Borbet Thüringen: Das größte Räderwerk Europas

Eigentlich sei ja der Standort Sauerland mit den beiden Aluminiumgussräderfabriken in Hallenberg-Hesborn (zugleich Zentrale der Borbet-Gruppe) und Medebach der größte Produktionsverbund Europas, schränkt Jürgen Gareis, Geschäftsführer und damit Werksleiter der Borbet Thüringen GmbH (Bad Langensalza), ein. „Aber nicht unter einem Dach“, korrigiert ihn Unternehmenschef und (mit 76 Prozent der Anteile) Mehrheitsgesellschafter Peter Wilhelm Borbet. Wie man es auch sieht: Im Jahre 2012 ist für das vielleicht modernste Werk des aktuell wohl größten europäischen Zulieferers der Automobilindustrie ein Output von vier Millionen Einheiten fest projektiert bzw., wie Gareis sagt, selbst angesichts angekündigter wahrscheinlicher Produktionskürzungen bei ausländischen OE-Kunden konservativ durchgerechnet.

Im vergangenen Jahr sind innerhalb der Borbet-Gruppe, die derzeit 3.400 Menschen Arbeit gibt, 15,5 Millionen Räder produziert worden. Dem zweiten großen europäischen Hersteller mag man damit aktuell eine Nasenspitze voraus sein, aber das Borbet-Management sieht den Wettbewerber Ronal aus der Schweiz „eher auf Augenhöhe“. Die Kapazitäten seien bei allen großen Räderzulieferern in 2011 gut ausgelastet gewesen, das Potenzial aber sieht „PWB“ für sein Unternehmen jedenfalls noch nicht ausgereizt: 17 Millionen Stück sind mit den vorhandenen Werken realisierbar.

Eine Schlüsselrolle kommt dabei dem Werk in der thüringischen Kleinstadt Bad Langensalza zu, das noch kein Jahrzehnt alt und „auf der grünen Wiese“ errichtet worden ist. Schon bei Inbetriebnahme der Produktionsstätte hatte Borbet Weitsicht gezeigt und erklärt, daraus werde einmal das größte Werk der Gruppe. Und er hatte nicht nur Weitsicht gezeigt, sondern auch Vertrauen in die Menschen in der Region gesteckt. Vertrauen, das die aktuell 600 Mitarbeiter (davon immer so gut 20 Auszubildende) nie enttäuscht haben. Und so ist es dem Firmenchef ein bedürfnis, das auch zu würdigen: Er spricht vom „Stolz auf die Belegschaft“, deren Fleiß, enorme Motivation und Bodenständigkeit: „Der Erfolg des Werkes ist der Erfolg der Menschen, die hier arbeiten.“

Das tun sie an sieben Tagen die Woche, rund um die Uhr im Schichtbetrieb. Und es werden in den nächsten ein, zwei Jahren noch einmal so etwa 150 Arbeitsplätze hinzukommen, denn die Investitionen und Ausbaumaßnahmen laufen längst. Wobei gerade erst im Herbst letzten Jahres eine zweite hochmoderne Lackieranlage in Betrieb genommen worden und die Verkettung, der Produktionsfluss von der Schmelze über die Gießerei (Borbet strahlend: „Ist das nicht ein schöner Anblick?!“), die Wärmebehandlung, Bearbeitung, Lackierung sowie schließlich Verpackung/Palettierung bereits dermaßen ausgetüftelt ist, dass selbst die hochqualifizierten Experten für Kostenreduktionsmaßnahmen aus der Automobilindustrie, die Gareis jeden Monat zu Gast hat, die größte Mühe haben, noch irgendwo Potenzial zu entdecken.

Der Produktionsfluss, die fördertechnische Verknüpfung, ist „u-förmig“ konzipiert. Abweichungen von diesem Schema sind minimal und besonderen Umständen geschuldet wie beispielsweise dem Sonderwunsch eines Kunden. Die für 2012 initiierten und in der Gesamtheit 2013 abzuschließenden Investitionen beinhalten unter anderem auch 16 weitere Gießmaschinen zuzüglich zu den 40 existenten.

Die Investitionen gelten allerdings nicht nur den Kapazitäten, sondern auch dem Aufbau einer Technologie, die die Automobilhersteller und auch Anbieter von absoluten Premiumprodukten des Aluminiumräderersatzgeschäftes sich wünschen: Flow-forming, auch Abstreckverfahren genannt. Dieser zusätzliche Produktionsschritt, der tendenziell eher bei besonders großdimensionierten Rädern zur Anwendung kommt und dort signifikant für Gewichtseinsparungen sorgt, ist auch im Hause Borbet nicht wirklich neu, sondern wird schon seit einigen Jahren im Schwesterwerk Solingen praktiziert. Das „Ausschleusen“ der fürs Flow-forming vorgesehenen Räder aus dem Produktionsfluss ist eine dieser Abweichungen vom „u-förmigen“ Idealzustand des Fertigungslayouts. Nun aber ist das Werk Bad Langensalza mit seinen nicht einmal zehn Lenzen jung, mussten daher keine baulichen Kompromisse gemacht und konnten genügend Anbaumöglichkeiten genutzt werden, um die Räder auch an geeigneter Stelle wieder „einzuschleusen“. Erst einmal wird eine Flow-forming-Anlage im thüringischen Werk installiert, aber die Plätze für drei weitere sind bereits erkennbar. Wenn man weiß, dass solch eine Anlage für eine Jahreskapazität von etwa 250.000 bis 300.000 Rädern steht, dann lässt sich leicht ausrechnen, dass hier einmal nicht nur das größte Räderwerk Europas, sondern auch das größte Europas hinsichtlich der technologisch ausgereiftesten Aluminiumgussräder entsteht (in Solingen sind drei „Flow-forming-Inseln“ installiert). Peter Wilhelm Borbet dementiert auf Nachfrage nicht, lässt sich aber auch nicht aus der Reserve locken.

Flow-forming-Räder werden von den Erstausrüstungskunden aktiv nachgefragt, vorrangig von den Premiumherstellern und modellseitig eher von den großen Luxuslimousinen und sportlichen Autos. Im Aftermarkt ist es schon schwieriger, solche Räder an den Konsumenten zu bringen, weiß Oliver J. Schneider, seit dem 1. September 2011 bei Borbet und inzwischen Geschäftsführer der Borbet Vertriebs GmbH (Niederneuching). Schließlich unterscheidet sich ein Flow-forming-Rad rein optisch nicht von einem konventionellen Gussrad, lediglich der Gewichtstest verrät die Vorteile. Im Jahre 2011 hat der Anteil der fürs Handelsgeschäft in Bad Langensalza und den Schwesterwerken gefertigten Räder keine vier Prozent betragen. „Zu wenig“, findet Peter Wilhelm Borbet und gibt das Ziel vor: „Acht Prozent!“

Aus welcher Borbet-Fabrik die Räder kommen, ist Schneider im Prinzip egal. Überraschend aber vielleicht, dass auch der für hohe Produktivität verantwortliche Werksleiter Gareis recht gelassen damit umgeht: Ja, hohe Losgrößen seien schon erwünscht in der Produktion, aber heutige Fabriken müssen, wollen sie als „state of the art“ bezeichnet werden, auch extrem flexibel sein und mit geringeren Losgrößen problemlos fertigwerden. Zwar sei Bad Langensalza aktuell eher durch Erstausrüstungskunden ausgelastet, so etwa 300 Borbet-Räder einer Ausführung fürs Handelsgeschäft würden ihm aber keine Kopfschmerzen bereiten – so er denn die Kapazitäten frei hätte.

In den Borbet-Werken in Deutschland (4), Österreich, Südafrika und in den USA wurden in den letzten Jahren Gruppenstandards kreiert. Der jeweilige Ausstattungsstand ist identisch oder wenigstens sehr ähnlich, sodass Werkzeuge recht problemlos von einer Fabrik in die andere transferiert werden können. Das bedeutet vor allem, dass die Gruppe sehr flexibel auf Kundenwünsche reagieren kann und wiederum auch, dass in vielerlei Hinsicht nachhaltig im Sinne der Umwelt produziert werden kann und nicht nur unter der Prämisse, welcher Standort jetzt die konstengünstigste Lösung präsentiert. „Kann es denn richtig sein, für einen Kunden in Europa in Südafrika zu fertigen“, spielt Peter Wilhelm Borbet beim Gang über die mit viel Grün und sehr bewusst angepflanzten Anlagen zwischen Gebäude und Parkplatz („Chefsache“) unter anderem auf den logistischen Aufwand und damit verbundene ökologische Probleme an. Bad Langensalza liegt geografisch gesehen fast genau in der Mitte Europas. detlef.vogt@reifenpresse.de

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