Der Arbeitsalltag eines Michelin F1-Reifeningenieurs
Wenn Michelin-Partner und Renault-F1-Pilot Fernando Alonso wieder einmal die höchste Stufe des Siegerpodests erklimmt, freut sich ganz Clermont-Ferrand. Ein Mitarbeiter des Reifenherstellers aber jubelt ganz besonders: Hans Emmel. Der Ingenieur zeichnet bei Michelin für die Betreuung des französischen Werksteams verantwortlich. Wie seine Kollegen, die für die anderen Formel-1-Rennställe zuständig sind, agiert der Amerikaner bei seinem Kunden praktisch als voll integriertes Teammitglied – und darf sich, wenn Fernando Alonso oder Giancarlo Fisichella erneut einen Erfolg feiern, ebenfalls als Sieger fühlen.
Im Formel-1-Jahr 2006 rückt die Reifenfrage immer wieder in den Mittelpunkt des Interesses: Angesichts der enormen Leistungsdichte der Monoposti kann jeder einzelne Faktor schnell über Sieg oder Niederlage entscheiden – erst recht, wenn es sich dabei um das Verbindungselement zwischen Rennwagen und Fahrbahn handelt. So wird der Saison-prägende Zweikampf zwischen Fernando Alonso und Michael Schumacher, Renault F1 und Ferrari, auch zu einem Duell der Pneuspezialisten.
Eines der vielen Rädchen innerhalb der Erfolgsmaschine Renault F1 heißt Hans Emmel. Als Formel-1-Reifeningenieur von Michelin trug der Amerikaner bereits 2005 seinen Teil zum Titelgewinn der „Equipe Jaune“ bei und erlebte den historischen Moment vor Ort mit, als sich Fernando Alonso in Brasilien zum jüngsten Champion der Grand-Prix-Geschichte krönte. „Im ersten Moment fühlte ich eine immense Erleichterung“, blickt Emmel zurück. „Erst dann setzte die riesige Freude ein. Wir haben an dem Abend eine fantastische Party gefeiert. Das ging schon unter die Haut. Am nächsten Morgen ging es aber direkt wieder an die Arbeit – immerhin wollten wir ja auch noch den Konstrukteurstitel gewinnen.“ Mit Erfolg, wie die Geschichte beweisen sollte …
Auch in diesem Jahr berät Emmel den französischen Werksrennstall wieder bei allen wichtigen Fragen zum Thema Reifen – eine Aufgabe, die mehr als nur die Wahl des richtigen Reifendrucks und die Kontrolle des Reifenabriebs beinhaltet. „Die Vorbereitungen auf einen Grand Prix gehen spätestens ein bis zwei Wochen vor dem eigentlichen Rennen zumeist mit Testfahrten in die heiße Phase“, erläutert Emmel. „Ab dann stehe ich in ständigem Kontakt mit meinem Michelin-Kollegen Mark Hamnett, der das Testteam von Renault F1 vor Ort betreut. Gemeinsam analysieren wir die Daten und Ergebnisse, um für den kommenden Großen Preis eine optimale Lösung zu finden.“
Selbstverständlich sind es nicht die beiden Micheliner, die letztendlich die Entscheidung über die Reifenwahl treffen, sondern der Leitende Renningenieur des Renault F1 Teams, Pat Symonds. Aber sie sprechen wichtige Empfehlungen aus und setzen gemeinsam mit dem Briten die gewonnenen Erkenntnisse mit den bevorstehenden Anforderungen der nächsten Strecke in Zusammenhang. „Dabei diskutieren wir durchaus auch kontrovers“, gesteht der Reifenspezialist. „Wenn nötig, geben wir uns dann gegenseitig die Zeit zum Nachdenken. Schlussendlich kommen wir aber immer auf einen gemeinsamen Nenner, wenn es um die Auswahl der so genannten Prime- und der Option-Mischung geht. Diese Entscheidung zählt zu den nervenaufreibendsten Aufgaben meines Jobs. Denn sobald das Ergebnis steht und die Pneus produziert werden, gibt es kein zurück mehr.“
Die Arbeit des Amerikaners ist nach dieser Weichenstellung aber längst nicht erledigt. Bereits am Mittwoch vor dem Grand-Prix-Wochenende reist Emmel an die Strecke. Donnerstags stellt der Ingenieur sicher, dass alle für das Renault-F1-Team vorgesehenen Michelin-Pneus korrekt montiert und beschriftet sind. Danach setzt er sich erneut mit Pat Symonds sowie den beiden Renningenieuren Rod Nelson (für Fernando Alonso zuständig) und Alan Permane (Giancarlo Fisichella) zusammen.
„Wir befassen uns zunächst noch einmal mit den Testergebnissen und überlegen, wie sich die Strecke im Laufe des Wochenendes verändern wird“, beschreibt Emmel. „Dafür betrachten wir die Daten aus den Vorjahren und beurteilen, ob sich die Wetterbedingungen vergleichen lassen. Außerdem überlegen wir, wie wir die Reifen in der Kürze der Zeit so effektiv wie möglich bewerten können. Dafür müssen wir jede Menge Faktoren wie Radsturz, Spur, Reifendruck, Benzinmenge, die Basisabstimmung und so weiter beachten …“
Ein Austausch mit den Reifeningenieuren der anderen Teams findet während der Saison nur begrenzt statt: „Wir besprechen generelle Trends“, so Emmel. „Aber keine Details. Jeder von uns erhält sensible Informationen – wie Spritmengen – von seinem Rennstall, die behalten wir natürlich für uns. Obwohl wir gut befreundet sind und abends auch gerne zusammen Essen gehen, können wir solche Geheimnisse nicht Preis geben. Diskretion steht an erster Stelle.“
Wenn für die Piloten am Freitag die heiße Phase beginnt, herrscht auch bei den Reifeningenieuren Hochbetrieb. Genau wie seine Kollegen sorgt Emmel dafür, dass die Teams das Potenzial der Reifen optimal ausschöpfen. „Ich höre mir die Kommentare und Eindrücke der Fahrer genau an“, erklärt der Amerikaner. „Fernando und Giancarlo sind auf diesem Gebiet bemerkenswerte Profis. Häufig fallen ihnen kleine Details auf, die uns einen wichtigen Fingerzeig geben. Nach diesen ausführlichen Debriefings werte ich dann die gewonnenen Daten aus: Zum Beispiel, wie lange Reifendruck- und -temperatur benötigen, um sich zu stabilisieren, oder die Temperaturentwicklung innerhalb der gesamten Lauffläche. So stelle ich sicher, dass die Pneus optimal genutzt werden. Denn hierin liegt das eigentliche Geheimnis begründet: Nur wer die volle Leistungsfähigkeit der Reifen abrufen kann, ohne sie zu überfordern, kann am Ende gewinnen.“
Eine der wichtigsten Entscheidungen des Wochenendes muss am Samstag vor dem Qualifying getroffen werden: Welche der beiden zur Verfügung stehenden Reifen-Varianten sollen die Fahrer für das Abschlusstraining und das Rennen aufziehen? „Wir diskutieren dann im kleinen Kreis“, erläutert der Michelin-Profi. „Pat Symonds trifft die Entscheidung im Gespräch mit den Fahrern, den Renningenieuren und mit mir. Im Normalfall tendieren wir einstimmig zur gleichen Meinung. Manchmal gestaltet sich die Wahl aber auch als schwierig, wenn die Rennstrategie Kompromisse erfordert.“
Auch wenn im Qualifying und während des Rennens die Fahrer scheinbar auf sich allein gestellt sind: Für Hans Emmel geht die Arbeit ohne Unterbrechung weiter. „Nach jedem Reifenwechsel schnappe ich mir die gebrauchten Pneus“, so der Mann mit dem Bibendum auf dem Overall. „Ich analysiere die Abnutzung und bespreche mit Pat, wie die Reifen mit dem Asphalt interagieren. Dies kann der Auslöser dafür sein, dass beim nächsten Stopp Veränderungen am Fahrzeug-Set-up vorgenommen werden.“
Nach dem Fallen der Zielflagge denkt Emmel bereits an die kommenden Aufgaben: Von jedem Rennen verfasst der Ingenieur einen schriftlichen Bericht für das Entwicklungsteam von Michelin, der alle wichtigen Daten, aber auch Anregungen und Empfehlungen enthält. „Und dann geht das Spiel wieder von vorne los und wir bereiten uns auf den nächsten Grand Prix vor.“
Diese stressige Zeit dauert für die Reifeningenieure wie für den ganzen Formel-1-Tross von März bis November an und ist auch für Emmel manchmal sehr anstrengend: „Neben der Reifenwahl vor dem Rennen zählen die vielen Arbeitsstunden und das Reisen zu den größten Schwierigkeiten“, erklärt der Spezialist. Und was fasziniert ihn an seinem Job? Emmel lacht: „Das viele Reisen und die Reifenwahl vor dem Rennen natürlich! Es ist fantastisch, alle Grand Prix’ vor Ort zu verfolgen, mit einem so erfolgreichen Team wie Renault zusammenarbeiten zu dürfen und in so engem Kontakt mit den Fahrern zu stehen.“
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