Investitionsstau in russischer Reifenindustrie
In die russischen Reifenfabriken sind in den vergangenen Jahren mehrere hundert Millionen Euro investiert worden, ein Großteil davon in Maschinen und Produktionsanlagen. Weltmarktführer Harburg-Freudenberger aus Hamburg betreibt seit diesem Jahr eine eigene Vertriebsniederlassung in Moskau, von der aus die Aktivitäten auf dem stark wachsenden russischen Reifenmarkt koordiniert werden sollen. Insbesondere im High-Performance-Bereich sehen Ausrüster einen weiteren Nachholbedarf lokaler Reifenhersteller.
„Harburg-Freudenberger hat es verstanden, seine Kontakte nicht abreißen zu lassen“, erläutert Sales Director Jens Ritter im Gespräch mit der NEUE REIFENZEITUNG. Das Traditionsunternehmen, das noch bis Mitte des vergangenen Jahres unter der Bezeichnung ThyssenKrupp Elastomertechnik firmierte, hatte bereits zu Sowjetzeiten gute Kontakte zu den Reifenherstellern sowie zum zentral für die Reifenentwicklung im Land zuständigen Forschungsinstitut. Mit der neuen Vertriebsniederlassung in Moskau sowie dem Aufbau eines technischen Außendienstes, deren Mitarbeiter in Deutschland geschult werden sollen, will Harburg-Freudenberger seine Marktposition in Russland weiter ausbauen. Allein während der vergangenen drei Jahre habe der deutsche Maschinen- und Anlagenbauer über 100 Vulkanisationspressen in russischen und weißrussischen Werken installiert und zählt somit beinahe jeden lokalen Reifenhersteller zu seinen Kunden. Weitere Aufträge seien bereits geschrieben, zusätzliche Angebote abgegeben, so der Sales Director, der seit 22 Jahren im Unternehmen beschäftigt ist. Auch habe man während der vergangenen drei Jahre wenigstens 20 Pkw-Reifenaufbaumaschinen in russischen Werken installiert. Über die Installation weiterer Maschinen werde ebenfalls verhandelt.
Dabei seien es zunächst einmal die großen, etablierten Hersteller wie Sibur, Amtel oder Nizhnekamskshina, denen es gelinge, eine entsprechende Finanzierungslinie für die Modernisierung der eigenen Produktionsstätten mit Anlagen von Harburg-Freudenberger aufzustellen. Entweder habe das Unternehmen aus eigener Kraft „eine sehr, sehr gute Finanzstruktur“ wie etwa Amtel, oder die hinter den Reifenherstellern stehenden Erdgas- und Mineralölkonzerne Gazprom und Tatneft sorgen für entsprechende Liquidität.
Trotz einer gewissen Investitionsbereitschaft der Reifenhersteller gebe es immer noch einen „erheblichen Nachholbedarf, was High-Performance-Reifen betrifft“, so Jens Ritter weiter. Nokian und Michelin haben in Russland zwar erst kürzlich Pkw-/Llkw-Reifenwerke in Betrieb genommen mit Produktionskapazitäten von jeweils rund zwei Millionen Einheiten, Amtel befindet sich mit seinem Vorzeige-Reifenwerk in Kirov derzeit in der zweiten Ausbaustufe (es kommen weitere zwei Millionen Einheiten Kapazität hinzu), in Siburs Reifenwerk in Yaroslavl’ werden die Kapazitäten für die neue Pkw-Reifenmarke Cordiant derzeit um etwa eine Million Einheiten erweitert – dennoch wurden im vergangenen Jahr mit rund 8,2 Millionen Pkw-Reifen etwa ein Viertel der etwa 35 Millionen nachgefragten Pkw-Reifen importiert. Jens Ritter führt die wachsende Nachfrage auch darauf zurück, dass Russen zunehmend westliche Fahrzeuge bevorzugen – auf den Straßen Moskaus bestimmen die klassischen Sowjetmodelle Wolga und Lada nicht mehr das Bild. Der Branchenkenner schätzt den Investitionsstau hoch: „Einige 100 Millionen Dollar sind es bestimmt.“
Dabei finden diese Investitionen nicht ausnahmslos in der Pkw-Reifenfertigung statt. Auch bei Lkw-Reifen gebe es Nachholbedarf. So hat Hersteller Nizhnekamskshina jetzt angekündigt, man werde etwa 180 Millionen Dollar in die Errichtung einer neuen Lkw-Reifenfabrik investieren. Als möglicher Jointventurepartner sei Pirelli im Gespräch, so hörte man auf den Gängen der Moskauer Reifenmesse Tires & Rubber. Beide Unternehmen kooperieren bereits seit Jahren in mehrfacher Hinsicht. Aber auch bei Belshina in Weißrussland werde derzeit in die Lkw-Reifenfertigung investiert. Dabei flössen diese Summen durchweg in Qualität, so der Sales Director, dies sei auch früher so gewesen: „Man bevorzugt die westliche Technologie.“ Reifenaufbaumaschinen für Lkw-Reifen liefere Harburg-Freudenberger allerdings nicht. Es gebe allerdings keine nennenswerte Konkurrenz von russischen Maschinen- und Anlagenbauern.
Auch bei Matador Machinery in der Slowakei nimmt man dieses Ungleichgewicht bei den Investitionen in die russischen Reifenfabriken wahr. „Bis heute hat beinahe niemand in die Lkw-Produktion investiert“, erklärt auch Karol Vanko. Der Direktor von Matador Machinery ist sich ebenfalls noch nicht sicher, ob das von Nizhnekamskshina angekündigte Investment in die Lkw-Reifenfertigung kommen werde, da der Hersteller diese schon seit längerem immer wieder ankündige. Vanko empfiehlt den lokalen Herstellern sogar, die fehlenden Modernisierungen der Produktionsstätten alsbald nachzuholen, wenn man den Markt nicht an ausländische Wettbewerber verlieren wolle. „Ich befürchte, dass es in naher Zukunft zu spät sein könnte“. Die Yaroslavl’-Reifenfabrik, die zu Sibur-Russian Tires gehört, der neugegründeten Reifenholding des Sibur-Konzerns, sei – aus traditionellen Gründen – die einzige Produktionsstätte, in der moderne Stahlgürtelreifen für Lkw entstehen. Sibur ist auf dem russischen Nutzfahrzeugreifenmarkt mit einem Anteil von 39,9 Prozent (gerechnet am Umsatz) Marktführer. Mit einer zunehmenden Verbesserung der Infrastruktur im Land sowie dem zunehmendem Bedarf an Transportkapazitäten werde sich die Nachfrage nach Nutzfahrzeugreifen ein Angebot suchen, ob russisch oder nicht. Karol Vanko habe allerdings Verständnis für die Situation der heimischen Reifenhersteller, die zunächst die Investitionen in die Pkw-Reifenfertigung wirtschaftlich und technisch verdauen müssen.
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