Neue Pirelli-Pkw-Reifenfabrik am Standort Yanzhou eröffnet
Unter Führung des für die Reifensparte des Konzerns verantwortlichen Dr. Francesco Gori wird dessen Vorwärtsstrategie beschleunigt umgesetzt. So wurde am 27. November im Beisein der chinesischen Presse – von der Fachpresse weltweit waren lediglich die NEUE REIFENZEITUNG und deren englische Schwesterzeitschrift Tyres & Accessories vor Ort – eine Pkw-Reifenfabrik in Yanzhou (Provinz Shandong) feierlich eröffnet. In einem ersten Schritt werden dort bis Mitte 2009 rund drei Millionen Pkw-Reifen von 14 bis 18 Zoll jährlich gefertigt. Diese Kapazitäten sollen dann in einem schnellen zweiten Schritt auf fünf Millionen Reifen ausgebaut werden. Die räumlichen Gegebenheiten gestatten einen Ausbau auf bis zu zehn Millionen Pkw-Reifen. Als Werksleiter ist der Deutsche Michael Beck (44) vor Ort verantwortlich. Für ihn ist es geradezu ein Genuss, eine Fabrik auf der grünen Wiese aufbauen zu dürfen, in welcher der Warenfluss sodann optimal gewährleistet ist.
Hinsichtlich der maschinellen Ausstattung ist dieses chinesische Werk das modernste im Pirelli-Verbund, abgesehen von den MIRS-Fabriken. Die Produktion ist bestimmt für China, aber auch für Südostasien/Australien und Nordamerika, wo Pirelli dringend mehr Reifen benötigt. Auf demselben riesigen Areal hatte Pirelli bereits vor drei Jahren mit einem Joint-Venture-Partner eine Lkw-Reifenfabrik errichtet, die in der bald erreichten Endausbaustufe rund eine Million große Lkw-Reifen pro Jahr produzieren wird, davon den weit überwiegenden Anteil allerdings noch immer in Tube-Type. In den vergangenen Monaten sind allerdings mehr und mehr Tubeless-Ausführungen hinzugekommen. Von dem ursprünglichen Gedanken, recht viel dieser in China produzierten Lkw-Reifen in Südostasien zu verkaufen, ist man jedoch schnell wieder abgekommen, denn der rasant wachsende chinesische Reifenmarkt – bezogen auf Lkw-Reifen jetzt bereits größter Einzelmarkt der Welt – nimmt die Reifen so auf wie sie aus der Form kommen.
Auch die nun ans Netz gegangene Pkw-Reifenfabrik wurde gemeinsam mit dem Joint-Venture-Partner errichtet, inzwischen haben sich die Anteile an dieser Holding jedoch zu Gunsten Pirellis auf 75 zu 25 Prozent verschoben, wobei anzunehmen ist, dass mit jeder kommenden Kapitalerhöhung dieser Anteil für Pirelli weiter zunehmen wird.
Zur offiziellen Eröffnung waren Konzernchef und Chairman Marco Tronchetti Provera, CEO Gori, der chinesische Partner sowie viele Offizielle aus der Provinz Shandong sowie der italienische Botschafter für China vor Ort. Allein in den vergangenen drei Jahren investierte Pirelli in Yangzhou mehr als 200 Millionen Dollar, eine Summe, die sich in weiteren drei Jahren vermutlich verdoppeln wird. Die Lkw-Reifenfabrik beschäftigt momentan schon 1.000 Menschen, für die Pkw-Reifenfabrik kommen nun weitere 1.000 Beschäftigte hinzu. Im Herbst 2007 verfügte Pirelli bereits über ein gut ausgebautes Distributionsnetz, das in den ersten Wochen des kommenden Jahres auf nicht weniger als 1.000 Points of Sale angewachsen sein wird. Zwei Drittel dieser Händler sind dabei so bezeichnete Monobrand-Dealer.
Im Gespräch mit dieser Zeitschrift unterstrich Dr. Gori, dass die chinesische Produktion nicht für Europa gedacht ist. Das verwundert auch nicht, denn bekanntlich hatte Pirelli erst vor einigen Monaten im rumänischen Slatina eine ebenso große und ebenso moderne Pkw-Reifenfabrik eröffnet, die in ihrer Endausbaustufe ebenfalls zehn Millionen Reifen ausstoßen soll, eine zusätzliche Kapazität, die auf den reifen Märkten Europas erst einmal hochpreisig vermarktet werden will.
China indessen ist anders. Ein Entwicklungsland gewiss, allerdings ein boomendes, dessen nun seit knapp zehn Jahren bereits zu bemerkende Dynamik nicht abgenommen hat; eher ist das Gegenteil der Fall. Shanghai und Hongkong unterscheiden sich kaum noch, wo vor zehn Jahren Reis angebaut wurde, stehen heute mehr als 100 neue Wolkenkratzer und ein Ende ist gar nicht in Sicht. Doch noch weit wichtiger ist die rasant fortschreitende Verbesserung der Infrastruktur. Yangzhou liegt etwa eine Flugstunde nordwestlich von Shanghai und vom nächstgelegenen Flughafen sind es noch einmal knapp zwei Stunden mit dem Reisebus. Über herausragend gut ausgebaute Straßen, drei- und teils vierspurig, vergleichbar mit deutschen Autobahnen, geht es mit mehr als 100 Stundenkilometer voran. Und es herrscht reger Betrieb. Etwa zwei Drittel aller Fahrzeuge sind Lkw, hin und wieder auch Busse. Transportiert wird alles, von großen Stoffballen über Baustoffe etc. Zeit hat niemand. Jedes einzelne, dort an der Tagesordnung befindliche Überholmanöver würde hierzulande gleich zu einem mehrmonatigen Fahrverbot führen. Man zieht von der linken Überholspur direkt auf die rechte Bahn, falls nötig auch auf die Standspur, weil die Lkw-Kutscher gar nicht dran denken, die linke Bahn freizugeben, koste es, was es wolle. Aber irgendwie klappt alles problemlos. All diese Lkw und Busse rollen auf Reifen chinesischer Fertigung. Und diese „Billigreifen“ taugen ja angeblich so gar nicht viel. Es könnte einem Angst und Bange werden, doch andererseits hat sich auf der Autobahn über nahezu 200 Kilometer hinweg weder ein Unfall ereignet noch ist es zu Reifenplatzern und sonstigen Ausfällen gekommen. Die Laufstreifen befinden sich weiter auf den Karkassen; das ist nicht überall so. Wer durch heiße Zonen gereist ist, hat die Reifenreste am Straßenrand zur Genüge gesehen. Ob es sich dabei immer wirklich „nur“ um runderneuerte Reifen gehandelt haben mag? Wer weiß!
Nachdenklich wird auch, wer die neu entstandenen Fabriken in der Provinz eines Entwicklungslandes gesehen hat. Vorbei die Zeiten, dass ausgelutschte Maschinen und Geräte frisch gestrichen am anderen Ende der Welt wieder aufgestellt und Produkte minderer Qualität produziert wurden. Die Einrichtung der Pirelli-Pkw-Reifenfabrik ist, wie man so schön und mit Berechtigung sagt, „state of the art“. Neue Gebäude, neue Maschinen, dazu ein perfekt geplanter Material- und Produktionsfluss. In diesem Umfeld kann effizient gearbeitet werden, da sind noch so moderne Fabriken in Europa, die seit Jahrzehnten allerdings immer wieder erweitert werden mussten, nahezu automatisch im Nachteil. Hinzu kommen nun noch die ausgesprochen wettbewerbsfähigen, sprich billigen Löhne.
Seit Monaten findet zwischen Italienern und Chinesen ein reger Austausch statt, die Chinesen machen sich einen guten Teil der italienischen Unternehmenskultur zu Eigen.
Die Frage aber bleibt: Wer soll all die in China produzierten Hochleistungsreifen von 17 Zoll und weit über 20 Zoll hinausgehend kaufen? Wer braucht diese Reifen in einem Land, dessen Autobahnen voller Nutzfahrzeuge sind und gute Mittelklassewagen erst allmählich in das Straßenbild kommen, sieht man von Metropolen wie Peking und Shanghai ab.
Die Antwort ist relativ einfach: Wer weiß, wie der Markt aussieht, wenn die Pirelli-Pkw-Reifenfabrik ihre Endausbaustufe erreicht hat in etwa drei, vier Jahren? Wer braucht denn in den USA einen pfeilschnellen Porsche und die dazu passenden Reifen und doch sind die USA Porsches Hauptmarkt.
China gibt den Besuchern keine Sekunde lang den Eindruck, auch nur einmal länger Luft holen und sich ausruhen zu wollen. Die Entwicklungen sind so rasant, so dynamisch, dass die Märkte vermutlich da sind, sobald Pirelli in größerem Umfang liefern kann. So gesehen sind die Italiener ihrer Zeit voraus statt den Märkten nachlaufen zu müssen. Wenn die Produktionsstätten in China auch für Exporte nach Südostasien/Australien herhalten sollen, wird es lediglich eine Frage der Zeit sein, bis der Konzern an dieser oder an anderer Stelle eine weitere Fabrik bauen muss.
Pirelli ist einer strategisch herausragenden Ausgangsposition. In Europa helfen Werke in der Türkei und Rumänien, den Wettbewerb glänzend bestehen zu können und für die USA stützt sich dieser Konzern auf seine Basis in Lateinamerika in Verbindung mit einer MIRS-Fabrik in Georgia. Und alles für die Weltmarke Pirelli.
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