François Michelin – Der Reifenmanager des 20. Jahrhunderts
Am 29. April ist François Michelin kurz vor Erreichen seines 89. Geburtstages in der Auvergne verstorben. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in einem christlichen Seniorenheim.
François Michelin hatte als nicht einmal 30-jähriger Jungmanager 1955 die Führung des französischen Reifenherstellers übernommen und diese erst 47 Jahre später im Jahr 2002 an seinen Sohn Edouard abgegeben. Sein gesamtes Leben ist geprägt von geradezu herausragenden Erfolgen einer-, aber von ebenso geradezu tragischen Schicksalsschlägen andererseits. Als zehnjähriger Junge verlor er die Mutter, als 14-jähriger den Vater. Noch im selben Jahr, 1940, wurde ihm – da gerade mal 14 Jahre alt – nach dem Tod seines Großvaters und Firmengründers Edouard Michelin das Unternehmen übertragen. Als Co-Chef neben einem Onkel, der zwischenzeitlich das Unternehmen geführt hatte, übernahm er 1955 als 29-Jähriger Verantwortung in der Geschäftsführung; ab 1959 als alleiniger Geschäftsführer.
Und wie sich die Dinge doch wiederholen. 1985 trat sein jüngster Sohn Edouard im Alter von 22 Jahren ins Unternehmen ein und arbeitete sich Schritt für Schritt mit immer größer ausfallenden Entscheidungskompetenzen ein. Als gerade mal 30-jähriger Mann wurde er Co-Chef neben seinem Vater und neben René Zingraff, dem Finanzmanager des Michelin-Konzerns, um 1999 die Führungsrolle von seinem da bereits 73-jährigen Vater einzunehmen. Wohl selten zuvor, da war sich die französische Wirtschaftselite einig, ist der Übergang auf die nächste Generation so lautlos und vorbildlich gelungen. Edouard erfüllte alle Erwartungen, der Michelin-Konzern war auf allen Erdteilen vertreten und erfolgreich. Bis sich am 26. Mai 2006 die große Tragödie ereignete. Edouard Michelin ertrank beim Hochseeangeln, nachdem sein Boot bei schlechten Wetterbedingungen unterging. Er hinterließ seine Frau Cécile, und sechs Kinder verloren ihren Vater, das Älteste da gerade 13 Jahre alt. Das Schicksal schlägt manchmal fürchterlich brutal zu. Cécile Michelin erlag Ende 2011 einem Krebsleiden und machte die sechs Kinder zu Vollwaisen; nun mehr denn je in der Obhut des Großvaters. Welch eine Last, welch eine Tragödie!
In geschäftlicher Hinsicht erlebte François Michelin ungeahnte Höhen, blieb aber auch von Rückschlägen nicht verschont. Dennoch war sein Wirken für Michelin eine einzigartige Erfolgsgeschichte. Er machte aus dem französischen Reifenhersteller einen global tätigen Konzern, der heute mit dem großen Konkurrenten Bridgestone um die Nr. 1 der Welt jedes Jahr aufs Neue ringt.
François Michelin setzte auf die Qualität der Michelin-Produkte, auf deren technische Überlegenheit. Und mit dem Stahlgürtelreifen hatte er ein allen anderen Reifenmarken weit überlegenes Produkt, das für den Siegeszug rund um die Welt geschaffen war. Michelin war schnell mit Abstand Nr. 1 in Europa und wollte auch global eine Rolle spielen. Das Wort Globalisierung kannte zu dieser Zeit kein Mensch, es ging um die „Präsenz in der Triade“ – Europa, Amerika und Japan.
Wenn es so etwas wie eine Michelin-DNA gibt, dann ist sie geprägt durch François Michelin. Er verfolgte langfristige Ziele und war nicht interessiert an kurzfristigen Profiten, sofern diese zu Lasten langfristiger Ziele zu erreichen gewesen wären. Erklärtes Michelin-Ziel war (und ist), dem Verbraucher den besten Reifen zu den niedrigsten Kosten pro Kilometer anzubieten. Zu diesem Zweck wurde besonderes Augenmerk auf bestausgestattete Fabriken gelegt, aus denen nur Reifen erstklassiger Qualität rollten. Michelin-Reifen gehörten zu dieser Zeit ausnahmslos an das, wie es so schön heißt, „Top End“ des Marktes. Während Wettbewerber hin und wieder auch sogenannte „II a-Reifen“ anboten, solche mit Schönheitsfehlern, legte Michelin peinlich genau Wert auf absolute Fehlerfreiheit, Reifen mit Schönheitsfehlern gab es nicht, sie wären zerstört worden, bevor sie den Weg in den Markt gefunden hätten.
Von nichts kommt nichts. Kein Hersteller hat zu François Michelins Zeiten (übrigens auch heutzutage) so viel Geld in Forschung und Entwicklung Jahr für Jahr investiert wie Michelin. Manches Jahr gab Michelin doppelt so viel für F&E aus als die Wettbewerber. Und es zahlte sich auch alles aus.
Wer schon legte so viel Wert auf die Runderneuerungsfähigkeit von Nutzfahrzeugreifen wie Michelin? Zu erinnern ist an das „NeNa-ReNa-Konzept“. Es steht für Neureifen – Nachschneiden –Runderneuerte – Nachschneiden. Das alles zu François Michelins Zeiten im 20. Jahrhundert. So, und nur so, gelingt es, dem Verbraucher die besten Reifen zum niedrigsten Preis pro Kilometer bieten zu können. Das haben viele Wettbewerber inzwischen nachgemacht, auch wenn es bis ins 21. Jahrhundert gedauert hat. Und weltweit wird die Führung bis heute verteidigt.
Ohne die richtigen Leute zur richtigen Zeit am richtigen Platz läuft es nun mal nicht. Deshalb legte François Michelin allergrößten Wert auf die Fähigkeiten seiner Belegschaft. Die Auswahlverfahren waren anspruchsvoll. Es kam nicht einmal in erster Linie darauf an, was ein Bewerber konnte, sondern vielmehr darauf, ob er Potenzial offenbarte. So entstand ein gewisser Korpsgeist und die felsenfeste Überzeugung, dass „ein Micheliner“ seinen Wettbewerbskollegen überlegen ist. Alle für die Einstellung von Leuten tätigen Manager hatten vielfache Stationen innerhalb des Konzerns absolviert, wussten, worauf es ankam, wussten um die DNA, wussten, ob der Bewerber „zu uns“ passt oder nicht. Grundsätzlich rekrutierte Michelin keine Mitarbeiter von Wettbewerbern, vielleicht auch deshalb, weil solche sich in dem „Michelin-Korsett“ eingeengt gefühlt hätten, aber auch, weil sie aus Michelin-Sicht nicht genug für die Sache gewesen wären, die sie erfüllen sollten. Wehe aber, wenn ein Micheliner, und sei es aus nachvollziehbarsten Gründen, das Unternehmen verlassen wollte. Ihm waren Unverständnis und Missachtung sicher. Stand ein solcher Mitarbeiter aber zusätzlich noch im Verdacht, zu einem Wettbewerber wechseln zu wollen, wurde dies nachgerade als Verrat gewertet. Laut schrillten die Alarmglocken. Sofortige Entfernung vom Arbeitsplatz, vom Schreibtisch, Eskortierung zum Werkstor, Firmenausweis abgeben und auf Nimmerwiedersehen. Nach gerade mal dreißig Minuten war alles vorbei.
François Michelin wurde als Firmenchef dank seiner Gabe, Menschen völlig für sich einnehmen zu können, geradezu verehrt. Weil er sie respektierte, weil er ihnen das Gefühl gab, von jedem einzelnen von ihnen etwas lernen zu können und sich mit ihnen auf eine Stufe stellte. Ein führender Konzern-Manager hatte ihn vor Jahren bereits „als Mann wie Opium“ beschrieben, als Chef, mit dem man gerne arbeitete, für den man gerne arbeitete und mit dem man sich voll und ganz identifizierte. Vor wenigen Tagen schrieb ein Michelin-Pensionär, wie stolz er heute noch sei, mit diesem Mann gearbeitet zu haben, wie stolz er sei, dass dieser ihn zwei, drei Mal um seinen Rat gefragt habe.
Alles hätte aber auch schieflaufen können. François Michelin hatte es gewagt, die Amerikaner auf ihrem riesigen Heimatmarkt herauszufordern, hatte große Fabriken bauen lassen und last but not least auch noch den Mitkonkurrenten Uniroyal BFGoodrich übernommen und den Konzern damit in eine sehr raue See geführt. Zeitweilig schien es so, als arbeite der Gesamtkonzern nur noch, um die gewaltigen Zinsen zahlen zu können. Doch auch diese schwerste Periode der Michelin-Historie wurde überwunden, sodass er ein sehr gut im Markt stehendes Unternehmen an die nächste Generation übernehmen konnte.
Der tiefgläubige François Michelin genoss selbstverständlich hohes Ansehen besonders in Frankreich. Aber als Patriarch im wohlverstandenen Sinne war er mit vielen politischen Entscheidungen absolut nicht einverstanden. Noch aus dem Seniorenheim heraus ließ er es sich nicht nehmen, den französischen Staatspräsidenten wegen dessen „Reichensteuer“ heftig zu kritisieren, weil diese Reiche aus dem Land treibt und äußerst kontraproduktiv ist.
Alles hat seine Zeit. Das 21. Jahrhundert ist keines mehr, in dem sich François Michelin hätte wiederfinden können. Er mochte Journalisten einfach nicht, sah keine Notwendigkeit, diesen zu erklären, was der Konzern in naher oder ferner Zukunft tun oder unterlassen will. Erst recht hätte er die heutigen Banker nicht ausstehen können. Sein Konzern nahm Kredite auf, verhandelte Rückzahlungsmodalitäten, Zinsen etc. Aber sich in irgendeiner Form von Bankern, gar von den 29-jährigen schlauen Jungs etwas sagen zu lassen, was die Börse erfreut, den Menschen aber nichts nutzt, das wäre schwer vorstellbar. Doch ohne „die Finanzwelt“, ohne Börsenphantasie und ohne Öffentlichkeitsarbeit scheint es im 21. Jahrhundert nicht mehr zu gehen.
Diesen Patriarchen, diesen Konzernchef kann man sich im wohlverstandenen Sinne als einen Mann des Mittelstandes vorstellen. Einer, der für die Firma lebt, für die Belegschaft, für die Kunden und für die Gesellschaft schlechthin. Als Mann, der keinerlei Insignien der Macht bedurfte und erst recht nicht mit Reichtümern protzen wollte. Man kann, nein, man muss François Michelin als Reifenmanager des 20. Jahrhunderts ehren. Niemand ist seinen Leistungen und seinen Erfolgen annähernd nahe gekommen. klaus.haddenbrock@reifenpresse.de
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