Michelin reist mit radikalen Änderungen nach Silverstone
Stillstand bedeutet ganz besonders in der Formel 1 Rückschritt: Auch vor dem Grand Prix von England in Silverstone, dem zehnten Saison-Lauf, steht die Entwicklungsmaschinerie bei Michelin nicht still. Für das Rennen auf dem britischen Traditionskurs setzen die Mannen aus Clermont-Ferrand auf mannigfaltige Veränderungen: “Der Große Preis von Europa auf dem Nürburgring lieferte uns interessante Daten, da im Rennen beide Reifentypen zum Einsatz gekommen sind”, blickt Michelin Motorsport-Direktor Pierre Dupasquier auf die Ereignisse in der Eifel zurück. “Wer in der Formel 1 Erfolg haben will, der muss aggressiv entwickeln. An diesem Wochenende haben wir eine Menge gelernt und wissen jetzt, wie die unmittelbare Zukunft anzugehen ist. Die Modifikationen werden radikal ausfallen”, kündigt Dupasquier an. “Wir werden von nun an eine konservativere Zusammensetzung unserer Pneus verwenden. Vielleicht verlieren die Reifen dabei etwas Haftung, vielleicht aber auch nicht. Wir sind immer in der Lage, die Pole-Position zu erringen. Es kann aber auch von Vorteil sein, sich mit der zweiten Startreihe zu begnügen – und anschließend das Rennen zu gewinnen.” Die Historie lebt: Am 13. Mai 1950 fand in Silverstone der erste offizielle Grand Prix der Formel 1-Neuzeit überhaupt statt. Seitdem gehört die rund 100 Kilometer nordwestlich von London gelegene Piste zu den bekanntesten Schauplätzen des internationalen Motorsports. Seit der Premiere wurde die Strecke – die ursprünglich die Verbindungspassagen zwischen den Start- und Landebahnen eines ehemaligen Militärflughafens nutzte – fünf Mal umgebaut und ist heute über 400 Meter länger als noch in den 50er Jahren. Dadurch stiegen die Rundenzeiten zwar mehrfach an, mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von nahezu 220 km/h zählt der Kurs jedoch nach wie vor zu den schnellsten der Formel 1-Saison. So gilt die “Maggots/Becketts”-Passage als eine der interessantesten Kurven-Kombinationen des Grand Prix-Jahres. Dieser Abschnitt wird mit Tempi im Bereich von 200 bis zu 270 km/h durchfahren und bewahrt der Strecke damit den Hochgeschwindigkeits-Charakter, der den Kurs einst durchgehend auszeichnete. Die berühmte Kurven-Folge lässt verschiedene Ideallinien zu, was sie für die Fahrer zu einer echten Herausforderung macht. Auch “Bridge” erfordert sehr viel Mut und erlaubt Geschwindigkeiten von bis zu 250 km/h. Die radikalste Änderung erfuhr der heute 5,140 Kilometer lange Kurs 1991, als der “Priory-Luffield”-Komplex neu konzipiert und zu einem langsameren Teilstück umgebaut wurde. Mit einer beeindruckenden Streckenbreite von bis zu 14 Metern wird er nur noch von der Piste im malaysischen Sepang übertroffen, die es auf eine Breite von durchschnittlich 16 Metern bringt. Der Vorteil für die Zuschauer: Dies erleichtert den Formel 1-Piloten in Silverstone das Überholen und Ausbremsen der Gegner.Die Ingenieure und auch die Reifen stellt der britische Traditionskurs vor eine schwierige Aufgabe: In den wirklich schnellen Kurven sind sowohl eine effiziente Aerodynamik als auch die Rillen-Slicks extrem gefragt. Oft kämpfen die Fahrer hier mit untersteuerndem Fahrverhalten ihrer Boliden, während die Pneus hohen Fliehkräften trotzen müssen und über gute Seitenführungs-Eigenschaften – sprich relativ steife Flankenkonstruktionen – verfügen sollten. Hohe Endgeschwindigkeiten, wie sie zum Beispiel auf der “Hangar-Geraden” gefragt sind, verlangen nach ausreichender Motorleistung und geringen Luftwiderstand. Im Gegenzug sollten die Rennreifen in den engeren Ecken wie “Vale”, “Luffield” und “Brooklands” viel Traktion und Grip zur Verfügung stellen. Kurzum: Silverstone bietet von allem etwas und erfordert daher einen ausgeklügelten Setup-Kompromiss. Und noch ein weiterer Faktor erschwert das Abstimmungsroulette beim Großen Preis von England: Die mitunter kuriose Thermik auf dem sehr ebenen und weitläufigen Gelände der Grafschaft Northamptonshire. So bringt der oft urplötzlich aufkommende Wind die Monoposti in den schnellen Kurven leicht in Schwierigkeiten, da er schlagartig die Balance und das Fahrverhalten verändern kann. Und meist ist auch auf das britische Wetter kein Verlass – der häufige englische Landregen verwandelt den ansonsten eher griffigen Asphaltbelag in ein sehr rutschiges Geläuf. Da die Strecke nur sehr wenig Querneigungen und minimale Höhenunterschiede aufweist, laufen die Wassermengen nur sehr zögerlich ab – und überraschen die Fahrer so oftmals mit widrigen und unvorhersehbaren Bedingungen in Form von stehenden Wasserlachen, die ein extremes Aquaplaning-Risiko beinhalten. Dafür soll der Neubau großzügiger Zufahrtstraßen zumindest dem berüchtigten Zuschauer-Chaos und den kilometerlangen Staus – die für den britischen Grand Prix als markant galten – in diesem Jahr endlich den Garaus machen.Um die Neuentwicklungen des französischen Reifenspezialisten für das Rennen in Silverstone ausgiebig zu testen, traten die Michelin-Partner BMW WilliamsF1, Renault sowie Toyota und McLaren-Mercedes nur zwei Tage nach dem Grand Prix von Europa bereits wieder zu Probefahrten im spanischen Barcelona an. Während der viertägigen Testarbeit standen bei allen Teams vor allem die modifizierten Michelin-Pneus im Vordergrund.
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