Studie „Commercial Vehicles 2015“: Mitschwimmen reicht nicht
Trotz der guten Bilanzen, die die Nutzfahrzeugbranche derzeit präsentieren kann, verdient die Mehrzahl der westeuropäischen Hersteller über den Konjunkturzyklus gesehen kaum ihre Kapitalkosten. Die Ursachen liegen in strukturellen Branchenproblemen: Der westeuropäische Heimatmarkt wächst kaum, das Neugeschäft ist weitgehend unprofitabel und die Hersteller leiden unter hohen Fixkosten. So lauten zumindest die Ergebnisse der aktuellen Studie „Commercial Vehicles 2015“ von Mercer Management Consulting, die unter anderem auf 50 Experteninterviews sowie einer übergreifenden Analyse von verfügbaren Branchenstudien, Analystenreports, Statistiken und Veröffentlichungen beruht. Mit Fokus auf das Lkw-Segment über sechs Tonnen analysiert sie Branchentrends und skizziert Lösungsmodelle. Als aussichtsreichste Strategien für die Zukunft werden in diesem Zusammenhang die weitere Internationalisierung, operative Verbesserungen und strukturelle Veränderungen der Geschäftsmodelle der westeuropäischen Lkw-Hersteller gesehen.
In den letzten Monaten konnten Nutzfahrzeughersteller beeindruckende Umsatz- und Gewinnsteigerungen vermelden. Doch die aktuelle Mercer-Studie „Commercial Vehicles 2015“ zeigt, dass diese guten Zahlen primär auf ein Konjunkturhoch zurückzuführen sind, das die stark zyklische Lkw-Branche noch bis zum Jahr 2006 beflügeln wird. Betrachte man den gesamten Zyklus von 2002 bis 2009, so steige der Absatz in Osteuropa und Nordamerika mit knapp sechs Prozent sehr deutlich, während das Wachstum in Asien und Südamerika nur etwa 2,5 Prozent beträgt. In Westeuropa dagegen stagniere der Markt mit einem jährlichen Plus von lediglich 0,7 Prozent. Auch bei den Marktanteilen bewegt sich laut Mercer wenig. In den letzten Jahren habe es kein Hersteller geschafft, seinen Marktanteil signifikant zu vergrößern – trotz zahlreicher angekündigter Initiativen verschiedener Marken. Vielmehr schlage sich der Kampf um Marktanteile in niedrigen Gewinnen nieder. Die EBIT-Marge der vier größten europäischen Hersteller DaimlerChrysler, Volvo/Renault, Fiat/Iveco und MAN liege über den gesamten Zyklus gesehen nur bei drei Prozent. „Viele Hersteller haben ihre Geschäftsmodelle noch nicht konsequent genug an die veränderten Bedingungen eines immer reifer werdenden Marktes angepasst“, erklärt Wolfgang Krenz, Director und Nutzfahrzeugexperte von Mercer Management Consulting. „Die Unternehmen müssten jetzt die starke konjunkturelle Phase der nächsten ein oder zwei Jahre nutzen, um sich für die kommenden Herausforderungen zu rüsten.“
„Europa verliert als Absatzregion immer weiter an Bedeutung. Im Jahr 2009 werden von den weltweit mehr als 1,9 Millionen verkauften Lkw voraussichtlich nur 312.000 in Westeuropa abgesetzt, gegenüber 800.000 verkauften Lkw in Asien und 545.000 in Nordamerika“, prognostiziert die Unternehmensberatung. Als „wichtige Randmärkte im globalen Geschäft“ werden Osteuropa – mit einem Potenzial von 160.000 Lkw im Jahr 2009 – und Südamerika mit rund 100.000 Einheiten eingestift. Dabei wird die Bedeutung des Osteuropa-Booms für die Hersteller nach überwiegender Ansicht der von Mercer befragten Experten oft überschätzt. Die Region wachse zwar kräftig, aber die absolut erreichbaren Stückzahlen seien im Vergleich gering. „Eine starke Präsenz in den außereuropäischen Wachstumsregionen ist für die Nutzfahrzeughersteller ein Muss“, heißt es in der Studie weiter. Zwar werde Asien in den nächsten fünf Jahren schwächer wachsen als Osteuropa oder die NAFTA-Staaten, aber bereits mittelfristig könne kaum ein Hersteller ohne die hier zu erwartenden Wachstumsimpulse auskommen. „Unsere Studie macht deutlich, dass die Internationalisierung auch weiterhin zu den Top-Prioritäten der Unternehmen gehören muss“, so Mercer-Berater Krenz. „China spielt dabei sicher eine zentrale Rolle. Es besteht aber die Gefahr, dass der gegenwärtige China-Hype Wachstumschancen in anderen Regionen überdeckt.“ Probleme der Internationalisierung sieht die Mercer-Studie vor allem in der Verfügbarkeit leistungsfähiger Lieferanten, in der Know-how-Absicherung (vor allem in China) und im Aufbau der notwendigen flächendeckenden Serviceorganisationen.
Empfohlen wird den Herstellern, die derzeit gute Ertragslage nicht nur für regionale Expansionskonzepte, sondern auch für eine weitere Optimierung ihres Geschäftsmodells zu nutzen. Effizienzsteigerungspotenziale lägen in Verwaltung, Entwicklung, Beschaffung, Produktion und Vertrieb. Gerade im Vertrieb müssten direktere Prozesse implementiert, Strukturen gestrafft und die Vertriebssteuerung optimiert und damit die Kundennähe und die Schlagkraft am Markt verbessert werden, meint Mercer. Darüber hinaus ist der Einsatz systematischer Methoden der Markt- und Kundenforschung – so das Ergebnis der Studie – bei vielen Lkw-Herstellern im Vergleich zu anderen Investitionsgüterbranchen unterentwickelt. „Lkw-Hersteller haben meist nur wenige ‚harte‘ Informationen über die Kundenpräferenzen“, sagt Krenz. „So wissen sie beispielsweise nicht, ob den Kunden eine höhere Servicenetzdichte wichtiger wäre als schnellere Lieferzeiten und wie viel den Kunden diese Verbesserungen wert wären. Damit fehlen ihnen die Daten für ihre strategischen Investitionen.“ Zwar sei in den Vertriebszentralen der Lkw-Hersteller die Erkenntnis gereift, dass die Kundenentscheidungsmatrix noch wesentlich mehr umfasst als nur Produkt und Preis – zum Beispiel auch die Finanzierungskosten, die Verfügbarkeit, die Auslastung oder den Wertverlust –, und dass ein sehr viel tieferes Verständnis der Kunden notwendig ist, um einen echten Wettbewerbsvorteil erringen zu können. Bei der vertrieblichen Umsetzung dieser Erkenntnisse aus dem operativen Verkaufsprozess „beim Kunden“ täten sie sich aber noch sehr schwer.
„Mit dem Verkauf von Neufahrzeugen, der in der Regel über enorm aufwendige und kostenintensive Vertriebsstrukturen erfolgt, verdienen die Hersteller heute kein oder nur wenig Geld. Die wichtigste Ertragsquelle der Nutzfahrzeugbranche liegt im Vertrieb von Originalteilen“, lautet ein weiteres Ergebnis der Untersuchung. Das profitable Ersatzteilgeschäft gerate jedoch durch Kopien und Grauimporte zunehmend unter Druck. Gleichzeitig hätten in den letzten Jahrzehnten die größere Zuverlässigkeit der Fahrzeuge und die immer länger werdenden Wartungsintervalle für eine drastische Verringerung der Servicestunden pro Lkw gesorgt. Dies konnte demnach nicht durch das Wachstum des Fahrzeugbestands aufgefangen werden, was in der Folge zu defizitären Servicenetzen führen könnte. „Dennoch ist das Servicenetz ein wichtiges strategisches Asset der Lkw-Hersteller“, sagt Krenz. „Zu den zentralen strategischen Aufgaben der nächsten Jahre gehört, das bisherige Konzept der Servicenetze neu zu überdenken. Dabei sollten auch Modelle geprüft werden, bei denen die Hersteller ihre Kontrolle über den Service abgeben oder sie mit einem Wettbewerber teilen.“
Auch im Vertrieb seien grundlegende strukturelle Änderungen erforderlich. Die Entwicklung zu immer größeren und damit professioneller einkaufenden Fuhrunternehmen erfordere es, dass der herkömmliche Flächenvertrieb durch ein professionelles Key-Account-Management und durch branchenspezifische Vertriebsansätze ergänzt wird. Darüber hinaus müsse die Nutzfahrzeugbranche durch optimierte Strukturen auf Hersteller- und Importeursebene die Wirtschaftlichkeit ihrer Vertriebssysteme verbessern. Eine weitere, bisher zu wenig genutzte Chance sieht die Studie im Gebrauchtwagenmarkt. „Das Gebrauchtgeschäft hat nicht nur das Potenzial, vom kostspieligen Anhängsel des Neuwagenverkaufs zu einem wichtigen Umsatzträger zu werden“, erklärt Krenz. „Es ist auch ein Geschäft mit hoher strategischer Bedeutung für die Entwicklung von neuen Märkten.“ Voraussetzung sei jedoch ein eigenständiges Gebrauchtwagengeschäftsmodell mit einer vorausplanenden und internationalen Gebrauchtwagendisposition und -vermarktung.
Die Geschäftsmodelle der Nutzfahrzeughersteller sind heute – so die Mercer-Studie – extrem anlagen- und damit kapitalintensiv. Dies liege vor allem an der immer noch sehr hohen Wertschöpfungstiefe in der Produktion. Laut Mercer-Studie war das richtig, solange man sich als Hersteller über das Produkt differenzieren konnte und Skaleneffekte noch keine zentrale Bedeutung für die Kostenposition hatten. Dies sei aber heute nicht mehr der Fall. Insofern täten die Hersteller gut daran, ihre Wertschöpfungstiefe radikal zu verringern und beispielsweise Tanks, Achsen sowie andere Komponenten und Subsysteme, die in den Augen der Kunden austauschbar sind, fremdzubeziehen. Das darüber frei werdende Kapital sollte in Aktivitäten investiert werden, die näher am Kunden sind, wie der Vertrieb, oder in das Angebot höherwertiger Dienstleistungen. Derzeit sei das Dienstleistungsspektrum der Lkw-Hersteller in hohem Maße vergleichbar: Für den Kunden bestünden jedoch spürbare Unterschiede in der Qualität und Professionalität der erbrachten Leistungen in Vertrieb und Aftersales, die in Zukunft eine zentrale Rolle für die Hersteller spielen werden.
Hier setze derzeit Mercedes-Benz die Benchmarks der Branche, beispielsweise mit dem Branchen-Informations-Center (BIC) im Lkw-Werk Wörth oder der Dienstleistungstochter Charterway. Eine zentrale Bedeutung wird künftig der Entwicklung umfassender, integrierter Dienstleistungs- und Lösungsangebote, die nicht nur das Produktangebot abrunden, sondern als eigenständiges Geschäftsmodell auch eine zusätzliche Ertragsquelle darstellen, beigemessen. In einem radikalen Zukunftsszenario sehen die Mercer-Berater Geschäftsmodelle, in denen der Lkw-Anbieter eher Integrator als Hersteller ist, der dem Kunden Transportkapazität zur Verfügung stellt und nicht mehr allein Produkte verkauft. Mercer-Berater Krenz fasst zusammen: „Für den notwendigen Umbau der Geschäftsmodelle der Lkw-Hersteller gibt es vier zentrale Erfolgsfaktoren: Internationalisierung, um die kritische Größe zu erlangen; Optimierung, um bei anhaltendem Margendruck eine möglichst gute relative Wettbewerbsposition zu halten; Verschiebung der Wertschöpfungsschwerpunkte, um Kapital nur dort zu binden, wo Mehrwert für den Kunden erzeugt wird; Kundenorientierung, um in Zukunft individuelle Lösungen statt austauschbare Produkte anbieten zu können.“
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