Kampf der Kulturen – Zum Abschied von Francois Michelin
In einer bewegenden Feierstunde ist im Rahmen der Jahreshauptversammlung in Clermont-Ferrand Francois Michelin am 17. Mai 2002 auch offiziell aus dem Unternehmen ausgeschieden. Zu seiner Verabschiedung waren 160 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus aller Welt auserkoren und eingeladen worden. Was Chefs großer Industrieunter-nehmen aus der ganzen Welt über ihre Erfahrungen mit Francois Michelin wie z.B. Glen Barton (Carterpillar), Carlos Ghosn (Nissan), Louis Schweitzer (Renault) und Ferdinand Piech (Volkswagen) sowie Politiker aus Frankreich und selbst aus China zu berichten hatten, wurde über Video-Filme eingespielt. Alle stimmten darin überein: Francois Michelin ist ein großer Humanist und Visionär. Aus journalistischer Sicht lässt sich hinzufügen: Er hat den ihm anvertrauten Reifenkonzern mit unglaublicher Konsequenz und großer Beharrlichkeit an die Spitze der Welt katapultiert. Wenn dieser Konzern Wettbewerbern überlegen ist, dann wegen seiner Unternehmenskultur, die im Wettbewerb immer obsiegen wird. Die Mitarbeiter, so das Michelin-Credo, stehen im Mittelpunkt, sie sind es, die den Wert des Konzerns ausmachen. Diese Mitarbeiter sind stolz, Produkte im Markt zu haben und vermarkten zu können, zu denen sich Wettbewerber ein „Handicap einräumen“ in Form preislicher Abstände. Und völlig unbeschadet dessen, dass die Leute mit Management-Funktionen mit hoher Wahrschein-lichkeit weniger verdienen als solche von Wettbewerbern, gilt es ihnen als wenig anziehend, allein für mehr Geld von diesem Unternehmen zu einem Wettbewerber zu wechseln. Francois Michelin hat es trotz der Größe des Konzerns verstanden, dieses Unternehmen noch immer als „vom Inhaber geführt“ geltend zu profilieren. Mit allen positiven, allerdings auch unter Hinnahme weniger negativer Aspekte.
Nach dem Studium trat Francois Michelin 1951 in das Unternehmen ein und baute zwei Jahre mit gewerblichen Mitarbeitern als einfacher Arbeiter im 3-Schicht-Betrieb Lkw-Reifen, arbeitete im Außendienst und nach einigen weiteren Stationen wurde er 1955 persönlich haftender Gesellschafter, 1959 alleiniger persönlicher Gesellschafter und führte seither die Geschäfte des französischen Reifenherstellers, den er zum Global Player entwickelte. Noch in den 70er Jahren konnte das Unternehmen lediglich einen Rang unter den zehn größten Reifenherstellern der Welt beanspruchen. 1966 wurde sein Vetter Francois Rollier zum weiteren persönlich haftenden Geschäftsführer ernannt und 1986 kam mit René Zingraff der dritte persönlich haftende Gesellschafter hinzu, der kein Mitglied der Familie Michelin ist. Im Jahr 1991, der inzwischen verstorbene Francois Rollier war da noch im Amt, beriefen diese drei persönlich haftenden Geschäftsführer mit Edouard Michelin einen weiteren persönlich haftenden Gesellschafter und ließen ihn 1999 zum Patron aufsteigen. Francois Rollier, der heutige Finanzchef des Konzerns, ist wiederum ein Vetter von Edouard Michelin. Beide Familien halten nach wie vor ausreichende Anteile am Unter-nehmen, das in der Form einer Kommanditgesellschaft auf Aktien weltweit geführt wird, um es kontrollieren und dominieren zu können. Die Rechtsform schützt zudem vor jedweden nur denkbaren feindlichen Übernahmeversuchen.
Im Laufe der Zeit erlebte Francois Michelin alle Höhen und Tiefen und zwei Mal war sein Konzern schwer angeschlagen, zunächst in den frühen 80er Jahren und dann wieder, dieses Mal gar noch stärker, in den frühen 90er Jahren. Während in den frühen 80er Jahren schon eine ganz und gar einzigartige Expansion Schleifspuren in der Bilanz hinterlassen hatte, die es nun auszumerzen galt, war die Krise in den frühen 90er Jahren vermutlich sehr viel tiefgreifender und Francois Michelin war gezwungen, zum Erhalt seiner Selbstständigkeit und seiner Unabhängigkeit von ungeliebten Geldgebern Mitarbeiter in größerem Stil zu entlassen. Diese Zeit lässt sich nicht einfach als Strukturkrise der Branche abhaken, sondern die Schwierigkeiten waren auch durch die Übernahme des Reifenherstellers Uniroyal-Goodrich Inc. ausgelöst, dessen Restrukturierung und Sanierung sich als weitaus schwieriger und kostspieliger erwies als angenommen worden war. Während Wettbewerber sich einem Wechselbad der Gefühle zwischen Diversifikation und Fokussierung auf Kerngeschäfte aussetzten, andere sich aus dem vermeintlich margenschwachen Reifenbereich zurückzogen, in angebliche Hightech-Bereiche flüchteten, um sich Automotive Supplier nennen zu kön-nen, blieb Michelin beim Kerngeschäft Reifen. Das Unternehmen will heute, so der eigene Anspruch, einen signifikanten Beitrag zur Verbesserung der Mobilität in allen Transportarten leisten, denn Mobilität von Gütern und Personen steht im Mittelpunkt allen menschlichen Handelns. Dafür muss es aus seiner Sicht weltweit die unbestrittene Nummer eins der Reifenbranche sein und bleiben, um so durch Innovation weiter gestalterisch auf einen sehr spezifischen Markt einwirken zu können. Gegenüber Handel und Endverbrauchern muss die technische Kompetenz und die Produktqualität unterstrichen werden, das Unternehmen kämpft weiter um andauernde Anerkennung der dynamischen Präsenz seiner Marken sowie um die andauernde Anerkennung technischen Expertentums auf dem Gebiet der Fahrwerksysteme. Die wirtschaftlichen und finanziellen Ziele sind ehrgeizig und realistisch zugleich. Der Konzern strebt ein Betriebsergebnis von 10 Prozent vom Umsatz an, er wird damit auch seine im akzeptablen Rahmen liegende Verschuldung weiter abbauen können; er verfolgt „gezieltes Wachstum“ in attraktiven Segmenten und er strebt auch eine ausgeglichenere Zusammensetzung des Gesamtumsatzes durch Hebung der Potenziale in Asien, Südamerika, Mittel- und Osteuropa an. Alles soll durch Begehung intern detailliert beschriebener Wege gelingen und gesichert werden. Statt diese Wege hier ausführlicher zu beschreiben, genügt es im Grunde aber, so viel zu sagen: Michelin will immer mit den besten Produkten und den besten Mitarbeitern unterwegs sein, die Menschen dort einzusetzen, wo sie ihre Potenziale am besten einbringen können, um so für sich und das Unternehmen den bestmöglichen Erfolg erarbeiten zu lassen. Das sagte Francois Michelin anlässlich seiner Verabschiedung: „Ohne die Menschen bewegt sich nichts. Unsere auvergnatischen Wurzeln haben sich in der ganzen Welt verbreitet, das ist die DNA von Michelin.“
Die Höhen und die Tiefen
Francois Michelin hat mit seinem Unternehmen die Radialisierung sowie den Stahlgürtelreifen bis heute nahezu weltweit durchgesetzt. Seine Entscheidung in den 50er Jahren, ganz und gar auf den Stahlgürtelreifen zu setzen, war riskant und mutig zu-gleich. Er hat seinen großen USA-Konkurrenten mit der Expansion nach Nordamerika eine von diesen so verstandene „französische Herausforderung“ geboten, die dem Konzern allerletzte Kraftanstrengungen abforderte. Allen Zweifeln und Zweiflern zum Trotz ist es Michelin nach vielen harten Jahren endlich gelungen, auf dem größten Einzelmarkt der Welt, den USA, die Anerkennung und den wirtschaftlichen Erfolg zu finden, den man sich erhofft hatte. Einzig Goodyear nahm vor nun auch schon wieder mehr als 25 Jahren die „französische Herausforderung“ an, trieb Forscher und Entwickler zu Höchstleistungen, um den radialen Stahlgürtelreifen bauen zu können und vertraute nicht allein auf den bis dahin so populären „Bias-belted“-Reifen. Von General über BFGoodrich, Firestone und Uniroyal war die Einstellung simpel: Sollen die Franzosen sich doch einer kleinen Nische bemächtigen und dafür große Investitionen tätigen, wir machen den großen Markt, wir verdienen Geld, wir schreiben unsere vorhandenen Anlagen weiter ab. Sollte dann jedoch, irgendwann in der Zukunft, der Markt für Stahlgürtelreifen mal vorhanden sein, ist es für uns noch Zeit genug. Welch ein Irrtum! Wie viele Manager, über die heute schon fast kein Mensch mehr spricht, sind an der Vision des Francois Michelin gescheitert, dessen Kopfschmerzen selbst nicht haben wollten, sie dennoch nicht vermeiden konnten.
Reaktionen auf die „französische Herausforderung“
1983 in Akron! Robert „Bob“ Mercer erläuterte der Neue Reifenzeitung, wohin der Weg des amerikanischen Reifenherstellers gehen und unter Zugrundelegung welcher Konzepte, Maßnahmen oder gar Strategien dies geschehen sollte. Verblüffende Übereinstimmung mit dem, was Michelin schon bis dahin vorgemacht hatte. Also nur eine Kopie von Michelin? Der im Umgang mit der Presse äußerst gewandte Mercer meinte nur: „Nennen Sie es Kopie, wir kopieren nötigenfalls alles, bis auf deren Schulden.“ Da war er dann, der erste feine Seitenhieb gegen eine hoch verschuldete Michelin, die rund fünf Prozent vom Umsatz allein aufzuwenden hatte, um die Zinsen bedienen zu können, während Goodyear aus Anlagen Zinsgewinne sogar zu verbuchen hatte. Griff der da 56-jährige Francois Michelin zu Aspirin-Tabletten? Durchaus denkbar.
Und Mercer? Seine Diversifikationsstrategie war mit dem Tag des feindlichen Übernahmeversuchs durch Sir James Goldsmith gescheitert. Mercer rettete Goodyear, indem er exakt das machte, was Goldsmith vorgeschlagen hat und auch gemacht hätte: Zerschlagung des Konzerns bis auf den Reifenbereich und dann volle Konzentration auf diesen. „Blackmail“ (Erpressungsgeld) wollte Mercer eigenen Angaben zufolge nicht an Goldsmith zahlen. Goldsmith sah sich schließlich nach Aufdeckung eines Insider-Skandals an der Wall Street (mit der er nicht das Geringste zu tun hatte) zum Rückzug genötigt, weil die öffentliche Meinung über Nacht umkippte. Dennoch machte er ein Vermögen in dreistelliger Millionenhöhe; gezahlt von Goodyear. Was hatte Goodyear gezahlt, wenn nicht „Blackmail“? Bob Mercer ist mit einiger Wahrschein-lichkeit damals auch Aspirin-Konsument geworden. Nur: Von dem Goldsmith-Schlag hat sich der Konzern bis heute eigentlich nicht erholen können. Francois Michelin setzte immer nur auf Reifen und später auf Reifen und Mobilität. Mercer setzte auf Diversifikation und musste mit ansehen, wie seine Strategie scheiterte.
Und Firestone? John Nevin war weniger als zehn Jahre an der Spitze von Firestone, er veräußerte eine Fabrik und einen Geschäftsbereich nach dem anderen, um Löcher zu stopfen, verdiente sich den Namen „The Liquidator“ nun wirklich redlich. Und dann ging der Mann, der Abertausende der Firestone-Belegschaft arbeitslos gemacht hat, mit einem Vermögen in zweistelliger Millionenhöhe als „Package“ heim, nachdem Bridgestone sich zu einer Firestone-Übernahme entschlossen hatte. Doch sehen so bewunderungswerte Leistungen aus? In der Rückschau verklären sich die Blicke. Hatte Nevin Tausenden von Mitarbeitern den Job gerettet, indem er Tausende zuvor arbeitslos machte?
General Tire verlor die Unabhängigkeit, nachdem Raider Carl Icahn die Muttergesellschaft GenCorp. angegriffen hatte und landete bei Continental; eine Erfolgsge-schichte war das nicht. Bisher jedenfalls nicht. Icahn kam auch zu Uniroyal und zwang das Unternehmen zum Handeln. Da traf es sich gut, dass auch BFGoodrich inzwischen als Reifenhersteller so fußkrank geworden war, dass der Versuch gestartet wurde, aus zwei Fußkranken einen Dauerläufer zu machen. Der Versuch misslang natürlich gründlich. Das Unternehmen war erst gerettet, nachdem es Ende der 80er Jahre von Michelin übernommen worden war. Größere Verdienste hat sich dabei dann Carlos Ghosn erworben, der zu dieser Zeit die Gesamtverantwortung für die Michelin-Geschäfte in Nordamerika innehatte. Wie Bridgestone schon genau wusste, warum Firestone zu akquirieren war, so folgte auch Michelin einer klar zugrunde liegenden Strategie und setzte diese auch konsequent um.
Und in Europa? Was wurde in den 80er Jahren aus Dunlop? Wie schlug sich Pirelli? Francois Michelin dürfte viele Manager an der Spitze von Wettbewerbsfirmen gesehen haben, die geradezu aspirinsüchtig angesichts steigender Probleme wurden.
Dann Asien. Stellvertretend für alles andere: Die Kopfschmerzen des Herrn Kaizaki im Gefolge des Dramas um den Firestone-Reifenrückruf dürften auch sehr stark gewesen sein.
Francois Michelin hat alle Spitzenmanager der Wettbewerber allerdings sowieso nicht als gleichrangig mit sich selbst betrachtet. Er war und verstand sich als Inhaber eines Familienunternehmens, während es sich bei anderen nur um ernannte fremde Manager handelte, die auf Zeit in ihren Ämtern waren und dann auch zu anderen Konzernen wechselten. Jedenfalls ist er der einzige unter allen Chefs der großen Reifenkonzerne, die für ihr Handeln zu büßen hatten, wenn diesem Handeln Fehler oder falsche Annahmen zugrunde gelegt worden waren. Aber er wurde auch belohnt, wenn die getroffenen Entscheidungen sich als richtig erwiesen. Und noch ein wesentlicher Punkt: Francois Michelin war fünf Jahrzehnte lang in voller Haftung tätig. Ein „goldener Handschlag“ wie bei vielen Konkurrenten wäre nicht möglich gewesen, da hätte ja die linke Hand die rechte bezahlen müssen. Einige CEOs oder Vorstandsvorsitzende waren nur so kurze Zeit im Amt, um für die Jahre später sich zeigenden negativen Folgen nicht mehr in Anspruch genommen werden zu können. Andere wiederum mögen auch segensreich gewirkt haben, wenngleich die Früchte ihrer Arbeit von anderen eingeheimst wurden.
Am Tage seiner offiziellen Verabschiedung kann sich Francois Michelin zurücklehnen. Das Unternehmen ist sehr gut unterwegs. Es hat selbst in einem sehr schweren wirtschaftlichen Umfeld angemessen verdienen können, selbst in einem durch den 11. September 2001 durcheinandergeratenen USA-Markt verdienen können und es gewinnt Jahr für Jahr an Boden in anderen Regionen der Welt; nicht allein in Japan, auch in Thailand und China, um nur zwei Länder zu nennen.
Die Vision von Francois Michelin hat sich letztlich erfüllt: Nummer 1 in der Welt, respektiert und geachtet wegen der Innovationskraft und technischen Kompetenz des Konzerns. Das Festhalten am Reifengeschäft als dem Kerngeschäft, auf das alles konzentriert ist, hat sich ausgezahlt. Mit dem Angebot von Fahrwerksystemen und logistischen Systemen erfüllt der Konzern den sich selbst gestellten Anspruch als weltweiter Anbieter von Mobilität. Das Unternehmen verdient ausreichend, die Familie ist immer noch so wesentlich am Kapital beteiligt, dass sie dieses Unternehmen dominieren bzw. kontrollieren kann. Und das über Dekaden hinweg und selbst während und nach dem stürmischen Aufschwung im Gefolge der Automotorisierung der 60er Jahre. Welch eine grandiose Leistung!
Was macht Michelin einzigartig?
Fremde Manager kommen und gehen. Sie hinterlassen Spuren, auch Schleifspuren. Sie bringen Unternehmen voran oder lähmen sie. Sie kaufen Königreiche zusammen, lassen sich ein Vermögen in Stock Options überschreiben und wenn die Last der aufgetürmten Schulden zu stark drückt, sind sie entweder bereits aus dem Amt oder sie gehen mit einem „Goldenen Handschlag“ versehen von dannen, um fortan das Golf-Handicap zu verbessern. Und die ganz fixen Jungs an einer Konzernspitze, solche die schnelle Ergebnisse bringen, was allerdings nicht immer, vermutlich nur höchst selten gleichbedeutend mit herausragenden Managementfähigkeiten ist, basteln schon an an-derem Platz an einem neuen Global Player, bauen Schuldenberge auf und gehen, bevor es allzu eng wird mit den Zinszahlungen.
Alles anders bei Michelin. Wer den 38-jährigen Edouard Michelin fragt, wie lange er schon im Reifengeschäft tätig sei, erhält diese Antwort: 38 Jahre! Sein Leben ist Reifen, das seines Vaters ist seit 75 Jahren Reifen. Beide dienen einem Unter-nehmen und sind diesem auf Lebenszeit verpflichtet. Wenn Sie Schulden machen, dann wissen Sie in diesem Moment auch, dass sie es selbst sind, die für die Rückzahlung zu sorgen haben; als Vater überlässt man das den Kindern ja nicht so schrecklich gerne. Es sei denn, man hat auf der anderen Seite ohnehin bereits den Wert des übernommenen und nun zu übergebenden Unternehmens dramatisch gesteigert. Wer wollte Francois Michelin dies auch bestreiten?
Harte Arbeiter – Coole Überflieger chancenlos
Dieser Zeitschrift wird gelegentlich die Vorhaltung einer zu starken „Michelin-Freundlichkeit“ gemacht. Kaum überraschend, dass diese Einschätzung hier so nicht geteilt wird. Richtig aber ist, dass auch aus redaktioneller Sicht dieses Unternehmen für eine riesige Vielzahl guter Beispiele steht, weil es kommuniziert, was es will, weil es hält, was es verspricht und weil es sich den selbst gesetzten Zielen in einer großen Beharrlichkeit, in großer Genauigkeit und sehr großer Konsequenz nähert. Schritt für Schritt nähert und weil ihm die selbst ernannten Überflieger suspekt bleiben und in ihren Reihen chancenlos waren bisher. Wer kennt sie nicht, die coolen Überflieger, die anderswo die Probleme „mit der Schnauze“ gelöst oder unter den Teppich gekehrt haben, die nicht bereit waren, sich nur einen Moment beim Erklimmen der Karriereleiter zugunsten des Konzerns stören zu lassen und nun auch noch meinen, die fachliche und soziale Kompetenz mit dem Schaumlöffel eingezogen zu haben! So ist der Verzicht auf Pseudolösungen doch schon wohltuend für sich allein. Und warum sollen Branchenjournalisten ein Unternehmen wie Michelin nicht aus besonderem Blickwinkel betrachten, wo sich der ganze Wettbewerb weltweit nach Michelin richtet? Die erste Frage allenthalben ist doch stets: Was hat Michelin zu bieten, zu welchem Preis und wie tief darunter legen wir dann unseren Preis? Wenn die Firma Michelin heute so stark ist, dann deshalb, weil sie mit einer aus hiesiger Hinsicht unschlagbaren Unternehmenskultur den Wettbewerb bestreitet.
Was ist Unternehmenskultur? Bücher sind darüber geschrieben und zahllose Aufsätze veröffentlicht worden. Es geht aber auch ganz einfach und man braucht nur die Antwort auf diese eine Frage: Wie geht das Unternehmen mit seinen Mitarbeitern um? Erinnern wir uns an 1993. Da musste der nicht allein wegen schlechter weltwirtschaft-licher Umstände tief in die roten Zahlen gerutschte Konzern ein Restrukturierungsprogramm verabschieden, mit dem man sich von 10.000 Mitarbeitern weltweit zu trennen gedachte, um so zu einer Kostenentlastung von jährlich etwa 600 bis 700 Millionen Euro kommen zu können. Die Entscheidung, Uniroyal-Goodrich zu übernehmen, hatte Francois Michelin allein getroffen und allein verantwortet. Es war wieder solch eine mutige, allerdings auch höchst riskante Entscheidung. Sich von Menschen trennen zu müssen, die am Aufbau des Konzerns beteiligt waren, ist für Francois Michelin eine fürchterliche Entscheidung gewesen, weil gerade er sich stets bewusst war, dass ein Konzern aus Menschen besteht, dass man nicht einfach eine Reduzierung der Belegschaft verkündet, sondern man in das Schicksal von einzelnen Menschen mitsamt deren Familien heftig eingreift. Der Eingriff 1993 allerdings war unvermeidbar, fraglich konnte somit nur sein, wie er erfolgte. Zunächst wurde deutlich, dass dieser französische Konzern nicht einfach in Aktionitis verfiel, irgendwem irgendwo gefallen wollte, sondern dass er sich mit außerordentlich respektablen Sozialplänen von Mitarbeitern trennte und dies auch erst zu einem Zeitpunkt, zu dem es keine andere Wahl mehr gab. Kündigungen somit als Ultima Ratio.
Was Francois Michelin geprägt haben könnte
Paradoxe Vorstellung: Welcher Hochschulabsolvent von 24 Jahren verlässt die Universität, um sich zwei Jahre lang als Reifenbauer zu verdingen? Francois Michelin aber konnte „dem Volk aufs Maul schauen“ und lernen. Wer Menschen „mitnehmen“ will, muss erst mal lernen, was Menschen brauchen und was Menschen wollen. Vor allem aber wird er gelernt haben, dass selbst einfache Leute oft genug gut genug sind, um anderen etwas beibringen zu können.
Welcher Hochschulabsolvent, ob Diplom-Ingenieur, Diplom-Kaufmann, Master of Business oder was auch immer, jetzt schon oder immer noch erst 26 Jahre alt, sieht eine Offenbarung darin, als Außendienstler ein Jahr lang Reifenhändler zu besuchen?
Francois Michelin, so die Vorstellung dieser Zeitschrift, hatte innerhalb von drei Jahren zwei unschätzbare und im Grunde auch unbezahlbare Erfahrungen gemacht.
Erstens: Statt von irgendeinem Konzernschreibtisch über Belegschaften und deren Anzahl zu räsonieren, hat er die Menschen vor Augen gehabt. Jeder einzelne Mitarbeiter in seinem Wirkungskreis wollte das, was er und was das Unternehmen wollte: Das bestmögliche Produkt herstellen und das zur besten Qualität. Diese Menschen machten Fehler wie er; sie wetzten Fehler aus wie er und sie waren wie er stolz auf dieses Unternehmen, in dem sie ihre Fähigkeiten entwickeln konnten. Sie waren allerdings wie er auch auf das Unternehmen auf Gedeih und Verderb angewiesen. Als Reifenbauer in Clermont-Ferrand kann man schlecht woanders beginnen, wenn man Familie, Wurzeln, Freunde, Haus etc. dort hat. Wer das Tag für Tag vor Augen hat, sieht in Belegschaften keine bloße Dispositions- und Verhandlungsmasse, sondern entwickelt automatisch soziale Kompetenz. Die Menschen sind so abhängig vom Unternehmen wie das Unternehmen von den Menschen an ihren jeweiligen Plätzen.
Zweitens: In der Außendiensttätigkeit lernt man sehr schnell, was Kunden brau-chen, wovon Händler träumen und was man dem Endverbraucher tatsächlich bieten muss. Wer wird mit 28 Jahren schon in die Geschäftsführung eines Industrieunternehmens mit Tausenden von Mitarbeitern berufen? Und wer ist mit 32 Jahren schon alleiniger persönlich haftender Gesellschafter eines großen Unternehmens, das damals allerdings noch kein Global Player war.
Wenn man bis hierhin den Versuch einer Zusammenfassung macht, sieht er wie folgt aus: Ein aus sehr guten Verhältnissen stammender junger Mann hat erst seine Chance in der Universität genutzt, hat sich dann zu den Arbeitern begeben, die die Produkte herstellen, welche dann von Verkäufern an den Mann gebracht werden. Ein Theoretiker hat sich eine Praxisphase nach klassischem Studium gegönnt und in diesen Jahren vermutlich mehr vom Leben lernen können als auf den Schulen und den Universitäten zuvor. Und überall, beim Arbeiter und beim kleinen Reifenhändler, gab es Lehr- und Lernstunden. Menschen, die enger mit Francois Michelin zusammengearbeitet haben, bezeichneten ihn als „Mann wie Opium“. Als Mann und Chef eben für den und mit dem man sehr gern arbeitete und für dessen Ideen man bereit war, durchs Feuer zu gehen. Ein Mann, der Menschen mag, der Menschen respektiert und der Menschen die Möglichkeit bot, sich zu entwickeln. Folglich hat man bei Michelin nicht gefragt, was ein Bewerber derzeit kann, sondern man hat sich das Potenzial dieses Menschen angesehen. Das Bemühen lag – und das ist wohl immer noch so – darin, jedem einzelnen Mitarbeiter zu helfen, sein Potenzial optimal auszuschöpfen. Das ist sehr gut für das Unternehmen und außerordentlich befriedigend für die Mitarbeiter und nur mög-lich in einer Atmosphäre, die Kritik zulässt, die sachliche Auseinandersetzung er-möglicht. Ein Klima muss bleiben, das den Einzelnen sagen lässt, was er für gut und schlecht hält, was er für kritikwürdig und für verbesserungsfähig hält.
War Francois Michelin jemals ein großer Kommunikator? Wer ihm nie begegnete, kann das nicht beurteilen. Bezeichnend aber, wenn viele Mitarbeiter, die über seine Fähigkeit und seinen Willen zuhören zu können und zuhören zu wollen, ins Schwärmen geraten und denen der Stolz noch anzumerken ist, mit Francois Michelin zu diversen Gelegenheiten zusammengetroffen zu sein, mit ihm und für ihn gearbeitet zu haben. Und nicht nur das. Im Grunde sind alle Michelin-Arbeiter bis zum heutigen Tag sehr stolz auf ihren Konzern, auf dessen Produkte und Leistungen. Auch das zeugt von einer herausragenden Unternehmenskultur.
Alles das kommt nicht von ungefähr. Francois Michelin ging immer zu den Menschen und er ging in die Fabriken. Bei Auslandsbesuchen ging er wie selbstverständlich in die Fabriken und redete mit den Arbeitern. Und das stets dreimal, zu allen drei Schichten. Das restliche Programm lief dabei schon oft aus dem Ruder, obwohl ohne-hin „Pufferzeiten“ eingeplant waren. Aber niemand hätte Francois Michelin zur Eile antreiben können, wenn er in ein Gespräch mit Arbeitern vertieft war.
Der Mann, der fließend und begeisternd französisch spricht, aber ansonsten – so weit bekannt – für Fremdsprachen wenig übrig hatte, jedenfalls weder deutsch noch englisch spricht, konnte auch Angehörige fremder Nationen begeistern, die nicht zur Michelin-Belegschaft zählen. Zur Entgegennahme eines Awards des NTDRA (Abkürzung für den amerikanischen Reifenhändlerverband) war er Mitte der 80er Jahre nach Atlanta/Georgia gekommen. Abends eingeflogen, schon etwas müde, hat er mit seinen PR-Leuten den Text geübt. Francois Michelin wollte die Rede in englischer Sprache halten. Alarmstimmung für alle „Micheliner“, die es doch mit ihrem Chef immer nur gut meinten, denn mehr als ein Mal hatte er nicht üben wollen, entsprechend das Resultat. Bewaffnet mit Mikrofonen konnten fleißige Helfer stets rettend eingreifen, wenn es nötig wurde. Es klappte alles, jedenfalls ungefähr. Angelangt beim Wort „approximately“ war es dann aus und vorbei. Nach mehrfachen vergeblichen Versuchen, das schwierige Wort über die Zunge kommen zu lassen, gab Francois Michelin lachend unter dann aufbrausendem Beifall auf. Er hatte damit die gesamte Zuhörerschaft für sich eingefangen. Die Leute hörten ihm zu, waren beeindruckt von dem, was er sagte, und lernten, keinen Vortrag mit Allerweltsfloskeln hören zu müssen.
„Alarmstimmung“ herrschte ohnehin, weil auf dieser Veranstaltung ein Mann namens T. Boone Pickens als key note speaker verpflichtet worden war. Es galt einen gemeinsamen Auftritt von „FM“ mit Pickens in aller Öffentlichkeit zu vermeiden. Pickens war nichts anderes als ein Raider, der sich in unterbewertete Unternehmen einkaufte und diese filetierte. So war ihm auch in Japan als erstem amerikanischen Unternehmer eine Beteiligung von gut 25 Prozent an einem Konzern gelungen. Nun wollte Pickens Macht und Einfluss, und zwar über einen oder mehrere Sitze im Aufsichtsrat. Nichts da, ließen ihn die Japaner wissen, mal sehen, vielleicht in ein, zwei oder drei Jahren. Vielleicht auch gar nicht. Feindliche Übernahmen hatten in Japan keinen Platz. Fortan versuchte es Pickens über Aktivierung von Lobbyisten und das so bezeichnete „Japan-bashing“. Genützt hat es ihm nicht; er zog sich schließ-lich zurück.
Zurück zu „FM“. Natürlich muss man auch in Rechnung stellen, dass es Francois Michelin sehr entgegenkam, sich nicht mit internen Mitstreitern um die Führungsposition streiten zu müssen. Seit seinem Eintritt in das Unternehmen und später in die Geschäftsleitung waren die Rollen verteilt. Gesundheit vorausgesetzt, war die Führungsfrage auf Jahrzehnte hinaus geregelt, Sägerei an seinem Stuhl hat er nicht erdulden müssen. Und von allem Anfang an konnte er sich auf das große Ganze konzentrieren, auf das Endergebnis unter dem Strich und so bleiben Eifersüchteleien, mit denen sich aufstrebende und ehrgeizige Bewerber um Spitzenpositionen meinen empfehlen zu können, gleich mal außen vor. Und auch das noch: Mag Francois Michelin Journalisten schon nicht allzu sehr gemocht haben, so ist partout nicht vorstellbar, dass gerade mal 30-jährige Analysten mit ihren oft nur noch als abstrus zu bezeichnenden Vorstellungen auch nur eine Sekunde seiner Zeit Gehör gefunden haben könnten. Das bedeutet nicht, dass Analysten und Banker keinen Ansprechpartner im Konzern gehabt hätten. Das war u.a. die Aufgabe von Eric Bourdais de Charbonnière, der auch zum Familienclan gehörte. „FM“ hat sich übrigens nicht nur keine Sekunde mit Analysten abgegeben, sondern er war auch selten eine reine Freude für die Finanzmanager des Konzerns in aller Welt, die oftmals den Versuch unternahmen, ihn mit zu irgendwelchen bedeutenden Vorstandsmitgliedern irgendwelcher ausländischer Banken zu zerren. Alles vergeblich. „FM“ diskutierte mit der Belegschaft, mit dem einfachen Arbeiter am Band. Sein erster Weg war immer und überall in die Fabriken. Selbst noch am späten Abend.
Francois Michelin hatte sich, und das ist ja wohl auch bis heute so geblieben, mit den Vorstellungen des Familien-Clans, der den Weltkonzern bis heute kontrolliert, auseinanderzusetzen. Harmonie, nichts als Harmonie über nahezu 50 Jahre hinweg? Wer will das glauben? Aber es spricht für diesen Clan, dass im Grunde nie irgendetwas nach außen gedrungen ist. Dieses im patriarchalischen Sinne geführte Unternehmen muss immer schon soziale Kompetenz auf den Panieren gehabt haben; Francois Michelin hat das weiter geführt und er hat bewiesen, dass ein Weltkonzern mit dieser sozialen Kompetenz letztlich weitaus besser fährt als ein Konzern, dem Shareholder Value über alles zu gehen scheint. All diese durchaus nicht zu unterschätzenden Vorteile, die der junge Firmenchef damals vorfand, hat er auch sehr konsequent genutzt; sie haben ihm die Erfüllung seiner Vorstellungen wohl leichter gemacht.
Was Konzernmanager sonst prägt und geprägt hat
Wer kein Familienunternehmen im Rücken hat, wenn er von der Universität kommt, steigt anders bei Konzernen ein. Er ist interessiert einen Job zu übernehmen, ihn so gut zu machen, wie er es kann, und er ist interessiert, auf sich aufmerksam zu ma-chen. Schnell wird gelernt, dass und warum „Seilschaften“ nützlich und lebensnotwendig sind, dass schädlich ist, sich um das Konzerninteresse zu kümmern. Was für Jungmanager Francois Michelin vom Beginn seiner Tätigkeit an selbstverständlich war, nämlich zu fragen, ob alles, was geschieht oder auch unterbleibt, sich „unter dem Strich“ auch auszahlt, somit im Konzerninteresse liegt, könnte für Jungmanager in anderen Konzernen eher negative Konsequenzen haben. Dort hat man zu lernen, je-doch zumindest zu akzeptieren, dass es Aufgaben zu lösen gilt und sich so hehre Ziele wie das Konzerninteresse im Blickfeld der Jungstars nicht schärfen lassen. Die Abteilung hat ein möglichst positives Ergebnis vorzulegen; davon hängen weitere Beförderungen ab. Bei allem braucht man aber auch immer einen verständnisvollen und souveränen Vorgesetzten, an dem man sich aufrichten kann. Vielfach ist das Glückssache. Dann nämlich, wenn der Chef des Jungmanagers seinen derzeitigen Job nur als Zwischenstation auf einem schnellen Weg nach oben betrachtet, er keine Probleme löst, sondern den Teppich hebt und sie darunter kehrt. Motto: Nach mir die Sintflut! Da mag man sich drehen und wenden, wie immer man will, man muss etwas tun, um weiterzukommen, notfalls muss man einen Mitbewerber um einen besseren Job auch mal ausstechen, auch schon mal „alt“ aussehen lassen. Es ist wie im Fußball, wo die Geschichte von „Elf Freunde müsst ihr sein“ sowieso als Mär verschrien ist.
Anders als ein Francois Michelin, den schon in seinen jungen Jahren kein Manager des Hauses stoppen wollte, treffen junge Manager in Konzernen stets auf widerstrebende Interessen, lernen, dass man schneller am eigenen Stuhl und am Stuhl anderer sägt als man sich das zuvor hat vorstellen können und somit werden auch Schutzmechanismen entwickelt, Frühwarnsysteme installiert, Fallstricke gelegt, Seilschaften geknüpft. Das kann hinderlich oder auch hilfreich sein. Da werden Leute raketenartig nach oben gezogen, weil sie einfach im richtigen Moment einem da mächtigen Boss über die Füße stolperten und fortan als „Kronprinzen“ schon galten. Fällt der Boss, und in Konzernen ist so etwas schon mal über Nacht der Fall, erfolgt auch für viele „Kronprinzen“ der absolut freie Fall. Da wurde über die „Visionen“ der Ge-schassten nur noch gelästert, denn der neue Mann hatte völlig andere und neue Ideen, neue Prioritäten. Bis zur nächsten Versetzung, Beförderung oder auch bis zum Rauswurf. Dann gab es wieder eine neue Ausrichtung.
Head Hunter! Frivol die Vorstellung, man habe Francois Michelin irgendwann mal angerufen und ihm einen tollen Job angeboten, gut bezahlt natürlich! Andere Manager sehen sich solchen Anrufen gelegentlich ausgesetzt, fühlen sich gebauchpinselt und meinen, ihren „Marktwert“ so getestet zu haben. Wie gut fürs Ego und wie verführerisch. Es wird klar: Während ein Mann wie Francois Michelin eine Aufgabe fürs Leben annahm, wohl wissend, dass ihn ein jeder Fehler im Laufe der Zeit wieder einholen würde, wohl wissend, dass er für jeden Fehler einen Preis zu zahlen haben würde, ebenso für jedes ungelöste Problem irgendwann in Anspruch genommen werden würde, ist es normalerweise für Konzernmanager anders. Sie sind auf einem Posten auf Zeit, wechseln entweder innerhalb des Unternehmens, weil sie auf dem letzten Posten gute Resultate erzielten, und sind oft schon auf der zweiten oder dritten Station, wenn der Bumerang wegen ihrer ungelösten Hausaufgaben kommt und sie dafür nicht mehr einzustehen haben. Sie machen dann irgendwo auf der Welt wieder einen exzellenten Job. Jedenfalls vermeintlich. Oder aber sie managen jetzt die nächste Firma, nachdem sie sich in der vorigen durch Stock Options gesund gemacht haben und nun einen noch größeren Coup vorhaben. Und solche Manager, die wirklich herausragen, werden nun mal von vielen anderen Konzernen umworben, sodass es ihnen schwerfallen dürfte, immer dem einen Unternehmen treu zu bleiben.
Patriarchalisches Element
So unterschiedlich der Werdegang hier beschriebener Spitzenmanager im Vergleich zu einem Führer wie Francois Michelin ist, so unterschiedlich ist letztlich deren Ausprägung, auch deren Gespür für soziale Kompetenz. Oder ist dies, freundlicher ausgedrückt, richtig: Fremdmanager können sich das Ausmaß an sozialer Kompetenz ein-fach nicht leisten, das sie selbst für angemessen halten, weil ihnen die Analysten der Welt Feuer unter den Stühlen schüren?
Man muss sich nun einfach mal die „Glaubensbekenntnisse“ von Konzernen ansehen, die „Basics“ entwickelt und verkündet haben; wirklich nur um sich dann nicht daran zu halten? Ein Konzern muss die Interessen der Belegschaft, der Aktionäre, der Lieferanten und vor allem der Kunden harmonisch aufeinander abstimmen. Solches oder Ähnliches liest man überall. Dabei ist es für viele Aktionäre, besonders in Amerika, doch nur eine geradezu lächerliche Vorstellung, dass Belegschaften ihnen gegen-über Rechte reklamieren. Es zählt nicht allein der Gewinn, sondern es geht um Verzinsung des eingesetzten Kapitals. Die Höhe der Verzinsung ist unbeschränkt. Er-reicht man das nicht, werden Einschnitte verlangt und gemacht. Das heißt: Abbau von Sozialleistungen, Abbau von Arbeitsplätzen. Und wenn dieser rasche Abbau auch nicht mehr die gewünschten Ergebnisse in der schnellstmöglichen Zeit bringt, wird die Hektik umso größer. Wenn aber eine einigermaßen akzeptable und vernünftige Abstimmung der Interessen unter Aktionären, Belegschaft, Lieferanten und Kunden nicht mehr gelingt, dann kann auch keine optimale Unternehmenskultur mehr vorhanden sein.
Unternehmenskultur, Umgang mit Belegschaften setzt eins voraus, was einem Franco-is Michelin wahrscheinlich im Überfluss mit auf den Weg gegeben worden ist: Interesse an Menschen schlechthin! Aus der Position des Firmeninhabers konnte „FM“ sich mit den Menschen unterhalten und auseinandersetzen. Nachdem er das Interesse an Menschen erst einmal bewiesen und unterstrichen hatte, seine Integrität dadurch sozusagen unangreifbar geworden war, war es ihm möglich geworden, sich ziemlich relaxt zurück zu lehnen und sich auch für die Details interessieren zu können, die Menschen und Vorgänge um Menschen interessant machen. Hatte erst ein Manager oder auch nur „kleiner“ Angestellter oder gar „nur“ ein Arbeiter seinen Weg gekreuzt, war sicher, dass „FM“ dies nie vergessen würde. Meistens war ihm bei einem Wiedersehen der Name des Mitarbeiters noch gegenwärtig, zumindest wusste er aber, dass man sich mal gesehen und gesprochen hatte und wo dies gewesen war. Das ist beeindruckend für jedermann. Eine ähnliche Fähigkeit wird im Übrigen auch seinem Sohn Edouard nachgesagt. Mit diesem, wenn man so will, patriarchalischen Stil ist es „FM“ gelungen, Menschen hinter sich zu scharen und ihnen das Bewusstsein zu geben, zu einer besonderen Firma zu gehören, in deren Diensten man sich besonders an-strengt, man einfach stolz ist, dabei zu sein. Daraus resultiert die Bewunderung und Verehrung der gesamten Belegschaft zu ihrem Patron. Man ist stolz, für diese Firma arbeiten zu können.
Zu dick aufgetragen? Ist es denn heute etwa nicht so, dass Michelin-Produkte weltweit am teuersten verkauft werden? Selbst wenn Wettbewerber im einen oder anderen Fall mal stolz auf Preisgleichheit hinweisen können? In manchen Produktgruppen liegen große Abstände zwischen dem Abgabepreis eines Michelin-Reifens an den Handel oder Verbraucher verglichen mit solchen von Wettbewerbern. Michelin bildet die Basis 100; dann geht es um Abstand, um Handicap, um billigere Abgabepreise, damit die Franzosen dem Wettbewerb nicht völlig davonrennen. Wie demütigend, ja wie extrem demütigend muss es denn im Grunde für alle Wettbewerber sein, sich von vorneherein einen „Abstand“ zum Michelin-Preis suchen zu müssen? Mit dem Anspruch der erstklassigen Qualität sowie der ständigen Markenpflege hat Francois Michelin seinen Konzern zum Markt-, Preis- und Meinungsführer weltweit machen können. Markenpflege? Ja, der Name der Marke ist Michelin und dieser Name steht für eine Persönlichkeit an der Spitze des Unternehmens, aber eben auch als Markenpersönlichkeit, dokumentiert durch den Bib. Welch anderer Konzern hat in dieser Konsequenz und Dauerhaftigkeit eine Markenpersönlichkeit aufgebaut und gepflegt? Und Michelin hat in die Marke permanent über Jahrzehnte hinweg gleichbleibend investiert.
Die Michelin-Manager auf allen Ebenen verstehen sich durchaus als Teil einer Elite. Dabei muss man natürlich in Rechnung stellen, dass auch Manager anderer Konzer-ne nicht dümmer, nicht schlechter und nicht weniger anständig sind. Sie unterliegen lediglich anderen Regeln, einem anderen Druck und sind mehr oder weniger gezwungen, diesem Druck zumindest gelegentlich nachgeben zu müssen.
So ist der heute von den Quartalsberichten ausgehende Druck unübersehbar geworden. Davon ist selbst Michelin nicht ganz frei, hat es dennoch weit einfacher als z.B. ein US-Unternehmen. Michelin hat eben noch nicht wegen kurzfristiger Vorteile eine langfristig bessere Lösung in den Wind geschrieben und Michelin hat auch noch nicht wegen schlechter Quartalszahlen Entlassungen angesagt. Michelin hat sehr wohl Restrukturierungsarbeiten verkündet, die sich über einen Zeitraum mehrerer Jahre erstrecken sollten und mit dem derzeitigen guten oder weniger guten Ergebnis nichts zu tun hatten. Und selbst in höchster Not, auch das hat der französische Reifenkonzern ja durchaus schon erlebt, kam ein Verkauf des „Tafelsilbers“ niemals in Betracht. Das zahlt sich auch aus. Den Managern ist durchaus klar, dass ihre an sich durchaus als gut zu bezeichnende Vergütung mit der mancher Konkurrenten nicht mitzuhalten vermag. So haben eine Vielzahl von Manager des Goodyear-Konzerns „in den guten Gibara-Jahren“ in der zweiten Hälfte der 90er Jahre durch Boni und Sonderausschüttungen binnen drei Jahren verdient (bekommen), wofür sie eigentlich fünf Jahre hätten arbeiten sollen. Das Einkommen sei ihnen allen gegönnt, den US-Konzern aber hat es nicht vorangebracht. Spöttisch möchte man doch anmerken: Wer sich auf das Spiel „Michelin ist Basis 100 – unser Handicap ist …“ einlässt, der sollte dieses Spiel konsequent spielen. Wenn „wir“ eine Preisbasis 90 zu der von Michelin brau-chen, dann müssen „wir“ auch mit der Einkommensbasis 90 zufrieden sein oder aber mit aller Kraft daran arbeiten, auch auf 100 zu kommen. Doch solche Gedanken sind nicht allenthalben populär. Aber es ist die zweite Demütigung. Die besten Konzerne der Welt ziehen die besten Leute an, die Besten gehen nicht für das beste Einkommen zu einem Arbeitgeber, sondern um sich bestmöglich entfalten und etwas bewegen zu können. Die zweitbesten Konzerne können nur mit höheren Gehältern locken, wollen sie nicht leer ausgehen. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass sie selbst nur die zweite Kategorie von Managern für sich gewinnen könnten. Diese Erfahrung aber muss ein Michelin-Konzern gelegentlich auch selbst erleiden. Hat nämlich zum Beispiel ein junger japanischer Ingenieur die Chance auf eine Einstellung bei Bridgestone in Tokio, so wird er ein Angebot von Michelin ausschlagen. In Japan ist Bridgestone eben weit besser angesehen als Michelin.
Ernannten Spitzenmanagern fehlt es oft an einer Lässigkeit, die einen „FM“ aus-zeichnete, weil diese eben immer und überall mit Fallstricken zu rechnen haben und auch von vielerlei Zufälligkeiten abhängen. Da kann ein Spitzenmanager noch so richtig liegen mit seiner Sicht der Dinge, wenn er sie gegen kurzfristig denkende Aktionärsvertreter nicht verteidigen kann, ist ihm das nicht anzukreiden. Die Verhältnisse sind dann gegen ihn. Und unter solchen Verhältnissen leidet die Unternehmenskultur, leidet die Rücksichtnahme auf die Menschen, von denen der Erfolg schon immer abhing und auch in Zukunft abhängen wird, in einem solchen Klima fallen zwangsläufig Entscheidungen, die es dem Management und dem einzelnen Belegschaftsmitglied sowieso sehr erschweren, auf das Unternehmen noch stolz sein zu können. So hatte zum Beispiel Goodyear dem patriarchalischen Führungsstil und der damit verbundenen Unternehmenskultur einen Stil entgegenzusetzen, der von der „Goodyear-Family“ beseelt war; und ist damit Jahrzehnte lang ganz gut gefahren. Unter Druck ist für diesen Stil kaum noch Platz; die Goodyear-Unternehmenskultur hat sich – auch wenn das niemand hören und lesen will, muss es hier niedergeschrieben werden – stark verändert. Ob das für den US-Konzern auch langfristig von Vorteil ist, bleibt zweifelhaft. Selbst kurzfristig hat es dem Konzern erst mal außer Problemen ebenso nichts gebracht.
Wie „tickt“ Michelin?
„Wir wissen doch, dass der Patron Journalisten schon mal gern quer verzehren würde.“ Was ein Pressemann des Konzerns salopp ausdrückte, wusste er vielleicht auch selbst, andere können es bestenfalls erahnen. Auf vielen Ebenen und über viele Persönlichkeiten hat diese Zeitschrift nahezu 20 Jahre versucht, mit Francois Michelin in Kontakt zu kommen. Manchmal keimte gar so etwas wie Hoffnung auf. Nach einem längeren – einführenden? – Gespräch mit dem Konzernpressesprecher Jean-Pierre Vuillerme während einer IAA-Messe in Frankfurt hatte es den Anschein, nun könne es was werden. Doch dann wurde Vuillerme versetzt und ausgerechnet zum Sicherheitschef des Konzerns ernannt. Ergo: Es hat nie geklappt mit dem großen Mann an der Spitze dieses Konzerns!
Diskussionen um und über Michelin, aber auch mit Michelin-Managern auf unter-schiedlichsten Ebenen vieler Länder hat diese Zeitschrift geführt und geglaubt, viel über dieses Unternehmen zu wissen. Dann wurden Diskussionen mit führenden Managern vieler großer Reifenkonzerne über Michelin geführt. Stellvertretend für andere soll hier an Gespräche mit Goodyear-Managern erinnert werden. Abendessen mit Jack Sardas, einem der erfolgreicheren Goodyear-Spitzenmanager der noch nicht allzu fernen Vergangenheit, in einem Spitzenlokal. Sardas, ein Verkaufsgenie und ein bewunderungswürdiger Praktiker und Macher, sprach von und über Michelin. Seine Kenntnisse wollte er bei einem guten Glas Wein weitergeben, denn er empfand sich, seit er mal viele Jahre zuvor für Goodyear in Frankreich gearbeitet hatte, nicht nur als Kenner des französischen Wettbewerbers, sondern gar als Weinkenner. Nach kürzerem Blick in die Preise auf der Weinkarte empfahl der sparsame Sardas dann jedoch gutes Bier. Mit weiteren Managern, die im Hause Goodyear als Mitglieder der „French Connection“ gelten, wurde auch über Michelin gesprochen. So mit Gene Culler, erst für Europa zuständig, später für den nordamerikanischen Markt, der in einem Restaurant in Paris darauf hinwies, der kleine Shrimps-Cocktail sei so teuer wie ein Reifen der Größe 155 SR 15 TL. Culler kannte offenbar nur die Goodyear-Preise, ansonsten hätte er gewusst, dass ein Michelin-Mann sich auch noch an den zweiten Cocktail hätte herantrauen können. Immer wieder dieselbe Erkenntnis: Die Redaktion dieser Zeitschrift weiß sehr, sehr wenig von Michelin. Doch die großen Herren, die mein-ten, es besser zu wissen, wissen weit weniger, ja sogar so gut wie gar nichts in dieser Sache. Jedenfalls hat ihr Wissen mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun. Selbst der letzte President von Goodyear Western Europe, der Franzose Sylvain Valensi, war da alles andere als eine Ausnahme. Und der Grund ist ganz einfach: Wer erst einmal in der Führungsetage eines Unternehmens angelangt ist, bleibt angewiesen darauf, was ihm gebracht wird. Gebracht wird ohnehin nur das, was Angestellte eines Unternehmens aus dem Verhalten von Michelin meinen analysiert zu haben, ge-bracht wird ohnehin nur das, was die eigene Position nicht gefährdet und gebracht wird gelegentlich auch von den Untergebenen, was die Chefs bei Laune hält. Das gilt besonders im direkten Vergleich zweier Konzerne. Ein Journalist aber kann nicht von dem leben, was ihm geliefert wird, er muss sich seine Informationen holen. Ohne je-den Filter. Er muss und kann mit den Betreffenden sprechen und diskutieren, kann Meinungen anderer einholen. Das ist wohl der wesentliche Unterschied. So ergeben sich dann Bilder, die mit der Wirklichkeit schon was zu tun haben.
Letztlich wird dann auch immer wieder versucht, den Vergleich auf andere Ebenen zu ziehen. Man behauptet, die intensive Markenpflege des Konkurrenten Michelin koste unendlich viel Geld, lohne sich somit gar nicht. Michelin könne nicht das über höhere Abgabepreise wieder „einspielen“, was als Kosten für Werbung, Marketing, Außendienst-Mannschaften usw. anfiele. Dass alles dies nur Schutzbehauptungen sind, die vom Wesentlichen ablenken sollen, ist natürlich klar. Die Ergebnisse sieht man am Jahresende. Richtig beschämend für Wettbewerber wird es aber erst, wenn man das Problem von dieser Seite aus betrachtet: Reifen sind Commodities im Sinne von austauschbaren Allerweltsprodukten. Und genau mit dieser Philosophie ist ein Michelin-Konzern eben nicht anzustecken. Für ihn sind Reifen Qualitätsprodukte, Hightech-Waren, die einen guten Preis verdienen. Die Marke ist eben etwas Besonderes und eben nicht austauschbar.
Der Übergang auf Edouard Michelin
Edouard Michelin wurde von seinem Vater nicht ausgesucht, weil er unter allen anderen Geschwistern einfach „dran“ gewesen wäre, sondern vermutlich weil ihm das größte Potenzial zugeschrieben werden konnte. Ältere Geschwister arbeiten übrigens in-nerhalb des Konzerns auf anderen, durchaus nicht absolut herausragenden Positionen. Und es gibt auch weitere Mitglieder des großen Familienclans an unterschiedlichen Stellen. Wie bereits erwähnt, zieht Michel Rollier seine Kraft aus der fachlichen Kompetenz, aber eben auch aus der Tatsache, dass er Mitglied der Großfamilie ist, die in diesem Konzern den Ton angibt. Dass der Übergang von „FM“ nun auf „EM“ lautlos und ohne größere Rückschläge über immerhin rund eine Dekade hinweg so gut funktionierte, dürfte ebenfalls in höchstem Maße das Verdienst von Francois Michelin sein. Es fand aber nicht allein in der Familie ein Generationswechsel statt, sondern dieser Generationswechsel vollzog sich im Grunde durch das gesamte Unternehmen. Hat ein knapp Dreißigjähriger so viel Führungspotenzial, dass man ihn an herausragender Stelle einsetzen kann? Wenn man das bejaht, kann man schlecht sagen, die Altersklasse der Dreißig- bis Vierzigjährigen sei für Führungsaufgaben noch zu jung. So sieht man heute bei dem weltweit führenden Reifenhersteller eine relativ junge Generation in den wesentlichen Führungspositionen, die durchaus aber noch hier und da von etwas älteren Kollegen begleitet werden.
Wer nachdenkt, wird von selbst zu dem Ergebnis kommen, dass man den Global Player Michelin nicht mehr mit den Methoden, die unter Francois Michelin galten, weiter so führen kann wie bisher. Es gibt viele Neuigkeiten, die jedem Beobachter auffallen können. So das Verhältnis des Unternehmens zur Presse. Die durch Edouard Michelin betriebene Öffnung hat sich vor kurzer Zeit so kaum jemand vorstellen können. Die Diskussion mit Analysten! Schlecht vorstellbar unter Francois Michelin. Wenn Gold-man Sachs oder Morgan Stanley einladen, dann ist heute auch Michelins oberster Finanzmanager Michel Rollier zur Anreise und Präsentation von Geschäftsdaten bereit. Die Bereitschaft, schon zum Jahresbeginn Prognosen über Umsatz und Ertrag für das laufende Jahr abzugeben, ist bemerkenswert und erstaunlich zugleich. Manchmal scheint es sogar schon ein wenig viel des Guten. Noch erstaunlicher und noch bemerkenswerter aber ist, mit welcher Präzision dann im Verlaufe des Jahres geradezu Punktlandungen erfolgen.
Innovation und Produktqualität wurden immer schon ganz groß geschrieben, einen hohen Stellenwert hat Marketing unter Edouard Michelin bekommen. Die Pflege der Marke, die seinen Namen trägt, kann man noch als Selbstverständlichkeit abhaken; heute aber werden auch Marken wie BFGoodrich, Uniroyal (in USA) und Kleber (in Europa), künftig vielleicht gar Warrior (in China) intensiv gepflegt werden. Der Wert der Marke Michelin, der in keiner Bilanz auftaucht, ist weit höher als das gesamte Anlagevermögen des Konzerns. Der die Marke beherrschende Bib lebt seit mehr als hundert Jahren. Anlässlich seines 100. Geburtstages wurde ihm mit der Bib-Challenge zudem eine neue Aufgabe zuteil, die er über Jahrzehnte mit Leben erfüllen wird. Bib bleibt so auf ewig jung und dynamisch. Das Formel-1-Engagment sowie viele andere Rallyesport-Events helfen ihm, sich fit zu halten.
Anpassung an den Zeitgeist
Dass Mitarbeitern eine Beteiligung am Unternehmen durch Mitarbeiter-Aktien ermöglicht wird, die zudem noch durch Firmenkredite finanziert werden können, ist ein großer Fortschritt. Die Resonanz in der Belegschaft zeigt, dass dies von diesen ebenso gesehen wird. Allerdings ist man noch einen Schritt weiter gegangen und hat auch ein Stock-Options-Programm aufgelegt; gleichwohl in weitaus bescheidenerem Umfang als bei Wettbewerbern. Im Licht der letzten Entwicklungen, die am Sinn von Stock Options nicht allein zweifeln, sondern sogar befürchten lassen, dass die Richtung eines Konzerns damit in völlig falsche Bahnen gelenkt werden könnte, dürfte auch diese Entscheidung bei Michelin vermutlich noch einmal zu überdenken sein.
Doch die Öffnung gegenüber der Presse, die Öffnung gegenüber Analysten, Mitarbeiterbeteiligungen, Stock Options sind keinesfalls bloßer Selbstzweck, sondern auch Ausdruck des Willens, dass sich die Franzosen dem Wettbewerb so stellen wie er ist, dass sie bereit sind, nach diesen Regeln zu spielen und sich unter diesen Regeln bewähren und messen lassen wollen. Nun aber wird das Management aufpassen müssen, sich insbesondere von einigen negativen Dingen, so z.B. Stock Options, nicht vereinnahmen zu lassen. Es gibt in jüngster Zeit – gottlob noch nicht in der Automobil- und Reifenindustrie – Beispiele dafür, dass sich Manager mit Stock Options einfach nur völlig ungerechtfertigt bereichert haben. Ein Unternehmen sollte gute Gehälter zahlen, sollte auch an Erfolg geknüpfte Boni gewähren und diese aus dem Gewinn bezahlen, sichtbar für jedermann, auch für den Aktionär. Die Gewährung von Stock Options wird zudem stets damit begründet, dafür würden sich die Manager ganz besonders anstrengen, damit seien sie zu halten. Für Michelin gilt alles dies aber nun mal ganz und gar nicht. Die Mitarbeiter sind so schon stolz auf dieses Unter-nehmen, sie sind so schon hochgradig motiviert und Stock Options können nicht zu einer Steigerung der Motivation führen. Stock Options rechtfertigen sich aus hiesiger Sicht für Unternehmen, die am Rande der Pleite segeln und nun risikobereite Manager brauchen, die aus sicheren Posten auf unsichere zu wechseln bereit sind und für das von ihnen einzugehende und eingegangene Risiko sodann auch überproportional belohnt werden; sofern der Erfolg eintritt!
Im Umgang mit Menschen ist auch nach der Übergabe des Staffelstabes von Francois auf Edouard Michelin alles unverändert geblieben. Auch „EM“ kann auf Menschen zugehen, kann ihnen zuhören (vielleicht noch nicht so unvoreingenommen und geduldig wie Francois Michelin) und ihnen zeigen, dass sie für die Firma am wichtigsten sind. Auch „EM“ besucht die Menschen in den Fabriken und sucht die Diskussion und den Austausch von Erfahrung mit ihnen. Einige sind geneigt, ihm die Ernsthaftigkeit zu bestreiten, mit der sich sein Vater gerade dieser Aufgabe mit den Arbeitern hingab. Dafür gibt es aber keinen erkennbaren Anhaltspunkt bisher. Der Stolz jedenfalls, bei diesem Unternehmen zu sein, wird auch durch das Auftreten von „EM“ gefördert. Allerdings wird es diese fast schon militärisch anmutende Präzision bei der Ausführung aller Pläne nicht mehr geben und nicht mehr geben können. Derartiges passt nicht mehr in eine moderne Welt und das ist auch gut so. Dennoch: Die Grundpfeiler der Unternehmenskultur bleiben. Auch unter der Führung von Edouard Michelin bleibt das, was „FM“ so bekanntlich beschrieb: „Ohne die Menschen bewegt sich nichts. Unsere auvergnatischen Wurzeln haben sich in der ganzen Welt verbreitet, das ist die DNA von Michelin.“
Betrachtet man Michelin heute sorgfältig, so sieht man einen Weltkonzern, der „vor dem Vorhang“ in geradezu blendender Form ist. Die Mehr-Marken-Strategie trägt Früchte, das Unternehmen hört auf den Markt, hört darauf, was Verbraucher wirklich wollen und reagiert entsprechend schnell. Das Unternehmen verkauft nicht allein Reifen, sondern Marken, nicht allein Reifenmarken, sondern Systeme und Mobilität. Das ist einer der Schlüssel des Erfolgs im Geschäft mit Nutzfahrzeugreifen. Und das Unternehmen versteht es, für seine Produkte einen im Großen und Ganzen fairen Preis zu erlösen. Das vormals noch französische Unternehmen dominiert in Europa, greift in Nordamerika zur Spitzenposition und ist in Asien zügig auf dem Vormarsch. Viele wollen noch Global Player werden oder auch nur spielen, der Michelin-Konzern ist ein Global Player.
„Vor dem Vorhang“ ist das Unternehmen somit für jedermann sichtbar heute in bester Form. Es holt sich auch in schwierigeren Ländern irgendwann einmal verloren gegangene Marktanteile zurück und es stößt vor allen Dingen auch in die hochprofitablen Reifensegmente vor. Im Bereich Nutzfahrzeugreifen scheint der Hersteller dank seines Produktes und in Verbindung mit allen Serviceleistungen schon nahezu unschlagbar zu sein.
Doch wo es ein „vor dem Vorhang“ gibt, muss auch über ein „hinter dem Vorhang“ gesprochen werden. Naturgemäß ist es für Außenstehende sehr viel schwerer, dort Einblick zu nehmen und zu Schlussfolgerungen zu kommen. Wenn nur ein wenig von dem stimmt, was man von Lieferantenseite her hören konnte bisher, so ist die beinahe schon perfekte Abstimmung dort immer noch reines Wunschdenken. Waren früher Manager für Regionen zuständig, so gibt es heute Manager für die Produktlinien. War unter „FM“ ein Carlos Ghosn für Michelin Nordamerika tätig, so ist diese Verantwortung heute auf mehrere Schultern verteilt, auf die Chefs der Produktlinien. Das birgt den Nachteil, dass man in Nordamerika Manager vom Schlage eines Carlos Ghosn kaum für sich begeistern kann. Doch diese neue Struktur funktioniert in den Produktlinien auch bestens. Es ist aber fraglich, ob das für die Servicegruppen, die ja eigentlich nur dienen und kein Eigenleben entfalten sollen, ebenso gilt. Wenn nicht alles täuscht, gibt es da mehr Abstimmungsprobleme, als man dachte und es wird schon wieder etwas restrukturiert, verfeinert und verbessert. So kann der Einkauf ganz gut funktionieren, nämlich soweit es um Einkauf von Rohstoffen geht, die einen Weltmarktpreis haben. Wo aber die lokalen Komponenten mit hineinspielen, gibt es viel Leerlauf. Die Einkäufer hatten früher, wenn man so will, ein Gesamtbild und vor ihnen liegen heute nur Ausschnitte eines solchen Bildes mit der Folge, dass viel an ihnen vorbei läuft. Viele Manager von der Beschaffungsseite haben es offen-bar schon als äußerst vorteilhaft und Erfolg versprechend angesehen, wenn sie den Lieferanten Preiserhöhungswünsche, manchmal über viele Jahre hinweg, einfach ausreden oder auch in gewisser Weise austreiben konnten. Und dennoch scheinen dort Michelin-Schwächen zu liegen, die ein durchaus erkleckliches Ausmaß angenommen haben. Von einer richtigen Nutzung sich ergebender Synergien kann daher kaum gesprochen werden. Schlimm ist das für den jetzt schon erfolgreichen Konzern allerdings nicht, wohl aber für die Konkurrenten, weil es sich um noch nicht gehobenes Einsparungspotenzial handelt.
Zusammenfassung
Mit Francois Michelin ist einer der letzten großen Patriarchen aus dem aktiven Dienst ausgeschieden. Seine Denkweise, sein Umgang mit Menschen, sein Respekt vor Menschen und seine Neugierde gegenüber Menschen haben zu einer Unternehmenskultur geführt, die ihresgleichen weltweit suchen dürfte. Disziplin, Einsatz, Fleiß, aber auch ethische Grundsätze sind ganz einfache Selbstverständlichkeiten für einen Konzern, der dennoch mit harter Hand und vollem Einsatz im knallharten Wettbewerb be-steht bzw. diesen notfalls auch selbst knallhart zu gestalten bereit ist. Seine Vision, das Unternehmen an die Weltspitze zu führen, ein erfolgreiches Unternehmen zu übergeben, hat sich erfüllt und bei allem wird er zusätzlich als Humanist bezeichnet. Konnte er sich im Wettbewerb Humanität leisten? Nach hier vorliegender Überzeugung wäre die Frage so falsch gestellt. Richtig dürfte vielmehr sein, dass seine gelebte Rolle als Humanist den gesamten Rest erst möglich gemacht hat.
Francois Michelins Wirken lässt sich nicht mit dem Wirken von Spitzenmanagern des Wettbewerbs vergleichen. Die Voraussetzungen waren zu unterschiedlich, weil von diesen Spitzenmanagern keiner auch nur annähernd über einen vergleichbar langen Zeitraum in Amt und Würden und in der Verantwortung war wie Francois Michelin. All diesen Spitzenmanagern, das war immer vorgezeichnet, würde am Ende seiner Dienstzeit wieder dahin zurückkehren, woher er denn gerade gekommen war oder würde ein völlig anderes Unternehmen managen. Wenn Francois Michelin – aus seiner Sicht – überhaupt einen Kollegen hatte, dann war es wohl der Nachfahre des Bridgestone-Gründers Ishibashi, dessen Familie auch noch Anteile am Unternehmen hält, jedoch ohne dieses wirklich kontrollieren zu können.
Wer war und ist dieser Francois Michelin wirklich? Es kann hier nur schlagwort-artig und versuchsweise beschrieben werden. Ein Visionär und Humanist. Das wurde bereits gesagt. Ein Mann wie Opium, ein Mann mit Charisma. Ein mutiger Unternehmer, ein Unternehmer mit Bereitschaft, ein hohes Risiko zu übernehmen. Ein bescheidener Mann? In einigen Zeitungsberichten wurde vor mehr als zehn Jahren schon über seine Bescheidenheit geschrieben. Francois Michelin, ein Mann mit den preiswerten Anzügen und wärmenden Strickjacken, ein Mann, der Autos über Jahre fährt, der in Paris kein Taxi, sondern die U-Bahn nahm. Aber dann kennt man auch einen Francois Michelin, der Helikopter und Firmenjets selbst zu steuern wusste.
Wer bis vor wenigen Jahren durch Clermont-Ferrand lief und die Michelin-Fabriken von außen erlebte, wer die vom Zusammenbruch bedrohten Außenmauern sah, musste Schlimmstes befürchten. „FM“ rückte keinen Franc für „unnütze Dinge“ heraus. Wer aber das Privileg besaß, diese Fabriken auch von innen sehen zu können, bemerkte sofort, dass innen alles „State of the Art“ war.
Einer seiner Manager beschrieb es dieser Zeitschrift gegenüber so: Monsieur Michelin machte vieles emotional, aus einem Gefühl heraus. Er diskutierte, bevor er Entscheidungen traf, er sprach mit Leuten, bevor er sich für einen Manager in einer bestimmten Funktion entschied. Und er entschied das ganz allein. Wer von ihm einge-setzt worden war, hatte sein volles Vertrauen, bekam alle Freiheiten und bekam auch volle Rückendeckung. Selbst in Zeiten, in denen es um äußerste Sparsamkeit ging, wurde investiert, was immer zu investieren war. Der Patron wurde deswegen von seinen Mitarbeitern auf allen Ebenen verehrt, niemand hat ihn jemals die Fassung verlieren sehen, gar schreien oder brüllen hören. Jeder, der mit ihm zusammenarbeiten durfte, von ihm ausgesucht worden ist, war voller Stolz und voller Motivation.
Francois Michelin wohnt, lebt und bleibt nahe der Konzernzentrale. Er hat gar keine andere Wahl als dem Unternehmen auf immer verbunden zu bleiben. Das prägt ihn und das Unternehmen und die Belegschaft. Der Konzern ist nun in den Händen der nächsten Generation. Viele Manager kennen inzwischen „EM“ und sie würden ihn gerne vergleichen mit seinem Vater. Leider unmöglich. Es gibt kaum Manager, die mit „EM“ arbeiten und wissen, wie „FM“ mit 38 Jahren war. Die Firma braucht viele Erneuerungen, sie braucht viele Anpassungen, sie braucht vielleicht auch eine Öffnung dergestalt, dass nicht französische Manager allein in Spitzenpositionen sind, sondern braucht mehr Internationalität. Kann alles so sein. Andererseits muss aber der Kampf um die Beibehaltung der Unternehmenskultur weitergeführt werden. Nicht die Maschinen, nicht die Rohstoffe, nicht die tollen technischen Zeichnungen oder einzelne grandiose Ideen haben Michelin zum Weltmarktführer gemacht, sondern die Menschen, die sich in diesem Unternehmen aufgehoben fühlen, gerne für dieses Unternehmen arbeiten, die dort ihre optimalen Entwicklungschancen sehen und deswegen hoch motiviert sind und bleiben. Entscheidungen „aus dem Bauch heraus“ seien nicht von Edouard Michelin zu erwarten, meinen ihm nahestehende Manager, vielmehr sei alles sehr gründlich analysiert, geprüft und durchdacht. Hat er weniger Emotion, weniger „Bauchgefühl“ als sein Vater? Schwer zu beurteilen und im Übrigen auch irrelevant, denn so viel ist gewiss: Es ist nicht einfach im Wettbewerb gegen Michelin! Die Michelin-DNA hat ihren Zug um die Welt angetreten, die auvergnatischen Wurzeln sind sichtbar wie nie zuvor. Wer Wurzeln hat, verwurzelt ist, besitzt eine Standfestigkeit, die auch Tiefen erträglich macht und Stürme aushalten lässt. klaus.haddenbrock@reifenpresse.de
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