Das Continental-Testgelände in Arvidsjaur
Die Kleinstadt Arvidsjaur liegt im schwedischen Teil Lapplands, wenige Kilometer südlich des Polarkreises. Ab etwa Mitte November fallen jedes Jahr Tester der Automobilhersteller und ihrer Zulieferer in diese ansonsten eher beschauliche und idyllische Landschaft ein, denn hier herrschen fast immer zu dieser Jahreszeit Wetterbedingungen, die Tests unter winterlichen Konditionen ermöglichen. Fast immer – und so hat auch Continental für die Reifentests Ausweichgelände, so an weiteren Plätzen Nordschwedens, in Finnland, Österreich, der Schweiz, in deutschen Skihallen (derzeit Bottrop) und im hiesigen Sommer obendrein im fernen Neuseeland. Das Haupttestareal innerhalb des Konzerns ist allerdings in den letzten Jahren Arvidsjaur geworden, ein Gelände, das der Firma Continental zugefallen war, als sie den damaligen Bremsenspezialisten ITT Brakes & Chassis 1998 übernahm. Der wiederum hat seine Wurzeln in der mehr als hundert Jahre alten Firma Teves, deren Handelsmarke Ate marktführend ist. Die Continental Teves ist bis heute in Frankfurt ansässig und nutzt nach wie vor Arvidsjaur intensiv für Tests, allerdings mittlerweile in direkter Kooperation mit Schwesterfirmen in beispielsweise Berlin und eben Hannover, von wo die Reifenexperten gekommen sind. Bei solch einer engen Zusammenarbeit im Fahrversuch lassen sich früher kaum vorstellbare Komplexitäten untersuchen, die ein Bremsen-, ein Antriebs- oder eben Reifenspezialist überhaupt nicht alleine für sich darstellen könnte.
Seit 1972 sind die Bremsenspezialisten der damaligen ITT Automotive in Nordschweden unterwegs, 1983 kamen sie nach Arvidsjaur und haben dort die ersten ABS-Systeme auf ihre Wintertauglichkeit getestet. 1992 schließlich erfolgte der erste Spatenstich für das Testzentrum inmitten des weitläufigen Nadelwaldes. Die Stille der idyllischen Landschaft wird allerdings nicht nur durch die Motoren der Testfahrzeuge gestört. Denn das Testgelände Arvidsjaur hat einen weiteren unschätzbaren Vorteil gegenüber vielen anderen, vielleicht geografisch ebenso gut geeigneten Orten: Es hat einen Flugplatz, und zwar in ganz direkter Nachbarschaft zum Continental-Testareal. Und ein großer See ist dort, der – wenn er mit dreißig Zentimeter dickem Eis überzogen ist – für Tests mit Pkw genutzt werden kann und bei einer Eisdicke von 50 Zentimetern sogar für Fahrversuche mit Lkw. Im direkt anschließenden Gelände lassen sich genügend Strecken finden, um auch Steigungen (bis zu 20 Prozent) zu nutzen. Wobei es schon einmal sein kann, dass einige Strecken sich von Saison zu Saison verändern, andere bleiben immer gleich, weil es um ihre Reproduzierbarkeit geht. Ein gutes Stichwort, denn bekanntlich ist Schnee nicht gleich Schnee, Eis nicht gleich Eis – also hat man sich mit den entsprechenden Experten zusammengetan, hier von der erst kürzlich zur „Eliteuniversität“ ernannten Uni Karlsruhe, wo man selbst einen Trommelprüfstand (seit Neuestem sogar zwei) für Reifentests nutzen kann.
Die Continental-Mannschaft besteht im Winter aus durchschnittlich etwa 50 Leuten, die meisten von ihnen werden nach zwei bis drei Wochen von Kollegen ausgetauscht, nie die ganze Mannschaft, sondern um Kontinuität zu gewährleisten stets Einzelne. Die Einsatzzeiten sind also im Allgemeinen überlappend, wobei es schon sein kann, dass der ein oder andere zwei oder gar drei Arvidsjaur-Einsätze pro Winter hat. Wenn die Bedingungen gerade für Tests ideal sind – was meist in den Monaten Februar bis April der Fall ist –, dann schnellt die Anzahl der Continentäler, mögen sie sich nun als Bremsen-, Antriebs- oder eben Reifenleute verstehen, schon mal auf bis zu 250 hoch. Etwa 110 Firmeningenieure nutzen die gut geheizten Hallen und Büros, bitterkalten Kältekammern und die Montagestätten, Praktiker und Theoretiker werkeln Tür an Tür, der Hard- und Softwareentwickler und der Reifenmann sind alltäglich zusammen und lernen, was der andere so macht, und verstehen, was er benötigt und vielleicht von der anderen „Fraktion“ geliefert bekommen kann. Das Reifentestteam Continentals, das in Arvidsjaur antritt, ist übrigens gar nicht so riesengroß und umfasst gut zehn Personen.
Die „Reifenfraktion“ in Arvidsjaur ist also quantitativ eher in der Minderheit. Seit 1999 verfügt sie über eine eigene Halle und hat den Testbetrieb erst seit etwa dem Jahr 2000 konsequent auf ihre Bedürfnisse hin auf- und anschließend ausgebaut. Die Reifentester absolvieren allwinterlich in Arvidsjaur „etwa 300 bis 400 Mann-Tage“, wie Continental in einer kleinen Broschüre schreibt, in der Land und Leute ebenso dargestellt werden wie die eigenen Aktivitäten in diesem einsamen Landstrich. Rund 1.200 bis 1.500 Prüfungen werden durchgeführt, mit Pkw, SUVs, Transportern und Lkw – für alle Fahrzeuge halt, für die Continental Reifen entwickelt und produziert und von denen man erwartet, dass sie auch im Winter hervorragend funktionieren. Auf Schnee und Eis weisen so in jedem Jahr 1.500 bis 2.000 Reifen ihre Fähigkeiten bei Traktion, Bremsmanövern und in punkto Seitenführung nach. Hat eine neue Produktlinie im Praxistest bestätigt, was die Ingenieure bzw. deren Computer vorausberechnet haben, so können sie in den Verkauf gelangen – im Allgemeinen erst, nachdem sie sich in etwa zwei Wintern in Arvidsjaur bewiesen haben, wobei die erwähnten anderen Testlokalitäten ebenso genutzt wurden wie auch Alpenstraßen oder die heißen Asphaltpisten auf dem Testgelände in Uvalde (Texas), ganz zu schweigen vom Testzentrum in der Lüneburger Heide: dem bekannten Contidrom.
Dort hat man es in einer Hinsicht jedenfalls leichter: Die Strecken müssen kaum präpariert werden. Die Präparatoren in Arvidsjaur hingegen müssen die weiße Pracht räumen, wenn fürs Testen zu viel Schnee gefallen ist, sie müssen Schnee gegebenenfalls pressen, das Gelände mit Spezialmaschinen herrichten, die Spuren abstecken usw. Übrigens: Noch hat das Eis kein einziges Testfahrzeug verschluckt, weil es unter dem Gewicht nachgegeben hätte, wohl aber sollen sich wenigstens zwei Eismaschinen am Grunde des Sees befinden.
Die etwa 12,5 Kilometer Strecken entsprechen rund 600.000 Quadratmetern Schnee und Eis, die von den Präparatoren für den Testbetrieb hergerichtet worden sind. Auf der einen Seite der Strecke können Schnee und Eis, auf der anderen normaler, ja sogar beheizter Asphalt sein; ein gestreuter Fahrbahnabschnitt mit vereisten Fahrbahnrändern und unterschiedlichen Reibbeiwerten kann simuliert werden. Die kombinierte Gerade mit erwärmtem Asphalt und Spiegeleis ist fast anderthalb Kilometer lang. Drei Eis-Kreisbahnen mit 200 bis 500 Meter im Durchmesser werden Winter für Winter neu angelegt. Ein Handlingkurs (zu bewältigen in gut zwei Minuten von kundigen Testfahrern) bietet die unterschiedlichsten Kurvenvariationen.
Bei den Fachleuten aus der Continental-Familie sind oft diverse Gäste zugegen: Alle europäischen, aber auch etliche asiatische Fahrzeughersteller testen die Produkte, die überwiegend in Frankfurt und Hannover entwickelt worden sind. Dann rollen schon mal 200 Testfahrzeuge an, die mehr als 30 Fahrzeugplattformen repräsentieren und an denen an die hundert Programme entwickelt werden – dort, wo Reifen und Rentiere sich die Landschaft teilen.
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