Reiff-Übernahme: Ein neuer Stern am europäischen Reifenhimmel
Ohne Frage: Auf dem europäischen Reifenhimmel gibt es einen neuen Stern, der heller zu leuchten scheint als viele andere neben ihm. Und es ist bereits bestätigt, dass dieser Stern in den kommenden Monaten und Jahren noch weiter an Strahlkraft gewinnen wird. Kannten bis vor Kurzem nur wenige Reifenhändler hierzulande den Namen European Tyres Distribution (ETD), so hat sich das durch die geplante Übernahme von Reiff Reifen und Autotechnik sicherlich geändert. Das sogenannte „strategische Plattformunternehmen“ mit Sitz in London gehört dem US-amerikanischen Beteiligungsunternehmen Bain Capital Private Equity, 75 Milliarden Dollar schwer, und hat mittlerweile mehrere Handelsunternehmen des italienischen Reifenmarktes unter seinem Dach, namentlich Fintyre und dessen Töchter Franco Gomme und die ehemalige Marangoni-Handelstochter Pneusmarket. Und jetzt der Reiff-Geschäftsbereich Reifen und Autotechnik. Auch wenn European Tyres Distribution damit bereits ein Umsatzvolumen von bis zu 800 Millionen Euro auf sich vereint, betont deren CEO Mauro Pessi im Gespräch mit der NEUE REIFENZEITUNG, dass damit die Wachstumsgeschichte noch längst nicht zu Ende geschrieben ist. Weitere Übernahmen sollen noch in diesem Jahr stattfinden und selbst ein Börsengang scheint schon denkbar. Ob das Unternehmen dabei unabhängig agiert, also ohne eine Reifenindustrie im Hintergrund, betonen die Verantwortlichen zwar ausdrücklich. So richtig glauben mag das im Markt indes kaum einer.
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Mauro Pessi steht nicht im Verdacht, Marktzusammenhänge nicht im Blick zu haben. Der gebürtige Italiener kann auf lange Jahre im Pirelli-Konzern an der Seite des ehemaligen CEOs Francesco Gori zurückblicken, war selber CEO für Pirelli in Südamerika, in Nordamerika und in Italien, außerdem führte er kurzzeitig den italienischen Bremsenspezialisten Brembo als CEO. Seit April 2015 ist Mauro Pessi nun CEO des mittlerweile größten italienischen Reifengroßhändlers Fintyre, der im vergangenen Jahr gemeinsam mit seinen Tochterunternehmen Franco Gomme und Pneusmarket einen Umsatz von 400 Millionen Euro erzielte und dafür eigenen Aussagen zufolge 6,3 Millionen Reifen verkaufte. Im Zuge des Weiterverkaufs von Fintyre durch BlueGem Capital Partners (London) an Bain Capital Private Equity diesen März wurde auch die neue in London ansässige Holdinggesellschaft European Tyres Distribution Ltd. gegründet, die Mauro Pessi ebenfalls als CEO führt und die als sogenannte „Platform Company“ gegründet wurde, „um an der Konsolidierung des Reifenhandels in Europa zu partizipieren“.
Darin sieht Mauro Pessi auch den Startpunkt der Überlegungen, die nun zur Übernahme des Reiff-Geschäftsbereichs Reifen und Autotechnik geführt haben. Der europäische Reifenmarkt erlebt derzeit mehr als jemals zuvor eine Phase der Konsolidierung, erläutert der ETD-CEO im Gespräch mit der NEUE REIFENZEITUNG. Es werde für viele Marktteilnehmer immer schwieriger, einen Reifenhandel – ob Groß- oder Einzelhandel – heute profitabel zu betreiben und damit nachhaltige Werte zu schaffen. Mauro Pessi zufolge gibt es dafür eine Lösung: Wachstum über nationale Grenzen und Vertriebskanäle hinweg; es geht darum, möglichst viel Volumen auf sich zu vereinen.
Addiert man die 340 Millionen Euro hinzu, die der Reiff-Geschäftsbereich Reifen und Autotechnik im vergangenen Jahr erzielte (und dafür eigenen Angaben zufolge ungefähr vier Millionen Reifen verkaufte), stand die Gruppe unter dem Dach von European Tyres Distribution 2016 bei einem Umsatzvolumen von 740 Millionen Euro. Die 340 Millionen Euro stehen übrigens für rund 70 Prozent des Umsatzes der gesamten Reiff-Unternehmensgruppe, wobei ebenfalls 70 Prozent der 340 Millionen Euro wiederum aus dem Großhandel stammen und die verbleibenden 30 Prozent aus dem Filialgeschäft. Für das laufende Geschäftsjahr rechnet Mauro Pessi – ohne weitere Akquisitionen gerechnet – mit einem Umsatz von bis zu 800 Millionen Euro. Wenn der ETD-CEO über diese Zahlen spricht, dann umschreibt er sie als Hebel, die zweifach ansetzen sollen.
Mauro Pessi zufolge müsse das Reifengeschäft in Europa kein margenschwaches Geschäft sein. Es ist es aber, weil die Struktur des Marktes und der darauf agierenden Marktteilnehmer eben kaum andere Ergebnisse zulassen als die, unter denen die gesamte Branche leidet: hohe Kosten bei niedrigen Preisen, also Minimargen entlang der Nulllinie unter höchsten Wettbewerbsdruck auf volltransparenten Märkten. Pessis Ansatz scheint dabei genauso simpel wie verführerisch. Ein Handelsunternehmen muss nur genügend Volumen auf sich vereinen, um beim Einkauf (Preis-)Vorteile zu erzielen, von denen kleinere Mitbewerber eben nicht profitieren könnten. Größen- bzw. Skaleneffekte eben. Wichtig dabei sei es, Volumina entsprechend zu bündeln und sie nicht zu teilen. „Unser Modell ist aber viel mehr als das“, sagt Pessi im Interview Anfang August. Darüber hinaus wolle European Tyres Distribution ein Unternehmen des europäischen Reifenhandels aufbauen, dessen Kosten in der integrierten Wertschöpfungskette insgesamt verringert werden können. Von Synergien ist hier die Rede. Beides soll dabei helfen, eine „nachhaltige Profitabilität“ im Handelsgeschäft zu schaffen, über die weitere zukünftige Investitionen finanziert werden könnten. Gelingt dieser doppelte Ansatz, könne man ein Reifenhandelsgeschäft dermaßen weiterentwickeln, dass auch die Margen stimmten. Der Trend der Konsolidierung jedenfalls ist in Europa im Gange, daran besteht kein Zweifel. Und European Tyres Distribution stellt sich bewusst an die Spitze dieser Entwicklung und beschleunigt damit sich anbahnende Veränderungen.
Gleicher Ansatz, mehr Erfolg?
Auch die Reiff-Gruppe hat in den vergangenen Jahren bekanntlich an entsprechendem Wachstum gearbeitet und öffentlich formuliert, man verfolge das Ziel, „in allen bedeutenden Märkten in Europa eine führende Rolle zu spielen“; Reiff wollte Akteur in der europaweiten Marktkonsolidierung sein. Dieser Versuch ist offenbar gescheitert, trotz großer – und auch teurer – Akquisitionen wie die des Reifengroßhändlers Reifen Krupp in Schifferstadt per Anfang 2011. Vielleicht auch gerade wegen dieser und anderer Akquisitionen. Gerade der Großhandel der Reiff-Gruppe, der seit Kurzem als Tyre1 auf dem Markt auftritt, sei ein schwer zu steuerndes, hochkomplexes und teures weil fragmentiertes bzw. nicht-integriertes System. „Für das eigenständige Verfolgen dieser europäischen Konsolidierungsstrategie sind wir zu klein und verfügen sicherlich nicht über die finanziellen Ressourcen, die hierfür aufgebracht werden müssen“, stellt Alec Reiff, Geschäftsführender Gesellschafter der Reiff Reifen und Autotechnik GmbH, in einem Interview mit der NEUE REIFENZEITUNG heute fest.
Um diese beiden oben skizzierten Hebel ansetzen zu können, muss European Tyres Distribution aber weiter wachsen, betont Mauro Pessi, und zwar möglichst schnell. „Wir werden nach der Reiff-Akquisition nicht aufhören“, so der CEO weiter, und sieht immerhin 20 mögliche Übernahmekandidaten auf dem europäischen Reifenmarkt, die innerhalb der kommenden drei Jahre Teil der Gruppe werden könnten. Dabei sind für ETD nicht nur Großhändler von Interesse, sondern auch Filialisten. Zum Reiff-Geschäftsbereich, den die in London ansässige Holdinggesellschaft vermutlich bereits diesen Herbst offiziell übernehmen wird, gehören immerhin 46 Filialen. Das Retailgeschäft sei neben dem Volumen generierenden Großhandelsgeschäft ebenfalls von besonderer Bedeutung, könne darüber doch die Attraktivität des Unternehmens für Reifenhersteller gesteigert werden. European Tyres Distribution könne über die Kontrolle über mehrere Vertriebskanäle hinweg den Zugriff zum Endverbraucher steuern und somit beeinflussen, welche Reifenmarken diesem letztlich angeboten würden. Herstellern könne darüber „ein hoher Abdeckungsgrad“ angeboten werden.
Dass European Tyres Distribution mit der nächsten Akquisition aber nun wirklich drei Jahre warten wird, vielleicht um Reiff Reifen und Autotechnik erst vollends zu integrieren, scheint ausgeschlossen. Mauro Pessi betont, man stehe „bereits jetzt“ in Verhandlungen mit weiteren potenziellen Übernahmekandidaten. Er hofft, noch bis zum Ende dieses Jahres „ein oder zwei“ weitere Akquisitionen dingfest machen und entsprechend ankündigen zu können. Natürlich will er dazu keine Namen nennen.
Spricht man dazu mit Beobachtern, die die Akteure aus der Nähe kennen, so scheint sich sogar eine der ganz großen Akquisitionen des europäischen Reifenhandels der vergangenen Jahre anzubahnen. Sollte sich das bewahrheiten, was der Redaktion der NEUE REIFENZEITUNG – zugegeben als Spekulation – zugetragen wurde, dann läge die Unternehmensgruppe European Tyres Distribution auf einen Schlag bei einem Gesamtumsatz von deutlich über einer Milliarden Euro. Pessi bestätigt, man schaue sowohl in Italien, in Deutschland und auch auf anderen Märkten nach möglichen Übernahmekandidaten; das sei „ein fortwährender Prozess“. Konkret auf den kolportierten Namen angesprochen, antwortet der ETD-CEO zunächst mit einem lauten Lachen. Er habe in der jüngsten Vergangenheit bereits soviele Namen und Gerüchte gehört, da komme es auf einen mehr nicht an. Dennoch schiebt der Topmanager nach, man verhandele erst und teile dann die Ergebnisse der Verhandlungen mit, und nicht andersherum. Im Übrigen wolle er sich „nicht an Spekulationen“ beteiligen. Da es derzeit keinen Beleg für die Echtheit der besagten Spekulationen gibt, wollen wir uns an dieser Stelle auch nicht daran beteiligen, so sehr das in Rede stehende Unternehmen doch zum Konzept von European Tyres Distribution und ihres CEOs passen könnte. Auch wenn Pessi die umsatzseitige Zielgröße seines Wachstumsplans nicht nennen will, so steht doch fest: Unter dem Dach der European Tyres Distribution entsteht das größte Reifenhandelskonglomerat Europas.
Während einige im Markt der Ansicht sind, da kauft sich einer ein Imperium zusammen, nur um das dann gewinnbringend an die nächste Beteiligungsgesellschaft weiterzureichen, so betont Mauro Pessi indes, dass die Pläne der Investoren eher langfristiger, strategischer Natur seien: „Unser Ziel ist der Börsengang, und zwar innerhalb der nächsten fünf Jahre.“ Derzeit sei das Unternehmen für mögliche (Groß-)Aktionäre aber noch nicht attraktiv genug. Erst ab einer Größenordnung von 1,5 bis zwei Milliarden Euro Umsatz habe European Tyres Distribution eine Größe erreicht, ab der ein Börsengang denkbar und sinnvoll erscheint, so Pessi weiter. Zunächst müsse das Unternehmen weiter an seiner Wettbewerbsfähigkeit arbeiten; Stichwort: doppelter Ansatz.
In Bezug auf Reiff, so sehen die Verantwortlichen in London einen Prozess vor sich, der nicht kurzfristig abzuschließen ist, der aber „in allen Bereichen des Unternehmens“ absolut notwendig erscheint, um aus Reutlingen, dem derzeitigen Reiff-Sitz, eben einen Beitrag zu einer gesteigerten Wettbewerbsfähigkeit des ETD-Konglomerats zu erwarten. Mauro Pessi hat hier freilich bereits einiges im Blick, kann aber noch nicht öffentlich über Details reden, schließlich ist der Verkauf des Reiff-Geschäftsbereichs – den Kaufpreis mochte der CEO auf Nachfrage natürlich nicht nennen – noch nicht einmal von den zuständigen Behörden genehmigt. Klar sei aber jetzt schon, dass dabei kaum ein Bereich ausgespart werden dürfte. Insbesondere erwarte Pessi „in Bezug auf die Logistik viel Arbeit“. Reiff besteht bekanntlich aus vier Reifengroßhändlern mit eigenen Lagern (R-Tec, Hanse-Trading, Reifen und Räder sowie Reifen Krupp), die mittlerweile unter dem Label Tyre1 firmieren. Hinzu kommt noch das oben bereits erwähnte Filialnetz bestehend aus Reiff-Reifen-und-Autotechnik- sowie Netto-Betrieben. Dies wird European Tyres Distribution logistisch wie auch EDV-seitig noch weitreichender als bisher miteinander integrieren wollen, das scheint klar. Was das konkret bedeutet, kann freilich noch nicht abgeschätzt werden. Ebenfalls haben die Verantwortlichen das Markensortiment des Reutlinger Familienunternehmens im Blick. Beobachter hatten darin schon lange eine zu geringe Bündelung von Volumina gesehen; anstatt das Geschäft mit einigen wenigen ausgesuchten Marken bzw. Herstellern zu machen, habe Reiff sich „viel zu breit aufgestellt“, so ein Branchenkenner im Gespräch mit dieser Zeitschrift: „Wie soll man da Druck aufbauen.“ Um ein „dominanter Marktteilnehmer“ zu werden, wie Mauro Pessi es für Reiff Reifen und Autotechnik plant, müsse die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens gesteigert werden. Dies solle auch darüber gelingen, dass der Reiff-Geschäftsbereich Reifen und Autotechnik zukünftig stärker auf Dienstleistungen und Kundennähe ausgerichtet werden soll. Was dem Italiener Pessi beispielsweise nicht zusagt, ist schlichtes „Mengendenken auf die unpersönliche Art“. Stattdessen komme es zukünftig für ein erfolgreiches Unternehmen im Reifengroßhandel auch darauf an, nachhaltige Geschäftsbeziehungen aufzubauen, sich als Marke im Markt zu etablieren.
Beteiligung der Industrie?
Bei den Recherchen zu diesem Beitrag hat sich jeder Gesprächspartner der NEUE REIFENZEITUNG gefragt, ob wohl ein Reifenhersteller im Hintergrund die Gründung und den Auf- und Ausbau von European Tyres Distribution dirigiert. Ja, offiziell haben alle Beteiligten betont, die „strategische Akquisition von Reiff durch European Tyres Distribution Limited markiert den nächsten Wachstumsschritt für das Reifengeschäft“, so Eberhard Reiff, CEO von Reiff Reifen und Autotechnik, anlässlich der Bekanntgabe der Verkaufspläne Ende Juni. „Wir sind stolz darauf, dass die neue Partnerschaft mit Fintyre Startpunkt für die Entwicklung des größten herstellerunabhängigen Reifenhändlers in Europa werden kann.“ Auch Mauro Pessi antwortet auf die Frage, ob ein Reifenhersteller in irgendeiner Form mit an Bord ist und hinter European Tyres Distribution steht, mit eindeutigen Worten: „Nein, absolut nicht! Wir sind komplett unabhängig.“
Dennoch, gerade Branchenkenner, die auch zu Reiff seit Langem enge geschäftliche Beziehungen pflegen, wollen dieses klare Dementi nicht kaufen. „Glauben Sie, dass eine Investmentfirma aus den USA heute ein Reifenhandelsunternehmen in Europa kaufen würde? Mit Sicherheit nicht!“ Weiter: „Es liegt doch förmlich auf der Hand“, dass die Reifenindustrie in irgendeiner Form hinter European Tyres Distribution steht, wird vermutet. Und es mache auch Sinn, so ein anderer, ein entsprechendes Konglomerat „verdeckt“ über einen Investor wie Bain Capital Private Equity aufzubauen. „Das hat nur Vorteile“, komme man doch „ohne Störungen in den Markt“, sprich: Konditionen, Preise etc. könne man im Prinzip wie ein Unabhängiger verhandeln. Genauso hatte das Michelin mit seiner Beteiligung an Ihle Baden-Baden auch gemacht, bis dann nach Jahren die Beteiligung der Franzosen anlässlich der kompletten Übernahme 2014 öffentlich wurde. Aber auch hier bewegen wir uns im Reich der Spekulationen, die sich erst in Zukunft beweisen lassen dürften – wenn überhaupt. Doch auch hier gilt, genauso wie bei den Spekulationen über den nächsten Übernahmekandidaten: Die Indizien sind allesamt schlüssig, nur was bringen sie letzten Ende ohne stichhaltigen Beweis?
So oder so, European Tyres Distribution wird den Himmel des europäischen Reifenmarktes in Zukunft sicher noch heller erleuchten, als das bisher bereits der Fall ist, ob nun eine Investmentfirma, die einen Börsengang im Visier hat, oder ein strategischer aus der Reifenindustrie stammender Investor dahinter steckt. arno.borchers@reifenpresse.de
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