Wo man deutsch spricht
Der Continental-Konzern schwebt derzeit auf Wolke sieben. Umsatz- und Ertragskurven streben Höchstmarken zu. Nie zuvor hat der Konzern ein besseres Jahr vorweisen können. Auch die Börse hat es honoriert. Mit 44 Euro bewegt sich der Kurs in der Nähe des Allzeithochs und eine Börsenkapitalisierung von rund 6 Milliarden Euro beweist, dass Manfred Wennemer und Kollegen nicht schlecht gearbeitet haben. Rückschläge gab es auch, sie fielen aber kaum ins Gewicht. Wesentlichen Anteil am Ergebnis hat die von Heinz-Jürgen Schmidt geleitete Division Pkw-/Leicht-Lkw-Reifen Europa. So viel Geld können die Reifenexperten in den USA gar nicht in den Sand setzen, dass Schmidts Beritt es nicht mühelos glatt zu bügeln wüsste.
Continental setzt seinen Wandel zum Automotive Supplier konsequent fort. Inzwischen steht der Reifenumsatz bereits für weniger als die Hälfte des Konzernumsatzes und es wird mit Interesse zu verfolgen sein, ob sich der Konzern von seinem Bereich Nutzfahrzeugreifen trennen wird. Derartige Spekulationen und Erwartungen haben sowohl Vorstandschef Wennemer als auch Finanzchef Hippe immer wieder angeheizt. Manfred Wennemer will eigenen Angaben zufolge nur dort sein, wo man Führungspositionen hat oder erreichen kann und das ist mit Nutzfahrzeugreifen nicht der Fall. Der Abstand zu den beiden die Märkte beherrschenden Konkurrenten Michelin und Bridgestone ist viel zu groß und auch der langsam wieder in Schwung kommende Reifenriese Goodyear, der sich selbst immer noch als weltgrößten Reifenhersteller bezeichnet, ist von den Deutschen nicht zu überwinden. Dabei ist es aber keinesfalls so, dass den Deutschen die technische Kompetenz abhanden gekommen wäre, um mit dieser Division bestehen zu können, sondern es fehlt – jedenfalls aus Sicht von Beobachtern – am erklärten Willen, dieses Geschäft zum Kerngeschäft zu erklären, um dann auch all die Investitionen zu tätigen, die erforderlich sind, um bestehen zu können. Allein die öffentlichen Erklärungen, die Nutzfahrzeugreifen-Division werde verkauft, wenn die intern gesetzten Vorgaben verfehlt würden, schafft nur Unruhe bei der Belegschaft, aber auch bei den langfristig planenden Erstausrüstern. Dabei läuft das Geschäft derzeit gar nicht schlecht. Zum Jahresende könnte sich ein Umsatz in der Nähe von etwa 1,5 Milliarden Euro addieren bei einer EBIT-Marge von leicht mehr als sechs Prozent. Hier ist allerdings zu berücksichtigen, dass derzeit die Nachfrage nach Lkw-Reifen für den Continental-Konzern größer ist als die Fähigkeit auch liefern zu können. Nach wie vor werden auch noch in größerem Umfang Private Brands hergestellt, die der besseren Durchsetzung der Marke Continental im Markt nicht dienlich sind und vor allem sind die Fortschritte im Markt nicht sichtbar geworden bei Flotten und Großverbrauchern. Continental ist nach wie vor vorrangig auf Anhängern zu sehen, die Zugmaschinen im Fernverkehr bleiben die Domäne von Michelin und Bridgestone. Aus dem Runderneuerungsgeschäft hat sich der Konzern nach hier vertretener Ansicht auch zur Unzeit zurückgezogen und ging eine Zusammenarbeit mit Bandag ein, während alle anderen ernst zu nehmenden Konkurrenten dieses Geschäft in eigener Regie führen bzw. Partnerschaften eingingen, in denen sie das Sagen und die Führung behalten haben.
Man wird in Rechnung zu stellen haben, dass der weiter im Wandel befindliche Konzern auch einem Wandel seiner Unternehmenskultur unterliegt und von seinem Selbstverständnis her die Nutzfahrzeugreifen-Division als nicht mehr zwingend ansehen muss, ganz im Gegensatz zu den Konkurrenten in den Reifenmärkten. Letztlich geht es wohl gar nicht mehr um Ergebnisverbesserungen, die Würfel dürften längst gefallen sein. Anders als zur Vorbereitung auf Unvermeidliches sind die Trennungs- und Verkaufshinweise des Managements kaum zu verstehen. Doch zuerst müsste sich ein kaufkräftiger Interessent für diesen Bereich des Konzerns interessieren. Ob sich überhaupt einer findet, ist alles andere als abgemacht.
Damit sind aber auch schon alle Fragezeichen abgearbeitet. Als Hersteller von Pkw- und Leicht-Lkw-Reifen ist Continental besonders in Europa sehr stark geworden und auch in Asien sind Fortschritte zu verzeichnen. In den USA wird man auch langfristig kaum „aus eigener Kraft“ erfolgreich werden, wobei damit gemeint ist, dass die amerikanischen Werke zu alt, zu heruntergekommen sind und deshalb die Herstellungskosten zu hoch liegen. Entlastung soll auch da wieder mittels der bekannten Conti-Strategie erfolgen: Verlagerung von Produktionskapazität in Billiglohnländer. In Brasilien wird Continental somit eine Viertelmilliarde Dollar investieren und eine größere Produktionsstätte betreiben und in Zukunft viele Reifen in die USA exportieren. Das ist im Übrigen das, was Pirelli auch tut. Die Italiener haben ebenfalls im brasilianischen Bundesstaat Bahia eine große Reifenfabrik gebaut, deren Produktionskapazität überwiegend in die USA geht. Mit anderen Worten: Conti strebt an, zu billigen Konditionen in Mexiko und Brasilien Reifen herzustellen, die dann in den USA teuer verkauft werden sollen. Und je besser das funktioniert, umso größer wird der Druck und Zwang, immer mehr Produktionskapazitäten aus den amerikanischen Werken herauszunehmen und in Billiglohnländer zu verlagern. Möglicherweise werden auch weitere US-Werke geschlossen.
Das Herz der Continental, jedenfalls als Reifenhersteller, ist aber immer noch Europa und daran wird sich auch so viel in den kommenden Jahren nicht ändern. In den ersten drei Quartalen des Jahres 2004 wurden knapp drei Milliarden Euro umgesetzt. Die darin enthaltenen amerikanischen Umsätze und Verluste fielen niedriger aus als im vergleichbaren Vorjahreszeitraum und im Übrigen spielt der gegen den Dollar hoch bewertete Euro dem Management in die Hände. Dass die EBIT-Marge trotz der US-Verluste noch über acht Prozent liegt, ist bemerkenswert. Ohne Berücksichtigung der Restrukturierungsmaßnahmen hätte nach Continentals eigenen Angaben die Umsatzrendite (EBIT-Marge) bei 12 Prozent gelegen. Das ist ein Wert, den gegenwärtig außer dem relativ kleinen finnischen Reifenhersteller Nokian niemand erreicht. Und Finanzchef Hippe sieht Continental gegenüber Michelin langfristig in vorteilhafter Position, weil Continental bereits 46 Prozent der Produktion aus Billiglohnländern beziehen kann, während es bei Michelin lediglich sieben Prozent seien.
Hier aber muss man Hippe nicht zwangsläufig gedanklich folgen. Auch die Franzosen befinden sich auf Erfolgskurs, obwohl sie nicht in Billiglohnländer geflüchtet sind. Einerseits zeichnet sich ja ab, dass auch sie in Ländern wie Polen, Rumänien und Russland Produktionskapazität aufbauen und den Vorsprung der Continental verringern und zum anderen deuten die heute erzielten Ergebnisse darauf hin, dass die westeuropäischen Werke wettbewerbsfähig geblieben sind. Unter strategischem Aspekt könnte daher das genaue Gegenteil dessen richtig sein, was Dr. Hippe meint: Mit zunehmender Zeit wird sich die Schere zwischen den teuren und den billigen Standorten wieder mehr schließen und Continentals Vorsprung verzehren. Die Produktionsverlagerung als Flucht in Billiglohnländer zu beschreiben, gefällt natürlich nicht jedem Conti-Manager. Aber diese Beschreibung trifft nach hier vertretener Überzeugung die Wirklichkeit am besten. Betriebswirtschaftlich mag es für Continental richtig sein, volkswirtschaftlich wirkt es verheerend. Und es reflektiert auch Unvermögen. Billiger herstellen zu können ist nur eine Seite der Medaille, die Rückseite dieser Medaille sagt etwas aus über die Fähigkeit, Produkte zu Top-Preisen verkaufen zu können. Denn nur wer permanent zu Top-Preisen mit seinen Produkten Absatz findet, hat eine wirkliche Marktverankerung geschaffen. Nichts ist so schnell nachzumachen wie ein niedriger Preis.
Alles das ist Zukunftsbetrachtung. Heute führt Heinz-Jürgen Schmidt die Division Europa und das mit großem Erfolg. Laut Schmidt ist der Erfolg darin begründet, dass 1996 bereit ein paar wirkliche Kernziele definiert worden seien und unter Führung von Hubertus von Grünberg eine Dynamik entstanden sei, die letztlich ein Momentum auslöste. Man habe sich in allen Fabriken konsequent um Kostenreduzierungen gekümmert und Grundlagen für die Verlagerung von Produktionskapazitäten geschaffen wo immer sich das angeboten habe. Dank dieses Kostenbewusstseins in Verbindung mit einem Expansionskurs und der Konzentration auf qualifizierte Vermarktung habe sich die Ertragslage so spürbar verbessern lassen. Doch es gibt Gegenwind, auch wenn die derzeitigen Rekordergebnisse (auch die Konkurrenten der Continental stehen ja weiß Gott nicht zurück) das nicht ausweisen. Das Produktmix wurde zwar weiterhin verbessert, aber die Preise entwickeln sich über die Jahre hinweg nach unten und der Druck auf die Premium-Marken wächst. Billigmarken bzw. die als solche umschriebenen Budget- oder gar Low-Budget-Marken wachsen schneller. Die Steigerung der Ertragszahlen kommt zustande, weil es Umsatzwachstum zu verzeichnen gibt und Überkapazitäten momentan jedenfalls nicht auf die europäischen Märkte drücken. H.-J. Schmidt sieht das darin begründet, dass die Anbieter aus Fernost vor ihren Haustüren besseren Absatz als je zuvor gefunden haben und nicht mehr auf Gedeih und Verderb Absatzmöglichkeiten in ohnehin bereits hart umkämpften Märkten suchen müssen und auch darin, dass in Osteuropa der Bedarf anwächst und etwas Druck von den westeuropäischen Märkten genommen hat.
Verbesserung des Produktmix wird überall als notwendig erachtet, so auch bei Continental. Allerdings fügt Schmidt im Gespräch mit dieser Zeitschrift hinzu: „Das ist zwar ein sehr positiver Faktor, aber wir setzen auch weiterhin auf S- und T-Reifen, also auf den gesamten Markt und nicht nur das obere Segment, für das wir zusätzliche Kapazitäten geschaffen haben. Anders geht es auch gar nicht, denn was gestern noch preislich attraktiv war, ist heute schon wieder in vielen Fällen zur Massenware geworden. Da muss man nur an ein paar Dimensionen in 17 und 18 Zoll denken. Das ging schneller als man sich zunächst vorstellen konnte.“
Dennoch werden die Premium-Segmente und Premium-Marken weiter eine große Rolle spielen. Nur gute Marken, somit die Führungsmarken der Konzerne, sind in der Erstausrüstung vertreten und bereiten die Nachfrage in den Ersatzmärkten vor. Die Runflat-Technologie läuft ausnahmslos in Verbindung mit den Führungsmarken.
Aber Schmidt berichtet im Gespräch auch über ein geändertes Käuferverhalten, das sich in vielen Branchen zeige und im Reifengeschäft noch nicht so gravierend sei. Vieles läuft offenbar wieder auf die so bezeichneten Medium-Marken zu. Und das gilt insbesondere für Bereifungen von Klein- und Mittelklassefahrzeugen. Bei sinkender Jahreslaufleistung kommt der Ersatzbedarf auch erst später. Und je mehr Zeit zwischen Anschaffung des Neuwagens und Ersatzbedarf für Reifen liegt, umso stärker die Bereitschaft, beim Reifenkauf weniger auf die Marke als auf den Preis zu achten.
H.-J. Schmidt sieht auch weitere Veränderungen auf der Handelsseite. In der Distribution werde es zwar keine Revolutionen geben, aber Evolutionen. Der stark unter Druck geratene Reifenfachhandel hat sich, so Schmidts Beobachtung, „europaweit wieder stabilisieren können und das Heranwachsen neuer Distributionswege ist in einigen Ländern, so zum Beispiel in Frankreich, schon wieder zum Stillstand gekommen“. Und Schmidt sieht auch große Gefahren darin, wenn größere Vermarkter nicht mehr über eine Umsatzsteigerung in ihren vorhandenen Niederlassungen wachsen, sondern nur durch neu hinzugekommene Niederlassungen. Und in Bezug auf den Reifenfachhandel ist Schmidt weit davon entfernt, Namen zu nennen. Aber ganz allgemein sieht er die besten Chancen für ein mittelständisches Unternehmen mit zwei bis drei Niederlassungen und einer Umsatzgrößenordnung um die fünf Millionen Euro. In diesen Unternehmen komme es letztlich immer wieder auf die Menschen an und darauf, dass Preise und Kosten im Griff gehalten würden. Das falle größeren Unternehmen deutlich schwerer, diese seien weitaus anfälliger für Veränderungen im Wettbewerb und oft nicht in der Lage, schnell genug zu reagieren.
Und relativ zurückhaltend fällt Schmidts Urteil über die am Markt miteinander im Wettbewerb stehenden Kooperationen aus. Doch nun müsse sich zeigen, ob die Kooperationen auch die vor ihnen liegenden schwierigen Anpassungsprozesse durchziehen und sich so stabilisieren könnten. Größe allein führe jedenfalls nicht zu Stärke und Fusionen auch nicht. Die spannende Frage jedes Mal sei doch für Mitglieder von Kooperationen: Was verschafft welche Werte. Was ist es dem einzelnen Mitglied wert, eine Art Heimat in der Kooperation zu haben? Was ist ein Markendach wert? Welche Marken präferiert die Kooperation, hat sie Exklusivmarken? Welche Hilfen im Marketingbereich gibt es, wie sind die Flottengeschäfte geregelt und die Pannenservices? Kooperationen bezeichnet Schmidt als „sinnvolle Einrichtungen“. Wer am Flottengeschäft teilhaben will, der kann das ohne Mitglied einer Kooperation zu sein vergessen. Flotten und Leasinggesellschaften wollen Einfachheit und Klarheit in der Abwicklung und können nicht individuell mit jedermann zusammenarbeiten. Aber offenbar gibt es manchmal auch zu viel des Guten?
Organisatorisch ist Continental in Europa im Vergleich zum Wettbewerb vielleicht schon am weitesten vorangekommen. Längst gibt es kein Denken mehr von einer Landesgrenze zur nächsten, sondern es haben sich Regionen gebildet. Deutschland/Österreich und die Schweiz bilden das Herzstück des Reifenkonzerns. Zusammengefasst sind auch Skandinavien und die Nordischen Länder, Benelux und Spanien/Portugal. Von Tschechien aus werden einige weitere mitteleuropäische Länder und Staaten der früheren Sowjetunion geführt, während größere Länder wie Polen und Russland weiterhin separat geführt bleiben.
Nordamerika (USA/Kanada/Mexiko) bildet zwar noch eine Einheit für sich, aber bereits mittelfristig besteht für Schmidt kein Zweifel, dass sich dort eine Region “The Americas” herausschälen wird, die die Geschäfte in Nord- und Lateinamerika führen wird.
Heinz-Jürgen Schmidt kann sich derzeit ruhig zurücklehnen, seine Division ist weitaus besser als die meisten Beobachter bisher zur Kenntnis nehmen konnten. Insbesondere nachdem die Verluste der vormaligen General Tire (jetzt Continental Tire North America) nicht mehr gesondert bekannt gegeben werden, sondern sich in den Zahlen der Pkw-Division wie der Nutzfahrzeugreifen-Division wiederfinden.
Fraglos ist der Continental-Konzern, der derzeit bereits nahezu jeden zweiten Reifen aus Billiglohnländern bezieht, gegenüber seinen Konkurrenten im Vorteil. Langfristig muss das aber eher als Nachteil denn als Vorteil gewertet werden, auf jeden Fall dann, wenn es Konkurrenten wie Michelin, Bridgestone und Goodyear tatsächlich gelingt, ihre westeuropäischen Werke so auf Vordermann zu halten wie bisher, denn dann schließt sich die Schere immer weiter und der Vorteil der Conti wendet sich ins Gegenteil.
Und es lauern auf diesem Weg weitere Unwägbarkeiten, wie man an den neuesten Entwicklungen in Russland sehen kann. Hier ist das Reifenwerk auf einmal, sofern man den Konzernangaben trauen kann, bereits zu teuer geworden. Die Menschen in Moskau verlangen zu viel Lohn und es gibt offenbar zu wenig verfügbare Arbeitskräfte mit ausreichenden Sprachkenntnissen. Und wo es diese besser qualifizierten Mitarbeiter gibt, verlangen sie dreisterweise mehr Geld. Mit einem Schlag ist es aus Sicht des Continental-Managements besser und kostengünstiger, in Rumänien fertigen zu lassen, um diese Reifen dann in Russland zu verkaufen. Ob sich so eine stabile Marktposition schaffen lässt, muss doch zurückhaltend beurteilt werden. Irritierend auch die Erkenntnis des Conti-Managements, dass eine EBIT-Marge von mehr als zehn Prozent so etwas wie eine psychologische Hürde bei den Automobilherstellern erzeugt. Wenn das so ist, könnte die Hürde zukünftig noch höher werden, denn es ist zu verlockend für schlecht verdienende Autobauer, sich auf Kosten ihrer Lieferanten zu erholen.
Richtig aber ist dennoch: Der Konzern befindet sich weiter in einem absoluten Höhenflug, er hat es verstanden, seine Schulden deutlich abzubauen und er hat wohl auch im Reifengeschäft die Investitionen nicht ganz vergessen. Und Höhenflüge kommen nicht so ganz automatisch, sondern sind das Resultat einer Vielzahl richtiger Entscheidungen der Vergangenheit.
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