NRZ-Interview: „Entscheidend für den Erfolg einer Kooperation ist die Mitgliederbindung“
Der Trend auf dem deutschen Reifenmarkt, sich einem Handels- bzw. Händlerverbund – welcher Couleur auch immer – anzuschließen, ist seit Jahren ungebrochen. Dafür gibt es gute Gründe, wie Dr. Ludwig Veltmann, Hauptgeschäftsführer des Mittelstandsverbundes in Berlin, im Interview mit der NEUE REIFENZEITUNG erläutert. Aber etwaige Zusammenschlüsse, gerade wenn sie aus selbstständigen Unternehmern bestehen, bergen immer auch das große Risiko der Gradwanderung. Gelingt es, die Vorteile der Größe voll auszuschöpfen und gleichzeitig die Individualität und Selbstständigkeit der Mitglieder zu achten?
Neue Reifenzeitung:
Seit Jahren erleben wir auf dem deutschen Reifenmarkt einen Trend zu immer größeren Organisationsformen – ob aufseiten der ungebundenen wie aufseiten der gebundenen bzw. industrienahen Händler. Sehen Sie einen solchen Trend auch in anderen Branchen?
Dr. Ludwig Veltmann:
Der Trend zur Kooperation ist ungebrochen und das ist auch gut so. Wie im Reifenmarkt verschwimmen auch in anderen Märkten zunehmend die Grenzen der Wertschöpfungsketten. Durch die Ausdehnung des eigenen Kerngeschäfts steigert sich die gegenseitige Konkurrenz – und damit wächst die Notwendigkeit zur Kooperation.
Neue Reifenzeitung:
Natürlich wird eine solche Entwicklung angetrieben durch gewisse offensichtliche Vorteile, die größere Organisationen im Handel gegenüber kleineren haben. Welche sind dies im Allgemeinen?
Dr. Ludwig Veltmann:
Die Vorteile sind mannigfaltig. Allgemein werden in einer Kooperation die Vorteile von kleinen Einheiten mit denen der Größe kombiniert. Dazu gehören der gemeinsame Einkauf, das Marketing, die Entwicklung von Strategien als Antwort auf Marktveränderungen und nicht zu vergessen die Interessenvertretung der mittelständischen Unternehmen über den „Mittelstandsverbund“ als politischem Spitzenverband.
Neue Reifenzeitung:
Gemeinsam zu agieren, bringt aber natürlich auch immer Nachteile mit sich, oder?
Dr. Ludwig Veltmann:
Gemeinsam zu agieren erfordert Kompromisse einzugehen. Und die Basisdemokratie in einer Verbundgruppe kann dazu führen, dass Entscheidungsprozesse länger dauern als in Konzernstrukturen. Die Frage, ob das Nachteile sind, oder ob nicht die dadurch erreichte Nachhaltigkeit als Vorteil überwiegt, kann man so oder so beantworten.
Neue Reifenzeitung:
Durch welche Faktoren könnte die Entwicklung zu immer größeren Organisationsformen unterbrochen werden?
Dr. Ludwig Veltmann:
Es gibt kartellrechtliche und wirtschaftliche Grenzen. Die wichtigste Grenze ist aber die Gemeinschaft selbst. Denn sie entscheidet letztlich über das Wachstum der Kooperation – und zwar demokratisch. So sorgt sie selbst dafür, dass die mittelständische Prägung der eigenen Organisation erhalten bleibt.
Neue Reifenzeitung:
Gerade in Bezug auf den Reifenhandel zeigt sich, dass sich trotz aller Trends immer noch zahlreiche Betriebe ihre Unabhängigkeit bewahren, was bspw. beim Handel mit Unterhaltungselektronik oder Bekleidung nicht der Fall ist. Was macht den Reifenhandel hier so besonders?
Dr. Ludwig Veltmann:
Es gehört zum Wesen einer Mittelstandskooperation, dass die Individualität und Selbstständigkeit der mittelständischen Anschlusshäuser gewahrt wird. Dies ist das vielleicht wichtigste Erfolgsmerkmal dieser Unternehmensform.
Zur Person: Dr. Ludwig Veltmann
Dr. Ludwig Veltmann (Jahrgang 1959) ist seit Oktober 2000 Hauptgeschäftsführer des Mittelstandsverbundes in Berlin. Zuvor war er im Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (BME) als Hauptgeschäftsführer tätig. Nach dem Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der landwirtschaftlichen Fakultät der Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn und nach verschiedenen Forschungs- und Beratungstätigkeiten in Fernost begann Veltmann 1988 seine Laufbahn in Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft, etwa beim Deutschen Bauernverband oder dem Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI).
Zum Verband:
Der Mittelstandsverbund – ZGV e.V.
Der Mittelstandsverbund – ZGV e.V. vertritt als Spitzenverband der deutschen Wirtschaft in Berlin und Brüssel die Interessen von ca. 230.000 mittelständischen Unternehmen, die in rund 320 Verbundgruppen organisiert sind. Die kooperierenden Mittelständler erwirtschaften mit 2,5 Millionen Vollzeitbeschäftigten einen Umsatz von mehr als 490 Milliarden Euro, das sind rund 18 Prozent des deutschen Bruttoinlandsproduktes, und bieten 440.000 Ausbildungsplätze. ab
Neue Reifenzeitung:
Worin liegen die weiteren konkreten Vorteile für Reifenhändler, sich einem Verbund – ob ungebunden oder gebunden bzw. industrienah – anzuschließen?
Dr. Ludwig Veltmann:
Im Reifenmarkt ist das Verschmelzen der Wertschöpfungskette bereits fortgeschritten. Die Grenzen zwischen Handel und Handwerk auf der einen und Werkstätten und Autohäusern auf der anderen Seite lösen sich zunehmend auf. Um an der Wertschöpfung weiter partizipieren zu können, also auch künftig wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen kleine und mittlere Unternehmen kooperieren.
Neue Reifenzeitung:
Gilt die Annahme „Gemeinsam sind wir stark“ in jedem Fall für Händler jeder Größe und Struktur?
Dr. Ludwig Veltmann:
Grundsätzlich gelten die genannten Vorteile sowohl für kleine als auch für mittlere Händler. Natürlich wird jeder Unternehmer aber richtigerweise bei der Wahl der für ihn passenden Verbundgruppe seine individuellen unternehmerischen Bedürfnisse in die Waagschale werfen.
Neue Reifenzeitung:
Welche Vorteile bieten gebundene bzw. industrienahe Organisationen im Reifenhandel Händlern mit Anschlussbedürfnis im Vergleich zu Organisationen der sogenannten Ungebundenen?
Dr. Ludwig Veltmann:
Die Erhaltung der eigenen unternehmerischen Selbstständigkeit und Individualität.
Neue Reifenzeitung:
Ändern sich nicht gerade die Rahmenbedingungen des Reifenhandels dramatisch – Stichwörter wie Onlinevertrieb, Autoservice oder technische Kompetenzen wie RDKS, UHP-/Runflatreifen seien hier genannt, und zwar vor dem Hintergrund eines stagnierenden Marktes –, sodass Entscheidungsfreiheit unabhängiger Unternehmer eigentlich dazu genutzt werden müsste, sich mit anderen Gleichgesinnten und vor allem Gleichgestellten zusammenzutun?
Dr. Ludwig Veltmann:
Unbedingt. Gerade die Herausforderungen durch die fortschreitende Digitalisierung sind für den Handel enorm. Einzelkämpfer werden sich schwer tun, diese alleine zu bewältigen.
Neue Reifenzeitung:
Und würde nicht gerade diese Komplexität darauf hinauslaufen, dass sich tendenziell mehr und mehr Händler in den Einflussbereich vermeintlich omnipotenter Reifenhersteller begeben?
Dr. Ludwig Veltmann:
Es mag Händler geben, die das so sehen. Grundsätzlich wird aber der Wunsch, die eigene unternehmerische Freiheit zu erhalten, für eine Mitgliedschaft in einer ungebundenen Kooperation sprechen.
Neue Reifenzeitung:
Reifenhändler, die sich als Qualitätsvermarkter verstehen, haben offensichtlich ein größeres Bedürfnis, sich zusammenzuschließen. Aber macht es nicht auch am unteren Ende des Marktes – dort, wo Klein- und Kleinstbetriebe ausschließlich über den Preis ihren Markt bedienen – Sinn, sich zusammenzuschließen? Der erste Schritt in Richtung eines Zusammenschlusses ist doch immer der gemeinsame Einkauf.
Dr. Ludwig Veltmann:
Diese Frage lässt sich mit einem ganz klaren Ja beantworten.
Neue Reifenzeitung:
In den vergangenen Jahren haben wir immer wieder gesehen, dass gerade die Organisationen des ungebundenen Reifenhandels Probleme hatten, ihre Mitglieder zu halten.
Dr. Ludwig Veltmann:
Entscheidend für den Erfolg einer Kooperation ist heute – genauso wie schon im Jahr 1849 bei der Gründung der ersten unternehmerischen Genossenschaft durch Herrmann Schulze-Delitzsch – die Mitgliederbindung. Um zu wissen, welche Themen für sie gerade wichtig sind, muss eine Kooperationszentrale ihr Ohr ganz nah bei ihren Mitgliedern haben. Nur so kann sie ein Dienstleistungsportfolio anbieten, das auch den Bedürfnissen entspricht. Es ist immer eine Gradwanderung für eine Zentrale, die Vorteile der Größe voll auszuschöpfen und gleichzeitig die Individualität und Selbstständigkeit der Mitglieder zu achten. Wenn dieser Drahtseilakt aber gelingt, wird das Motto „Gemeinsam sind wir stark“ zum echten Wettbewerbsvorteil für den Mittelstand. ab
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