Mit TIA will Siemens die Reifenproduktion noch besser „ins Rollen“ bringen

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Es gibt wohl kaum jemanden, der die deutsche Siemens AG nicht kennt. Doch die Zahl derjenigen, die sie sofort auch mit der Produktion von Reifen in Verbindung bringen, dürfte vergleichsweise überschaubar ausfallen. Dabei hat die Reifenindustrie „Tradition bei Siemens“, wie Peter Haan, Leiter Business Development OEM in Sachen Batterie- und Reifenproduktion bei der Industry-Automation-Division des Konzerns, im Gespräch mit der NEUE REIFENZEITUNG den Stellenwert der Branche für das Unternehmen umschreibt. Seit über 30 Jahren unterstütze man die Reifenindustrie, ihre Produktion „ins Rollen“ zu bringen, und könne sich dabei nicht zuletzt dank TIA – das Akronym steht für Totally Integrated Automation – von allen anderen Automatisierungsanbietern am Markt abheben.

Allerdings hinterlassen die Systeme des Anbieters genauso wie diejenigen seiner Wettbewerber, mit denen in so mancher Reifenfabrik die zur Produktion der schwarzen Rundlinge eingesetzten Maschinen bzw. Anlagen gesteuert und überwacht werden, aufgrund ihrer Unterbringung in meist eher unscheinbaren grauen Kästen bzw. Schaltschränken oder -tafeln wohl in den wenigsten Fällen einen bleibenden Eindruck etwa bei der Besichtigung eines Reifenwerkes. Zu viel Anderes gibt es bei solchen Gelegenheiten zu sehen angefangen von den Mischern über die Reifenaufbaumaschinen bis hin letztlich zu den Vulkanisationspressen. Gleichwohl würde wohl in keinem modernen Reifenwerk ohne entsprechende, im Hintergrund unauffällig arbeitende Steuerungs- und Regelungselektronik bzw. Automatisierungs- und Antriebstechnik wirklich etwas rund laufen.

Haan selbst steht seit 25 Jahren in Diensten von Siemens und kümmert sich innerhalb dessen in Nürnberg beheimateter Industry-Automation-Sparte seit knapp drei Jahren unter anderem um das Thema Reifenproduktion. Wie er sagt, zählt der Konzern schon seit Jahrzehnten Unternehmen aus der Reifenbranche bzw. der Reifenindustrie zu seinen Kunden. „Dabei sind die Reifenhersteller aber nur ein Teil des für uns wichtigen Geschäfts. Der vielleicht sogar wichtigere Teil des Geschäfts in der Reifenindustrie erfolgt mit Maschinen- und Anlagenbauern, die ihrerseits wiederum Lieferanten der Reifenhersteller sind. Es ist unsere Strategie, beiden Kundengruppen einen individuellen Mehrwert zu bieten, der dann in Summe zu einem großen Vorteil für unsere Kunden führt“, erklärt Haan, wobei er zugleich von einer seit einigen Jahren im Inland wie international verstärkten Nachfrage nach Produkten und Systemen seines Hauses berichtet. „Hier ist vor allem das sich sehr erfreulich entwickelnde Geschäft mit den international agierenden Marktführern der Reifenproduktionsmaschinen zu erwähnen. Gerade den global tätigen Maschinenbauern können wir als ebenfalls global ausgerichteter Konzern einen wesentlichen Mehrwert bieten: Dieselben Produkte, Systeme, aber auch Lösungen und Kundenservice können in Deutschland, Europa oder aber auch in China bezogen werden“, sagt er.

Damit sei man gewissermaßen idealer Partner, etwa wenn die Produktion beispielsweise sowohl in Deutschland als auch in China erfolgen soll. Siemens bzw. die Sparte, die sich mit Lösungen rund um die Reifenherstellung beschäftigt, beschreibt er in diesem Zusammenhang als global agierendes Unternehmen mit Wurzeln in Deutschland, dem der deutsche Markt sehr am Herzen liegt. „Auch unsere europäischen Partner in Italien und den Niederlanden sind eng eingebunden. Die oft zitierten BRIC-Staaten – Brasilien, Russland, Indien, China – haben sicherlich auch für die Reifenindustrie eine Schlüsselfunktion mit unterschiedlichen Ausprägungen“, erklärt er. China wertet er sowohl bei den Reifenherstellern wie in Bezug auf die Maschinenproduzenten als sehr stark, und Indien besitze ebenfalls beide Komponenten, wenngleich er mit Blick auf den dortigen Maschinenbau von einer etwas schwächeren Ausprägung spricht. „Brasilien und Russland stehen derzeit im Fokus vieler Reifenhersteller, was für uns bedeutet, dass wir dort exzellenten Service von der Inbetriebnahme gemeinsam mit ausländischen Maschinenlieferanten bis zur täglichen Ersatzteilhaltung und Wartung bieten“, erklärt Haan, warum das Unternehmen in diesem Frühjahr auch an der Messe „Tires & Rubber“ in Moskau teilgenommen hat.

Überhaupt gehört es demnach zur Philosophie des Unternehmens, global agierende Kunden – egal ob Maschinenbau oder Reifenhersteller – „global-lokal“ zu betreuen. Das heißt: Für jede Niederlassung der eigenen Kunden steht aufseiten von Siemens ein lokaler Ansprechpartner zur Verfügung. Man sehe sich gewissermaßen als der „Nachbar in Rufweite“ und spreche die Sprache des Kunden. „Was in diesem Falle wörtlich zu verstehen ist“, so Haan. Die Koordination erfolge bei Großkunden über ein globales Account-Management, das sich räumlich sehr oft am Hauptsitz des Kunden befinde. Die Koordination des Vertriebs für global agierende Maschinenbaukunden liege in den Händen des Stammhauses in Nürnberg, das auch die Verbindung zu den Account-Managern hält. Darüber hinaus wird in Hannover ein sogenanntes „Competence Center Reifen“ unterhalten, wo mehrere Dutzend Mitarbeiter an branchenspezifischen Leitentwicklungen arbeiten, die dann weltweit realisiert werden.

Genaue Zahlen dazu, wie viele Mitarbeiter des Konzerns an Lösungen rund um die Reifenproduktion arbeiten oder welche Umsätze die Siemens AG speziell in diesem Segment erzielt, lassen sich Haan jedoch nicht entlocken. Da man die Branche global bediene und etwa allein in China derzeit über 400 Reifenhersteller Maschinen und Anlagen beziehen, die überwiegend über Siemens-Distributionspartner bedient werden, seien mit Blick auf die in Reifenfragen involvierten Mitarbeiter exakt quantifizierbare Aussagen sehr schwierig. Und Umsätze für einzelne Geschäftssegmente wie für den Bereich der Reifenproduktion veröffentliche man als börsennotiertes Unternehmen ohnehin nicht, sagt er. Einfacher fällt Haan, die Hauptunterscheidungsmerkmale des Siemens-Angebotes für die Reifenindustrie im Vergleich zu entsprechenden Lösungen von Wettbewerbern oder Eigenentwicklungen der Reifenhersteller darzulegen. „Die von uns unter dem Namen Totally Integrated Automation – kurz TIA – angebotene Durchgängigkeit von der Produktionsplanung über die Realisierung bis hin zur Wartung und Pflege aller Produktionsteile einerseits und die Durchgängigkeit von der ERP-Ankopplung bis hin in die Feldebene der elektrischen Sensoren und Aktoren andererseits wird derzeit von keinem anderen Automatisierungsanbieter erreicht“, erklärt er.


Dank vertikaler Integration der Produktionsdaten in ein sogenanntes „Manufacturing Execution System“ (MES) soll sich die Anlagenproduktivität deutlich erhöhen lassen. „Dadurch können Unternehmen in Echtzeit unternehmensweit auf sämtliche Produktionsparameter der Reifen zugreifen. So lassen sich Fertigungsabläufe synchronisieren, Geschäftsentscheidungen evaluieren und Innovationen im Reifenbau schnell umsetzen – Unternehmen können ihre Prozesse optimieren und so verborgenes Potenzial nutzen, um ihre Produktivität zu steigern“, verspricht Siemens

TIA decke den kompletten Produktionsprozess angefangen beim Gummimischprozess mit Getrieben für Mischer und Extruder über die Herstellung der Halberzeugnisse, den Reifenbau, die Vulkanisation und automatische Endkontrolle bis hin zur Schnittstelle zum ERP-System ab. Für die Verknüpfung sämtlicher Einzelschritte in der Reifenherstellung liefert Siemens demnach Logistik- und Transportlösungen sowie automatisierte Lagersysteme als Produktions- und Versandpuffer entsprechend den Anforderungen der Kunden. Und dank als intelligent bezeichneter Software-Tools des Konzerns zur Fabrikplanung und -erweiterung sollen Unternehmen frühzeitig die einzelnen Fertigungsschritte simulieren sowie – wie Haan besonders betont – vor allem auch optimieren können. Abgesehen von der Globalisierung und dem Wachstum der weltweiten Reifenindustrie insgesamt sieht er im Übrigen gerade auch in deren „gewissen Nachholbedarf in Sachen Automatisierung“ zusätzliches Potenzial für die Siemens-Sparte rund um die Reifenherstellung bzw. deren Produkte und Lösungen.

Seinen Worten zufolge ist diesbezüglich beispielsweise die Automobilindustrie schon viel weiter und könne weltweit durchschnittlich mit einem deutlich höheren Automatisierungsgrad aufwarten als die Reifenindustrie. „Die Reifenindustrie kann von der Automobilindustrie noch eine Menge lernen. Der digitale Entwurf neuer Produktionsanlagen oder wesentlicher Teilanlagen gehört in beiden Branchen zum Handwerkszeug der Fabrikplaner. Aber in der Automobilindustrie folgt diesem Entwurf ein wichtiger Optimierungsschritt durch die konsequente Nutzung digitaler Simulationsverfahren. Jeder Produktionsschritt wird simuliert und für sich optimiert. Danach erfolgt die Optimierung der Gesamtproduktion inklusive der Simulation verschiedener Szenarien wie zum Beispiel dem Ausfall verschiedener Kernmaschinen, der Auswirkung der Komplexitätserhöhung durch zusätzlich auf derselben Anlage gefertigte Produkte usw. Lösungen für die digitale Fabrikplanung können die Auslastung der installierten Maschinen wesentlich steigern, die Realisierungszeit verkürzen und somit die Kosten senken“, meint Haan unter Verweis auf die „Tecnomatix Plant Simulation“ genannte Siemens-Software, die in der Automobilindustrie etabliert sei, mit der man in der Reifenindustrie demgegenüber aber so etwas wie Pionierarbeit leiste.

Nach seiner Meinung werden aber auch Reifenhersteller in Zukunft ihre neue Produktion sehen wollen, bevor sie diese in Auftrag geben. „Produktionsausstoß, benötigte Anzahl von Maschinen, Material- und Ressourcenverbrauch, Wartungs- und Pflegekosten, das alles sind Fragen, die beantwortet werden müssen, bevor es zur Auftragsvergabe kommt. Digitale Entwurfs- und Simulationsverfahren sind hierzu unerlässlich“, sieht Haan Siemens diesbezüglich gut aufgestellt, zumal man auch die „Durchgängigkeit zur realen Fabrikwelt“ gewährleisten könne. Was er damit meint, erklärt er an einem konkreten Beispiel. „So kann unsere speicherprogrammierbare Steuerung ‚Simatic S7’ nicht nur reale Maschinen automatisieren, sondern auch die digitale Simulation dieser Maschinen. Das ermöglicht den Entwicklern der SPS-Programme alle Softwareteile in Betrieb zu nehmen, obwohl die reale Maschine noch gar nicht fertiggestellt ist. Bedienstationen können mit dem Kunden getestet werden, lange bevor eine gewünschte Optimierung der Bedienergonomie zur Verzögerung des Liefertermins führt. Und das Bedienpersonal ist bereits vollständig geschult und eingewiesen, wenn die Maschine geliefert wird. Das sehe ich als wesentlichen Hebel zur Kostensenkung in den nächsten Jahren“, sagt Peter Haan.

„Wir wissen genau, was die Reifenindustrie braucht. Unser Team kennt die Kunden und ihre Anforderungen sehr gut“, ergänzt er. Und obwohl Haan mit Blick auf konkrete Projekte von sogenannten „Dreiparteiengesprächen“ berichtet, bei denen man sowohl mit Reifen- wie Maschinenherstellen an einem Tisch sitzt, so sind es in erster Linie doch vor allem Letztere, die als direkte Siemens-Kunden zu sehen sind. Zu ihnen zählen solche Firmen wie Konštrukta-Industry aus Trenčín (Slowakei), die US-amerikanischen Poling Group oder das ebenfalls in der Slowakei beheimatete Mesnac European Research and Technical Centre (MERTC) – eine Tochter der chinesischen Qingdao Mesnac Co. Ltd. Company. Aber natürlich kommen Siemens-Systeme nicht nur bei der Neureifenherstellung zum Einsatz, sondern etwa auch in der Runderneuerung. „Oftmals werden die Raumaschinen oder zum Beispiel Heizpressen für die neuen Laufflächen von denselben Maschinenbauern hergestellt, die auch die Maschinen zur Herstellung komplett neuer Reifen herstellen und gehören somit auch zu unseren Kunden, vor allem im Bereich der Lkw-Reifenherstellung“, so Haan auf konkrete Nachfrage der NEUE REIFENZEITUNG.

Unabhängig davon, ob es nun um neue und runderneuerte Reifen geht, beginne bei alldem eine erfolgreiche Zusammenarbeit sehr oft nicht erst bei einem konkreten Projekt, sondern schon viel früher etwa durch die gemeinsame Spezifikation bestimmter Standards. „Aus dem gesamten Produktportfolio müssen diejenigen ausgewählt werden, mit denen sich einerseits alle Anforderungen realisieren lassen. Andererseits soll die Anzahl der spezifizierten Produkte nicht zu groß sein, um die Kosten für Ersatzteilhaltung und Training der Wartungs- und Instandhaltungsmitarbeiter niedrig zu halten. Denn wie bereits erwähnt legen wir besonderen Wert auf einen Kundennutzen für die Reifenhersteller, aber eben auch für die Maschinenbauer. Für diese werden gemeinsam mit der Engineering-Abteilung des Reifenherstellers fertige Images erstellt, die alle benötigten Basissoftwarekomponenten enthalten. Der Maschinenhersteller ergänzt diese um das spezifische Programm seiner Maschine, womit das Zusammenspiel mit den anderen Komponenten bereits von Anfang an gewährleistet ist“, erläutert Haan, wie man sich das Vorgehen bei einem Projekt – beispielsweise die Erweiterung bestehender oder der Aufbau neuer Produktionskapazitäten in der Reifenindustrie – vorzustellen hat.

Sehr gut bewährt hätten sich dabei sogenannte Kickoff-Workshops, mit denen alle drei beteiligten Partner sicherstellen wollen, dasselbe Verständnis der Spezifikation und des gewünschten Lieferumfangs zu haben. „Eine große Erleichterung sind vorentwickelte Hard- oder Softwaremodule, die dann dem Maschinenbauer zur Verfügung gestellt werden wie zum Beispiel die Automatisierung einer Heizpresse. Dies kann auch die Entwicklung und Lieferung des kompletten Schaltschranks beinhalten, wenn vom Maschinenbauer gewünscht. Dabei achten wir sehr darauf, nicht in Wettbewerb zu unseren Kunden zu treten, wenn diese eigene Wertschöpfung an dieser Stelle leisten möchten“, ergänzt er. Wie einer Unternehmensbroschüre zu entnehmen ist, geht es Siemens bei den eigenen Aktivitäten in Sachen Reifenindustrie doch letztendlich darum, deren Produktion mithilfe durchgängiger Lösungen zur Optimierung des kompletten Herstellungsprozesses „ins Rollen“ zu bringen – und da sind möglichst wenig „Reibungsverluste“ schließlich immer von Vorteil. christian.marx@reifenpresse.de

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