Conti-Vorstand Dr. Nikolin: Größe an sich ist kein Kriterium
Dr. Hans-Joachim Nikolin – im Continental-Vorstand verantwortlich für Qualität, Umwelt, Einkauf, in der Branche allerdings im Wesentlichen verbunden mit der Verantwortung für den Bereich Nutzfahrzeugreifen (inklusive Industriereifen) weltweit – gab der NEUE REIFENZEITUNG aus Anlass der Präsentation des neuen Trailerreifens HTR2 in Hannover ein Interview. Zuvor hatte er vor der Presse und Großkunden den „Änderungsprozess“ des Unternehmens dargelegt, der sich nach außen vor allem an der Großakquisition von Siemens VDO ablesen lässt, nach innen allerdings auch an einer permanenten Feinjustierung der Unternehmenswerte und Visionen. So hat „Nachhaltigkeit“ bereits in den 90er Jahren – lange bevor diese Begrifflichlichkeit Eingang ins allgemeine Bewusstsein gefunden hatte – in den so genannten „Basics“ der Continental eine große Rolle gespielt, in den letzten Jahren ist diese unternehmerische Vision jedoch immer stärker in den Fokus der Konzernführung gerückt. Nikolin räumt ein, dass die von ihm geführte Division Nutzfahrzeugreifen jedenfalls vordergründig im Vergleich mit anderen Konzerndivisionen nicht so gut dastehe, relativiert aber: Größe an sich sei kein Kriterium, man wolle Werte schaffen und die Profitabilität verbessern.
NEUE REIFENZEITUNG: Herr Dr. Nikolin, der überdurchschnittlich lange anhaltende Boom bei Lkw-Reifen scheint sich abzuschwächen, in Nordamerika noch stärker als in Europa, da wird es schwer fallen, die selbst gesetzten Rentabilitätsziele zu erreichen.
Dr. Hans-Joachim Nikolin: Das ist richtig, die Signale aus den Märkten sind im Augenblick nicht ermutigend. Im Wettbewerbsvergleich sehe ich Continental allerdings sehr gut aufgestellt: Gerade in dem von Ihnen als aktuell besonders problematisch beschriebenen Markt Nordamerika freuen wir uns, dass sich unser konzernweit größtes Lkw-Reifenwerk Mount Vernon gut entwickelt hat und so für die Zukunft eine wettbewerbsfähige Kostenbasis darstellt. In Bezug auf die von Ihnen angesprochenen weltweiten Prognosen, aber auch in Anbetracht der aktuellen Entwicklung der Rohstoffkosten werden wir durch Preiserhöhungen sowie Mix- und Effizienzverbesserungen alles unternehmen, um unsere Ziele in der Division Nfz-Reifen zu erreichen.
NEUE REIFENZEITUNG: Sie haben Mount Vernon erwähnt, es gibt andere Lkw-Reifenfabriken im Konzernverbund, von denen weniger gute Nachrichten kommen, so aus Brasilien. Und ursprünglich war einmal die Rede davon, dass Continental bei der Errichtung eines Werkes in China auch an Lkw-Reifen gedacht hat, davon hört man gar nichts mehr.
Dr. Hans-Joachim Nikolin: Mit unserem Werk in Brasilien kommen wir voran, aber die Märkte im Nafta-Raum, die wir auch aus unserem Werk in Brasilien beliefern, entwickeln sich unter unseren Erwartungen. Wir haben daher beschlossen, das Ausbautempo zu drosseln und schöpfen tatsächlich die Maximalkapazität nicht aus. Ihr Einwand hinsichtlich China ist korrekt. Wir hatten ursprünglich sehr ernsthaft geprüft, im Rahmen unseres Werksneubaus in China auch gleich eine Produktionseinheit für Lkw-Reifen zu errichten. Das haben wir vorerst verworfen, aber es ist sehr wohl denkbar, dass wir das Thema in der Zukunft erneut aufgreifen, Platz auf dem derzeit in der Bebauung befindlichen Werksgelände wäre ausreichend vorhanden.
NEUE REIFENZEITUNG: Und warum haben Sie diese Investitionsentscheidung aufgeschoben? Gerade in den sogenannten „Emerging Markets“ mag sich das Pkw-Reifengeschäft gut entwickeln, das mit Lkw-Reifen aber explodiert doch förmlich. Ihre Wettbewerber sind da nicht so zögerlich.
Dr. Hans-Joachim Nikolin: Vorerst können wir noch freie Produktionskapazitäten in Malaysia nutzen, um im chinesischen Lkw-Reifenmarkt Fuß zu fassen. Wir sind schließlich dort weitgehend ein Newcomer und können nicht erwarten – auch angesichts von Überkapazitäten in einzelnen Segmenten in China – dort gleich mit offenen Armen empfangen zu werden. Überhaupt lohnt sich ein detaillierter Blick auf die einzelnen Lkw-Reifensubsegmente: So verlangt der chinesische Reifenmarkt noch in größerem Umfang nach 20-Zoll-Reifen mit einer nach unserem Verständnis eher überholten Technologie. Das Segment 22.5 Zoll mit moderner Technologie ist noch ganz am Anfang, damit lässt sich auf kleiner Basis in China wohl Geld verdienen. Aber insgesamt ist der chinesische Lkw-Reifenmarkt doch sehr komplex. In den chinesischen Rennergrößen bezweifle ich doch sehr, dass irgendein westlicher Anbieter profitabel arbeiten kann und mit seinem China-Engagement bei Lkw-Reifen derzeit so recht glücklich ist.
NEUE REIFENZEITUNG: Im außereuropäischen Vergleich mag Continental ohnehin noch Aufholbedarf haben, in Europa ist das Unternehmen aber gewiss sehr ordentlich aufgestellt. Ein großes Lkw-Reifenwerk ist in der Slowakei, ein kleineres in Stöcken. Erklärtermaßen soll in Puchov auch in F+E investiert werden. Ist es denkbar, dass Continental die F+E Nutzfahrzeugreifen dorthin verlegt?
Dr. Hans-Joachim Nikolin: In Europa, also nicht nur in Deutschland, haben wir einen sehr respektablen Marktanteil: in der Erstausrüstung wie im Ersatzgeschäft. Mit einer Kapazität von ca. 1,4 Millionen Einheiten im Jahre 2007 aber ist Stöcken gewiss kein kleiner Standort und deutlich größer als Otrokovice (Kapazität in 2007 ca. 0,5 Millionen Einheiten, d. Red.), gleichwohl aber kleiner als Puchov, wo wir mehr als zwei Millionen Lkw-Reifen jährlich herstellen. Dass Sie auf die Idee kommen, wir könnten unsere F+E-Abteilung dorthin verlegen, mag daran liegen, das auch in Puchov ein hoher Anteil Lkw-Reifen für die Erstausrüstung hergestellt wird. Wir beabsichtigen nicht, die Forschung und Entwicklung für Nfz-Reifen zu verlagern, diese wird grundsätzlich auch zukünftig in Stöcken bleiben, was nicht heißen soll, dass es für einzelne Bereiche – so zum Beispiel im Versuch – durchaus sinnvoll ist, Teile in Low-cost-countries auszulagern. Entsprechende Projekte sind in Puchov bereits in der Umsetzungsphase.
NEUE REIFENZEITUNG: Der europäische Marktführer hat in der Lkw-Erstausrüstung „freiwillig“ Terrain aufgegeben (und dürfte unter einen 40-Prozent-Anteil gerutscht sein), weil dort die Margen enttäuschend waren. Davon haben andere, auch Continental, profitiert. Ist Conti damit eigentlich so glücklich angesichts der in den Ersatzmärkten signifikant besseren Margen? Oder gibt es auch für Continental so etwas wie eine „Schmerzgrenze“, bei der man lieber auf OE-Geschäfte verzichtet, weil im Ersatzmarkt tatsächlich Geld verdient werden kann?
Dr. Hans-Joachim Nikolin: Ob das Wort „freiwillig“ berechtigt ist, lasse ich mal dahingestellt angesichts meiner Erfahrungen, dass Erstausrüstungskunden lieber einen gesunden Mix bei ihren Zulieferern haben. Das OE-Geschäft mit Lkw-Reifen ist jedenfalls für Continental insgesamt profitabel, aber auch strategisch so gewollt. Schließlich ist die Erstausrüstung in gewisser Weise auch eine Basis für das Ersatzgeschäft, auch und gerade in einigen anderen Ländern außerhalb Deutschlands. Rollt ein neuer Lkw auf Continental-Reifen beispielsweise auf die Straßen Frankreichs oder Italiens, begreifen wir das als Chance für die Nachrüstung. Außerdem erinnere ich an unsere Konzerniele, mindestens 40 Prozent aller Konzerngeschäfte außerhalb der Erstausrüstung bestreiten zu wollen. Mit Lkw-Reifen übertreffen wir dieses Ziel ja bereits. Insofern gehen in dieser Hinsicht die allgemeinen Konzernziele und die besonderen der Sparte Nfz-Reifen ganz konform. Mit dem Mix, wie wir es jetzt haben, sind wir recht zufrieden.
NEUE REIFENZEITUNG: Dass Continental die Premiummarke im Verbund ist, ist klar. Aber müssen Uniroyal, Semperit, Barum und Matador weitergepflegt werden? Wie stehen diese Marken zueinander?
Dr. Hans-Joachim Nikolin: Und in Nordamerika haben wir General, in Südostasien – wo wir in der Tat Simex (existiert weiter als Industriereifenmarke, d. Red.) aus dem Lkw-Bereich herausgenommen haben – die Marke Sime. Begänne man von vorne, bräuchte man vielleicht nicht so viele Marken. Aber das ist ja historisch gewachsen, die genannten Marken sind aufwändig aufgebaut worden und stellen heute einen Wert an sich da, den wir ja ungern verschenken wollen. Irgendwann haben wir als Continental für den Wert einer Marke ja im Rahmen einer Akquisition auch einmal Geld bezahlt. Und da alle Marken in ihren Märkten und Vertriebskanälen insgesamt recht gut unterwegs sind, beabsichtigen wir nicht, eine bestimmte Marke aufzugeben. Uniroyal, Semperit und Barum stehen für 40 Prozent unseres europäischen Umsatzes mit Lkw-Reifen, geben wir eine diese Marken auf, ist ja nicht gesagt, dass sie von einer anderen Konzernmarke kompensiert wird. Die Gefahr, dass diese Geschäfte bei einem versuchten Switch wenigstens teilweise an Mitbewerber fallen, ist schließlich auch nicht von der Hand zu weisen.
NEUE REIFENZEITUNG: Muss nicht abgewogen werden, ob die Pflege einer jeden Marke irgendwann schlicht zu teuer wird?
Dr. Hans-Joachim Nikolin: Es ist richtig, dass die Pflege einer zweiten oder dritten Marke Geld kostet, nicht nur hinsichtlich Marketing und Werbung. Und diese Marken aus der zweiten Reihe bekommen auch nicht die abgelegten Technologien unserer Premiummarke Continental, sondern wir sind permanent bestrebt, auch für alle anderen Marken den Anschluss an den Wettbewerb zu halten.
NEUE REIFENZEITUNG: Rollwiderstand ist aktuell ein Megathema in der Erstausrüstung. Conti wollte erklärtermaßen zum Marktführer aufschließen, wie weit ist man dabei? Sie haben dieses Projekt auf der Nutzfahrzeug-IAA des Jahres 2004 ja persönlich in den Vordergrund geschoben.
Dr. Hans-Joachim Nikolin: Und wir sind auch signifikant vorangekommen. Heute sind wir mit dem jeweiligen Marktführer in den einzelnen Segmenten wenigstens auf einem Level, beim jetzt vorgestellten Trailerreifen HTR2 sind wir sogar fünf Prozent besser und damit Branchenbenchmark. Weil dieser Reifen der erste in einer Serie von Produkteinführungen ist und auch alle künftigen Neupräsentationen mit den neuesten Technologien und Materialien, über die wir verfügen, ausgestattet sein werden, sind wir recht zuversichtlich, uns auch in anderen Segmenten an der Spitze des Marktes festzusetzen. Aber selbstverständlich erkennen wir an, dass auch unsere maßgeblichen Wettbewerber Fortschritte machen. Aktuell sehen wir allerdings keinen Reifenhersteller, der in der Lage wäre, allen anderen technologisch zu enteilen.
NEUE REIFENZEITUNG: Vor einigen Jahren hat alle Welt von Supersingles gesprochen: Kommt das Thema retour oder ruht es sanft? Und Lkw-Reifen mit Notlaufeigenschaften (plus ggf. Reifendruckkontrolle): Wie ist da die Marktentwicklung bzw. was hat Conti „in petto“?
Dr. Hans-Joachim Nikolin: Die Vorteile von Supersingles sind unbestritten, aber alle Hersteller müssen einräumen, dass sie bei der Abriebsperformance – sprich verlorene Laufleistung – noch Defizite haben. In einigen Märkten – so USA – entwickeln sich Supersingles passabel, in anderen – so bei uns in Mitteleuropa – eher zäh. Auch haben die Reifenhersteller, die solche Reifen forciert haben, wohl den Aspekt des Wiederverkaufs eines Lkw zu stark ausgeblendet. Will man einen gebrauchten Lkw in so manchen Markt exportieren, so müsste man die Achse wechseln, weil dort noch keine Supersingles angekommen, sondern Zwillingsbereifungen Standard sind.
Und zur zweiten Frage nach Pannenlaufreifen: Die erscheinen aus heutiger Sicht noch nicht sinnvoll, präsentierte Lösungen sind umständlich und teuer. Mögliche Reifenschäden in der Lauffläche abdichtende Materialien können eine Problemlösung sein, aber nur in eher engen Nischen, die uns derzeit noch als zu klein für einen kommerziellen Einsatz erscheinen. Reifendruckkontrollsysteme hingegen – die wir gemeinsam mit unseren Kollegen in den Automotive-Divisionen entwickeln und vermarkten wollen – sind sehr wohl sinnvoll. Wir hatten anlässlich der Nutzfahrzeug-IAA im Herbst 2004 eine Kooperation auf diesem Gebiet mit Bridgestone bekannt gegeben, die auch immer noch mit Leben erfüllt wird, obwohl darüber wenig kommuniziert wird. Wir hatten damals einen angestrebten Start der Serienproduktion für ein direkt messendes System im Jahr 2007 angekündigt, das war vielleicht zu ehrgeizig, Kunden und Märkte waren noch nicht bereit.
NEUE REIFENZEITUNG: Meines Erachtens muss die Runderneuerung Kerngeschäft sein, wenn ich mich mit Lkw-Reifen beschäftige. Die maßgeblichen Wettbewerber haben eigene Runderneuerungsanlagen, ein Nachteil für Continental bzw. wie kann das kompensiert werden?
Dr. Hans-Joachim Nikolin: Das ist sicherlich eine Definitionssache. Bezogen auf den Continental-Konzern ist die Runderneuerung nur ein Randbereich, bezogen auf unser Lkw-Reifengeschäft aber natürlich unverzichtbar. Für diese Sparte ist die Runderneuerung sehr wohl als ein Kerngeschäft zu bezeichnen und hat aus diesem Grund ein „Cradle-to-grave-Konzept“ entwickelt. Die Marke Contire ist dabei unser – zwischenzeitlich überarbeitetes und an die Marktgegebenheiten angepasstes – Angebot bei heiß runderneuerten Nutzfahrzeugreifen der Premiummarke Continental. Die Reifen Ihle GmbH in Günzburg, Reifen-Günther in Diepholz und Bandvulc in England produzieren Contire-Reifen nach den Qualitätsrichtlinien der Continental AG, die auch die zur Auftragsabwicklung notwendigen Laufstreifenmischungen, Karkassen und Formen liefert. Der Vertrieb und Verkauf der Contire-Reifen verbleibt ausschließlich in den Händen der Continental AG, gleiches gilt für die Produkthaftung. Im Bereich der Kaltrunderneuerung sind wir noch nicht so weit, nachdem uns der Partner Bandag abhanden gekommen ist. Aber prinzipiell kann man auch das im Markt hinzukaufen, ein entsprechendes Konzept entsteht.
NEUE REIFENZEITUNG: Herr Dr. Nikolin, wir danken Ihnen für dieses ausführliche Gespräch.
(Das Interview führte Detlef Vogt, Redakteur der NEUE REIFENZEITUNG)
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