch einige „Emporkömmlinge“ diesbezüglich nicht gerade zu verstecken. Und wann überhaupt wird es die ersten Überprüfungen von offizieller Seite geben, ob die jeweiligen Labelangaben tatsächlich der Realität entsprechen? Fragen über Fragen, von denen die NEUE REIFENZEITUNG in ihrer Ausgust-Ausgabe einige aufgegriffen hat, bevor es Ende des Jahres dann tatsächlich Label wird. christian.marx@reifenpresse.de
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