“Ein Allheilmittel ist VMI schon lange nicht”
Es ist noch gar nicht so lange her, da sprach der gesamte Reifenmarkt vom „lieferantengesteuerten Bestandsmanagement“. Das sogenannte „Vendor Managed Inventory“ (VMI) wurde den Kunden im Reifenhandel durch die Industrie als Zusatznutzen angeboten, um die Komplexität in der Warenwirtschaft zu verringern und insbesondere die Kosten der Lagerbestände durch die Vernetzung von Unternehmen und EDV zu optimieren. Nahezu alle großen Hersteller haben ihre Instrumente zum automatisierten Lagernachschub am Markt platziert; besonders exponiert haben sich dabei Goodyear (siehe nebenstehenden Beitrag) und auch die Continental, wobei man in Hannover in diesem Zusammenhang eher den übergeordneten Begriff „Efficient Consumer Response“ nutzt. Wie haben sich diese Instrumente seit ihrer Einführung vor gut fünf Jahren am Markt etabliert und haben sie wirklich das gehalten, was ihre Anbieter damals versprachen? Im Gespräch mit der NEUE REIFENZEITUNG berichtet Peter Lüdorf von Gummi Berger (Gummersbach) von seinen Erfahrungen und kommt zu dem Ergebnis: Ein Allheilmittel ist VMI schon lange nicht.
Jeder im Reifenhandel kann ein Lied davon singen. Wenn die Reifendisposition für die neue Saison geplant und durchgeführt wird, vergehen Tage und Wochen, bis man sich als halbwegs vorbereitet betrachten kann – gut gemacht, ist die ‚Dispo’ ein überaus komplexer und zeitaufwendiger Vorgang. Instrumente, die diese Komplexität verringern und darüber hinaus helfen, Geld und Zeit zu sparen, sollten sich folglich großer Beliebtheit erfreuen. Die sich immer stärker entwickelnde elektronische Vernetzung der Unternehmen auf den verschiedenen Ebenen des Reifenmarktes hat Anfang des vergangenen Jahrzehnts die entsprechende Entwicklung solcher Instrumente natürlich sehr beeinflusst. Folglich haben etliche Hersteller viel Zeit und Geld investiert, Instrumente für ein „lieferantengesteuertes Bestandsmanagement“ für ihre Kundschaft im Reifenhandel zu entwickeln und diese Instrumente aufwendig zu platzieren. Einfach formuliert geht es beim „Vendor Managed Inventory“ um ein EDV-gestütztes logistisches Mittel, mit dem der Lieferant Zugriff auf die Lagerbestands- und Nachfragedaten seines Kunden hat und dafür sorgt, dass bei vorher vereinbarten Grenzwerten eine automatisiert erstellte und übermittelte Bestellung dafür sorgt, dass wieder genügend Reifen einer bestimmten Spezifikation am Lager des Kunden sind. Die Lagerbestände werden tendenziell verringert, die Gefahr von Fehlbeständen im Handel auch, so die Theorie.
Während gern behauptet wird, dass eben der Lieferant für den automatisierten Lagernachschub zuständig ist, so der Team-Gesellschafter und Beiratsvorsitzende Lüdorf weiter, sei es doch letztlich der Reifenhändler, „der die Zahlen fertig macht“, also der die Unter- und Obergrenzen der Bestände angeben und entsprechend der Nachfragesituation während der – im Groben vordefinierten – Saisonkurven anpassen muss. Mit Ausnahme der Schnittstelle zum System des Reifenherstellers sei da nicht viel „vendor managed“, also vom Verkäufer gelenkt. Die große Unbekannte ‚Kunde’ mache solche Planungen – gerade in kleinen und mittelständischen Betrieben, die nicht anhand ihrer Größe und regionalen Präsenz auf marktkonforme Absatzzahlen vertrauen können – schnell zunichte. Wie Peter Lüdorf folglich findet, sei das Schlagwort mit der Betonung auf den Lieferanten „irreführend“.
Dass man bei Gummi Berger mit den elf Filialen aber im Grunde genommen immer noch bzw. wieder disponiert wie schon vor Jahren, hat auch andere Gründe. Man habe zwar einige Jahre intensiv mit der Continental als Kunde von „Efficient Consumer Response“ (ECR) zusammengearbeitet, dies dann aber beendet. Der Grund: Es gab immer wieder Probleme bei der Integration der verschiedenen Softwaresysteme. Es ist die alles entscheidende Frage für das reibungslose Funktionieren von ECR: Reden die EDV-Systeme miteinander? Gibt es Probleme bei den Schnittstellen zwischen den verschiedenen EDV-Systemen der gesamten Wertschöpfungskette im Reifenhandel, tritt das auf, wovon Peter Lüdorf berichtet: Automatisch durch ECR ausgelöste Bestellvorgänge wurden vom Empfängersystem nicht so bestätigt, dass das auslösende System beim Reifenhändler sie als bearbeitet und eigentlich geliefert betrachten konnte. Folglich wurde – der Prozessroutine gehorchend – am Folgetag gleich noch eine Bestellung auf den Weg ins System des Herstellers gebracht und dann noch eine und noch eine… Solche Fehlleistungen in der EDV seien zwar für sich genommen nicht übermäßig gravierend, stünden aber symptomatisch für die Störanfälligkeit solcher automatisierten Bestellvorgänge. Peter Lüdorf betont dabei allerdings, dass entsprechende Probleme in der Kommunikation verschiedener Systeme auch nicht vor anderen Herstellern als dem oben genannten Halt machen. Entsprechende Kompatibilitätsprobleme der Systeme bei Hersteller und Händler seien in der Tat nicht unüblich. Wie es dazu aus der Reifenindustrie heißt, sei das Vendor Managed Inventory „technisch nicht ganz unkompliziert, wenn auch lösbar“, wie schließlich auch die überaus positiven Erfahrungen aus dem Lebensmittelhandel zeigen.
Zusätzlich zu den hier genannten Gründen, dass ECR, VMI und Co. sich bisher nicht am Markt durchsetzen konnten, tritt noch ein ganz gewichtiger Grund: Solche Systeme können nur vernünftig funktionieren, wenn die Industrie ausreichend Ware liefern kann, das Angebot also größer als die Nachfrage ist. Dies war in den vergangenen Jahren eher selten der Fall. Insbesondere zu den Wintersaisons sahen sich Reifenhändler immer wieder mit dem Problem der Warenverfügbarkeit konfrontiert. Dass ein automatisierter Lagernachschub seine Vorteile nur dann ausschöpfen kann, wenn auch Reifen nachgeliefert werden können, ist klar.
Und aufseiten der Reifenhersteller treten die üblichen Probleme auf, die immer dann akut werden, wenn man mit einem Verkäufermarkt konfrontiert ist, die Nachfrage also größer als das Angebot ist. Das Problem: Wer bekommt wann welche Reifen und wieviel davon zu welchen Konditionen geliefert? Bedienen Hersteller dann nicht zunächst ihre eigenen und die ihnen nahestehenden Organisationen mit Reifen? Ein Verdacht, der nur schwer zu entkräften ist, auch wenn es sich kein Reifenhersteller auf die Dauer leisten kann, seine Kundschaft allzu einseitig zu bedienen.
Sollte sich der Markt von einem Verkäufer- auf einen Käufermarkt drehen, womit Peter Lüdorf schon bald rechnet – er spricht hier von zwei bis drei Jahren –, dann dürfte sich der Handlungsdruck auf die Reifenindustrie wieder deutlich erhöhen. Während es für Reifenhersteller und deren Verkäufer (und auch für die Reifenhändler) derzeit nicht besonders schwer ist, Reifen zu vernünftigen Konditionen zu verkaufen, könnte der zunehmende Wettbewerb diese Situation bereits in wenigen Jahren wieder umkehren, ist man bei Gummi Berger überzeugt. Dann nämlich, wenn Warenverfügbarkeit kein Problem mehr darstellt, wird das Bedürfnis aufseiten der Industrie wieder groß sein, das verfügbare Produkt über zusätzliche Alleinstellungsmerkmale zu vermarkten. Dazu zählt nicht nur die Konditionsgestaltung, sondern auch zusätzliche Dienstleistungen wie eben ECR, VMI etc. Ein ganz wesentlicher Aspekt, der als Voraussetzung für eine funktionierende automatisierte Nachschubsteuerung à la VMI gegeben sein muss, ist noch gar nicht erwähnt worden: Preisstabilität. Nur wenn die Preise stabil und somit planbar bleiben, also keine kontinuierlichen Nachverhandlungen notwendig sind, macht ein automatisiertes Verfahren überhaupt nur Sinn. Große Preisschwankungen am Markt wie etwa im vergangenen Winterreifengeschäft sind der Todfeind einer solchen Automatisierung.
Ob es den Reifenherstellern dann aber auch angesichts des zunehmenden Wettbewerbsdrucks gelingen wird, das eingangs beschriebene Problem der fehlenden Kompatibilität der verschiedenen Systeme beim Reifenhandel und beim Hersteller aufeinander abzustimmen, bleibt fraglich. Peter Lüdorf ist da eher skeptisch, fragt sich aber auch, welche Gründe eigentlich dagegen sprechen sollten. Anders als etwa beim leidigen Thema der verschiedenen Abrechnungssysteme für Lkw-Reifen, mit denen Hersteller ihren Kunden im Reifenhandel einiges abverlangen und das vor knapp zwei Jahren unerledigt wieder zu den Akten gelegt wurde, gebe es beim lieferantengesteuerten Bestandsmanagement nur wenig „offene Fragen der Datenhoheit“, so Lüdorf weiter, auch wenn der Hersteller natürlich einen detailreichen Einblick in die Warenströme des Händlers erhält. Informationen über Abgänge beim Händler würden Hersteller aber auch über herkömmliche Bestellungen erhalten, nur eben en bloc.
Hatten die Reifenhersteller bei den Abrechnungssystemen erfolgreich auf den Bestand der „gewachsenen herstellerindividuellen Systeme“ gepocht, hofft man insbesondere im ungebundenen Reifenhandel darauf, dass sich beim Thema ECR bzw. VMI einheitliche Standards und Systeme durchsetzen, sobald der zunehmende Wettbewerbsdruck den automatisierten Lagernachschub wieder zu größerer Beachtung verhilft. Sobald die Umstände am Markt wieder einen entsprechenden Innovationsdruck zusätzlich zum Produkt Reifen an sich erzeugen, müsse man vernünftig miteinander reden und das Konfrontative aus der Diskussion um die Abrechnungssysteme außen vor halten, so der Team-Gesellschafter und Beiratsvorsitzende weiter. Schließlich könnten solche funktionierenden Instrumente auch einen nennenswerten Beitrag zur Produktionsplanung der Hersteller leisten. Dabei gilt: Je mehr Händler mitmachen, umso genauer kann hier geplant werden; am Ende können alle profitieren. Folglich betont Peter Lüdorf auch im Gespräch mit der NEUE REIFENZEITUNG, dass man ECR-/VMI-Instrumente noch nicht als gescheitert betrachten dürfe.
Wenn man sich allerdings an die Gespräche zurückerinnert, die seinerzeit zwischen Handel und Herstellern zur Einführung eines branchenweiten Nachschubsteuerungskonzeptes geführt wurden, dann muss man in jedem Fall skeptisch sein, ob eine solche konzertierte Aktion gelingen kann. Die Frage bleibt schließlich: Haben Hersteller ein Interesse daran, durch einen vereinheitlichten Standard und eine automatisierte Nachschubsteuerung aufseiten der Händler Einfluss auf die „Reinvermarktung“ ihrer Reifen abzugeben. Solange Reifenhersteller noch ihren Außendienst im Markt haben, liegen Marktanteilsgewinne immer auch in den Händen des Verkäufers, also des Herstellers. Wenn lediglich von einmal konfigurierten und mit Daten bestückten EDV-Systemen automatisierte Bestellvorgänge beim Erreichen einer Bestandsuntergrenze ausgelöst werden, könnte der Reifenmarkt in Unbeweglichkeit erstarren. Außerdem können vereinheitlichte Standards wohl kaum als Alleinstellungsmerkmal des einen Reifenherstellers gegenüber dem anderen genutzt werden.
Dass eine funktionierende automatisierte Nachschubsteuerung gerade auch für die 18 Gesellschafter der team Reifen-Union GmbH + Co. Top Service Team KG, deren Beiratsvorsitzender Peter Lüdorf seit Sommer 2007 ist, große Vorteile mit sich bringen kann, liege auf der Hand. Auch wenn jeder der Team-Gesellschafter zu den großen Reifenhändlern im Deutschland zählt, sind sie dennoch „frei und unabhängig“ und zählen somit nicht zu den industrienahen Reifenhandelsunternehmen. Der „Leidensdruck“ der Jahre 2008 und 2009 habe aber nun dazu geführt, so der Team-Beiratsvorsitzende, dass man unter den Gesellschaftern nun näher zusammenrücken möchte. Insbesondere der neue Geschäftsführer der Kooperation Gerd Wächter, der seit dem Sommer 2010 im Amt ist und auf jahrelange Erfahrung bei der Continental im Bereich Controlling/Logistik/Reifen zurückblicken kann, soll sich verstärkt mit den Themen des gemeinsamen Einkaufs, der Warenverfügbarkeit und der dahinterstehenden Logistik befassen. „Bei uns greift die Anschauung Raum“, so Peter Lüdorf weiter, „dass 18 das zusammen doch besser können als einer allein.“ Selbst wenn nicht alle Team-Mitglieder mitmachten, könnten durch einen gemeinsamen Einkauf weitere Prozesse optimiert und darin Kosten gesenkt werden. Lüdorf rückblickend: „Der Isolationismus ist nicht mehr zweckmäßig.“ arno.borchers@reifenpresse.de
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