Continental: Reifen sind Teil eines komplexen Systems
Es ist noch gar nicht allzu lange her, das stand die Marke mit dem springenden Pferd vorwiegend für Reifen und andere Gummiprodukte. Heute steht die Continental als Synonym für einen weitverzweigten wenn auch homogenen Automobilzulieferer, unter dessen Dach neben Reifen verschiedener Marken und für verschiedene Anwendungen eben auch Bremsen- und Fahrwerkssysteme, Produkte rund um den Antriebsstrang von Fahrzeugen sowie in den Bereichen Telematik und Kautschuk-/Kunststofftechnologie. Diese „neue Continental“, wie Vorstandsvorsitzender Manfred Wennemer anlässlich des Technik-Forums im schwedischen Arvidsjaur sagte, könne gerade nach der Übernahme der VDO als integraler Anbieter von Lösungen rund um das Thema individuelle Mobilität gelten. Gerade durch das Zusammenspiel der Reifensparte mit der neu geschaffenen Division „Chassis & Safety“ (ehemals Conti Automotive Systems), also durch die Reifen- und die Elektronikkompetenz des Konzerns, könne sich die „neue Conti“ vom Wettbewerb abheben und schneller profitabler wachsen.
Das Technik-Forum der Continental – die ehemalige „Nikolaus-Veranstaltung“ – bietet seit jeher die gute Gelegenheit, einen Blick auf den Stand der (Winter-)Reifenentwicklung in Hannover zu werfen und zu erfahren, was derzeit vielleicht nur möglich aber in Zukunft Serie sein wird. So hat die „neue Conti“ bereits heute einen ganzen Strauß an Produkten und Lösungen parat, mit denen die Kraftübertragung im Verbund zwischen Reifen und Fahrzeug gesteuert und gesichert werden kann. Dazu zählen – neben den Winter- und natürlich auch Sommerreifen, bei denen der deutsche Hersteller führend ist – natürlich die verschiedenen Fahrassistenzsysteme. Regelsysteme wie ESC (Electronic Stability Control; viele sprechen noch von ESP) inklusive ABS gehören bei modernen Fahrzeugen mittlerweile zur Standardausstattung. Neuere Systeme wie das so genannte „Global Chassis Control“ mit der integrierten Hinterachslenkung oder das so genannte „Active Steering“ mit systemgesteuerten Lenkeingriffen machen das Fahren ebenfalls sicherer. Sie stellen aber auch für die Reifenentwickler der Continental die Rahmenbedingungen für kommende Reifengenerationen dar. Einen Reifen heutzutage ohne das sensible und überaus diffizile Zusammenspiel zwischen dem eigentlichen Produkt und dem Fahrzeug, das es bewegen soll, zu entwickeln, macht genauso wenig Sinn wie Reifentests, die ohne die Berücksichtigung der modernen Fahrassistenzsysteme auskommen wollen.
Um dieses quasi symbiotische Verhältnis zwischen Reifen und dem Rest des Fahrzeugs näher zu thematisieren, widmete die Continental diesem Zusammenhang das aktuelle Technik-Forum in Arvidsjaur im Norden Schwedens, wo der Konzern eine seiner weltweiten Teststrecken betreibt.
Die Auslegung eines Winterreifens in Bezug auf Bauweise und Mischung auf die Fahrerassistenzsysteme eines Pkw verspricht dabei grundsätzlich die Verkürzung von Bremswegen sowie bessere Kurveneigenschaften auf Nässe, Schnee und Eis, umschreibt der Hersteller seine allgemeine Motivation, aktuell bis zu sechs Prozent seines Jahresumsatzes in Forschung und Entwicklung zu investieren. Die Reifenentwickler haben dabei in aufwendigen Versuchen diverse Reifenprofile und ihre Interaktion mit ABS- und ESC-Systemen auf typisch winterlichen Straßen untersucht. Das Ergebnis dabei sei es, so Dr. Burkhard Wies, Leiter der Pkw-Reifenentwicklung Ersatzgeschäft weltweit bei der Continental AG: „Ganzheitliches, aufeinander angepasstes Design von Reifen und Fahrerassistenzsystemen verspricht deutliche Fortschritte, die Unfälle vermeiden helfen sowie Unsicherheiten vieler Autofahrer bei typisch winterlichen Wetterbedingungen verringern kann.“
Dabei kommt es stets auf die jeweilige Anpassung der einzelnen Parameter an. Eine elektronische Stabilitätskontrolle, die eher ein agileres Fahren und somit mehr Schlupf zulässt, benötigt im Detail einen anderen Reifen als „idealen Partner“ als dies etwa bei einem stabileren Set-up des Systems notwenig ist. Dass wie immer in der Reifenentwicklung auch hier die berühmt-berüchtigten Zielkonflikte das Lastenheft bestimmen, machen die Entwicklung moderner Reifen mit dem richtigen Profildesign und Unterbau sowie der passenden Mischung nicht gerade einfacher.
Je nach Profildesign haben Winterreifen unterschiedliche technische Schwerpunkte, die von Fahrerassistenzsystemen teilweise verdeckt oder verstärkt werden können. So würde auf verschneiter Straße ein längsorientierte also in Fahrtrichtung weisende Profilierung ohne ABS zu längeren Bremswegen führen als eine querorientierte. „Beim Bremstest mit ABS würde sich der Unterschied nahezu verwischen, da die Elektronik die Unterschiede der Reifensysteme zugunsten sicherer, optimaler Fahrzeugstabilität minimiert“, sagt Dr. Wies. Bei der Seitenführung ohne ESC würde dagegen das längsorientierte Profil subjektiv und objektiv deutlich bessere Werte abliefern als die querorientierte Version. Wie Versuche der Continental zeigten, könne durch die Zuschaltung der Fahrerassistenzsysteme eine Nivellierung beider Ergebnisse auf hohem Niveau erreicht werden.
Durch die Auslegung von Reifenprofilen auf die Regelsysteme hin können Bremswege auf typisch winterlichen Fahrbahnen verringert werden. „Auch bei der Seitenführung ist es durch angepasste Profilentwicklung möglich, Fortschritte zu realisieren und die Sicherheit im winterlichen Straßenverkehr zu verbessern“, so Dr. Wies weiter. Die Ergebnisse der Versuche würden bald in die Produktion einfließen und schließendlich dem Handel und dem Endverbraucher dienen: „Continental wird in kurzer Zeit einen Winterreifen vorstellen, dessen Profildesign auch auf Fahrzeuge mit ABS- und ESC-Regelsystemen zugeschnitten ist.“
Bei der gegenseitigen Optimierung der Entwicklung von Fahrassistenzsystemen und Winterreifen erwarten die Ingenieure von Continental deutliche Fortschritte bei der Reduzierung von Bremswegen auf verschneiten Straßen. Hohes Potenzial in der Gewinnung bislang nicht optimal genutzter Bremskräfte verspreche dabei die Entwicklung eines sogenannten „Hochschlupf-ABS“. Der Vorteil: Durch bewusst eingestellten hohen Bremsschlupf der erheblich über die üblichen zehn Prozent hinausgeht, könnten deutlich höhere Traktionswerte übertragen werden. Eine Verringerung der Bremswege um zehn Prozent konnte bereits in Versuchsreihen mit speziellen Reifen und Assistenzsystemen erreicht werden, so der Hersteller. Dem bei einem solchen „Hochschlupf-ABS“ bislang auftretenden Verlust bei den Seitenführungseigenschaften werde begegnet, indem man sich die ESC-Sensorik zunutze macht und bei erkannter Fahrzeuginstabilität beziehungsweise bei Kurvenfahrt in den Standard-ABS-Modus schaltet.
„Die Strategie zur Anpassung von Winterreifen an die Funktionsweise des ESC ist, dass man Winterreifen mit sehr hoher Querlamellierung entwickelt“, erläutert der Leiter der Pkw-Reifenentwicklung Ersatzgeschäft weltweit den Ansatz der Reifenentwicklung. „Wegen ihrer guten Bremseigenschaften auf sehr rutschigen Untergründen wie Schnee und Eis verbessern solche Reifen beim Blockierbremseingriff des ESC an einzelnen Rädern durch ihr Längsstabilitätsverhalten das Querstabilitätsverhalten des Fahrzeuges.“
Durch die vielfältigen Forschungs- und Entwicklungsvorhaben sehen sie sich die Reifenentwickler von Continental gut gerüstet, künftig solche aufeinander abgestimmte Reifen- und Fahrerassistenzsysteme vorstellen zu können, die die Sicherheit in winterlichem Straßenverkehr deutlich verbessern könnten.
Dabei führen die unterschiedlichen Gripmechanismen, die einen Reifen auf Schnee oder auf Eis zum Stehen bringen, dazu, dass eben für beide Untergründe eigentlich verschiedene Konzepte der Profilauslegung notwendig sind. Für eine Studie hat Continental nun neue Konzepte für die Haftung auf typisch winterlichen Fahrbahnen entwickelt und stellte in Arvidsjaur beim Technik-Forum gleich drei grundsätzlich verschiedene theoretische Lösungsansätze vor, die bei der Entwicklung künftiger Reifengenerationen einfließen könnten und mehr Haftung und kürzere Bremswege erlauben könnten als bisher. Weitere Forschungsergebnisse zeigten, dass die Wärmeableitung aus der Bodenaufstandsfläche die Haftung vor allem auf eisbedeckter Fahrbahn weiter verbessern kann. Die drei Konzeptreifen, die Dr. Gerrit Bolz, Winterreifenspezialist von Continental, entwickelt hat, nennt er WinterMaxIce – also sozusagen der Spezialist auf Eis – und WinterMaxSnow – also der Spezialist auf Schnee. Dazu kommt noch ein Profil, dass den Teilnehmern des Technik-Forums als „SnowChainConcept“ vorgestellt wurde und eben an eine Schneekette oder einen Landwirtschaftsreifen erinnert. Jeder dieser Konzeptreifen bietet auf gewissen Untergründen Vorteile gegenüber den anderen Konzeptreifen und natürlich auch gegenüber den von Continental gefertigten Serienreifen, die – wie allseits bekannt – stets das Produkt eines Kompromisses oder der Lösung von Zielkonflikten ist. Keiner dieser Konzeptreifen könnte so je in Serie gehen, schließlich sind sie nur in Bezug auf eine Rahmenbedingung optimiert, nicht aber in Bezug auf alle, also etwa Nässe und Trockenheit. Dennoch: „Die Ergebnisse der Test werden in künftige Reifenkonstruktionen einfließen“, ist sich Dr. Bolz sicher. „Ganz sicher werden wir keine direkte Übertragung sehen können, da die Zielkonflikte mit anderen nötigen Leistungsparametern von Winterreifen zu hoch sind. Aber allein die Ergebnisse haben uns gezeigt, welche Möglichkeiten es noch gibt und wo die Parameter für weitere Leistungssteigerungen bei Winterreifen liegen.“
Den Reifenentwicklern der Continental zufolge könnten ebenfalls weitere Fortschritte in der Konstruktion eines modernen Winterreifens erzielt werden, indem man künftig noch mehr die physikalischen Effekte in der Bodenaufstandsfläche analysiert. Continental hat dabei insbesondere die Thermodynamik im Blick. Ein Reifen, der aufsteht oder bewegt wird, entwickelt Wärme, wobei die Wärme durch den Druck, also die Last des Reifens und des Fahrzeugs, eigentlich zu vernachlässigen sei. Die Frage, die sich die Reifenentwickler hier also stellen, ist: Inwiefern beeinflussen ein Temperaturunterschied und gegebenenfalls das Antauen der Fahrbahnoberfläche das Grip-Niveau? Wichtiger noch: Inwiefern erhöht das Eingreifen der Fahrassistenzsysteme die Temperaturunterschiede und somit das Grip-Niveau? Mittels Wärmebildkameras hat der Reifenhersteller in Kooperation mit der Universität Hannover herausgefunden, dass beim Kurvenfahren mit ESC „rund zehn Grad Celsius an der Kontaktfläche zwischen Eis und Reifen“ auftreten, so Dr. Bolz weiter. Bei alltäglichen Fahrsituationen entsteht zwar nur ein wenige Mikrometer dünner Schmelzfilm, dieser ermögliche aber das Rutschen auf Eis. „Diese Temperaturen lassen sich reduzieren“, zeigt sich der Reifenhersteller aus Hannover überzeugt und gewährt einen kleinen Einblick in derzeit laufende Patentanträge. „Vor allem die Wärmeableitung über den Reifen wollen wir mit neuen Materialien beschleunigen, um die Temperaturen in der Kontaktfläche zu verringern und so die Kraftübertragung anzuheben.“ Laborversuche hätten demnach gezeigt, dass die Materialforscher mit ihrem Ansatz auf dem richtigen Weg seien. Weitere Außenversuche im Laufe dieses Winters sollen zeigen, wie groß das endgültige Potenzial von wärmeleitfähigeren Materialien in der Reifenmischung ist. Gummi, so betont Bolz, sei dabei ein überaus schlechter Leiter. Durch die Beigabe entsprechender Materialien, so hätten Tests gezeigt, könne die Leitfähigkeit des Reifens um bis zu 25 Prozent erhöht werden. Das Ergebnis: Der Reifen leitet die Wärme besser ab, es taut weniger Eis an und die Reibung des Reifens erhöht sich.
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