Distribution wird zur Kostenfrage
Überall wird nach Einsparpotentialen gefahndet, auch beim Produkt Reifen. Angesichts steigender Treibstoffkosten, einer ausufernden Vielfalt von verschiedenen Artikeln usw. drohen die Reifenpreise allein wegen gestiegener Distributionskosten zu steigen. Am Endverbraucherpreis für das Produkt Reifen entfallen heute grob geschätzt zehn Prozent auf Distributionskosten. „Fracht“, „Lager“, das Personal, Software, Gabelstapler in den Lägern – alles Kostenblöcke.
Im Ersatzgeschäft hat der Markt seine Unwägbarkeiten: Wird der Winter hart, bleibt es bis Ostern eisig? Die Erstausrüstung hat auch ihre Unwägbarkeiten: Läuft das Modell, für das eine Freigabe erreicht wurde, besser oder schlechter als vom Automobilhersteller prognostiziert. Da hat sich der Zulieferer auf die Vorgaben seines Kunden eingestellt – und alles kann zur Makulatur werden. Dennoch kann man aber wohl feststellen, dass die Planungssicherheit in der Erstausrüstung für einen Hersteller erheblich größer ist als im Ersatzgeschäft.
Die Reifenhersteller haben seit Jahren nach immer mehr Möglichkeiten gefahndet, die Kosten in den Griff zu bekommen bzw. zu senken: Statt regionale Läger gibt es zentrale, statt eigener Läger wird Raum von Logistikern angemietet, der Transport von Reifen wird nicht mehr mit eigenen Fahrzeugen erledigt, sondern von Fremdfirmen. „Outsourcing“ nennt man dies und ist eine Möglichkeit, an der Kostenschraube zu drehen. Dabei gibt es viele Nuancen: Einmal hieß es, Hochregallager seien für das Produkt Reifen besonders geeignet, andere halten das für einen Irrweg. Tatsache ist: Ein großes Lager ist ein gewaltiger Kostenfaktor.
Den „Königsweg“ hat noch keiner gefunden. Ein Zentrallager steht der schnellen Belieferung in der Region entgegen. Auch ausgewiesene Logistikexperten stoßen an Grenzen und müssen viele Kilometer überwinden, wenn sie einen Reifen von „A“ nach „B“ bringen wollen. Wie lange ist der Kunde bereit zu warten? Hat hier der regional operierende Reifengroßhändler seine Daseinsberechtigung? Dient er nicht als „Puffer“ der Reifenhersteller, den er tunlichst nicht ausdörren sollte zum Beispiel durch Bevorzugung eines anderen Kanals wie den überregionalen Online-Shop? Solange der regionale Großhändler einspringen kann bei Engpässen der Industrie stimmt die Balance von Angebot und Nachfrage einigermaßen. Die Botschaft: Es gibt vermutlich nicht „den richtigen“ Distributionskanal, sondern ein schlauer Mix ist gefordert.
Der Reifenmarkt sei äußerst komplex, räumt Martin Donald, Logistikexperte bei Goodyear in Großbritannien, ein: die ausufernde Markenvielfalt, Reifen mit verschiedenen Technologien (Standard, seitenwandverstärkt), ein Profil mit verschiedenen Speedindices in einer Größe, immer neue Größen und Typen, Spezialreifen – die Liste ist lang und eine Herausforderung für jeden Logistiker. Aus einer Vielzahl von möglichen Varianten entscheidet sich der Verbraucher für den Reifen, der zu seinem Fahrzeug passt bzw. seiner persönlichen Präferenz entspricht.
Der Verbraucher hat den Reifen, den er haben will, identifiziert. Auch der Einzelhändler vor Ort hat den Reifen identifiziert, auf Lager hat er ihn aber möglicherweise nicht. Den Reifenhändlern wird ja mit Recht auch immer wieder gesagt, dass ein zu üppiges Lager ein Kostenfaktor ist. Längst vorbei die Zeiten, dass sie mehrere tausend Reifen gebunkert haben. Die „Schnelldreher“ sind verfügbar, das Risiko, auf seltenen Größen sitzenzubleiben, wird verringert. Und wenn die Diskussion um das Reifenalter sich weiter verschärft, dann wird die Ware irgendwann unverkäuflich, die DOT-Nummer zum Verfallsdatum. Selbst wenn es nicht erreicht ist, der Kunde will frische Ware.
Keiner will das Risiko tragen, die im Markt benötigten Ausführungen erst in der Produktion und dann in der Lagerhaltung genau verfehlt zu haben. Alljährlich in der Winterzeit wird geklagt, die Reifenindustrie habe wieder einmal versagt, weil bestimmte Größen ausverkauft und partout nicht mehr zu kriegen sind. Produktionsplanung ist ein undankbarer Job.
Draußen im Markt ist der Absatz von Reifen ein Tagesgeschäft, in den Fabriken wird wegen der Losgrößen in anderen Zeiträumen gedacht. Das Frühjahrsgeschäft ist gelaufen, schon im Mai beginnt die M+S-Fertigung. Oder im Spätherbst bzw. wenn die ersten Flocken vom Himmel fallen, dann werden die Formen für Winterreifen eingemottet und die für Sommerreifen herausgeholt. Flexibilität in den Fabriken ist wünschenswert, stößt aber an Grenzen. Natürlich gibt es Equipment, das die „Losgröße Eins“ ermöglicht, aber das kostet enorme Summen.
Reifen seien Goodyears Kerngeschäft, sagt Martin Donald, nicht der Transport, das sei das Kerngeschäft des Dienstleisters, hier des Logistikers Christian Salvesen. Man könnte auch Fiege sagen oder einen beliebigen anderen Namen aus der Branche wählen, die heute mit Spediteur oder Fuhrunternehmer nicht mehr treffend beschrieben wäre. Aber auch das „Kerngeschäft“ Reifen lässt sich nicht von der Distributionskette abkoppeln. Continental hat zwölf Produktionsstätten in Europa, manche Reifen kommen auch aus Fernost, Südafrika oder Nordamerika, die logistischen Abläufe sind ineinander verzahnt und lassen sich nicht völlig „outsourcen“. Es müssen auch Distanzen überwunden werden und Warenwege kanalisiert werden, wobei es immer wieder verschiedene Perspektiven gibt: Vom Zentrallager (genauer von der Beschaffungsabteilung) werden Reifen einer bestimmten Größe aus tschechischer, in einer anderen Größe aus portugiesischer Produktion angefordert. Ähnlich aus der Sicht der Fabrik: Soundsoviel Reifen für den Markt Skandinavien und soundsoviel für Frankreich. Da haben Zentralläger für Europa auf einmal ihren Charme, die es ja auch gibt (bevorzugt von Fernostproduzenten). Haben die Kollegen aus Schweden schon den Winterreifenbedarf gemeldet? Wenn nicht, so wäre eine verhängnisvolle Lücke im System. Denn es gibt starke Märkte für ein bestimmtes Produkt und schwache. Ist die M+S-Order aus Irland auf der Strecke geblieben, so wäre das Problem übersichtlich.
Es sind „Distributionsketten“ entstanden, teilweise mit vielen Gliedern. Die Distributionskette ist genau so stark, wie das schwächste Glied der Kette. Ein Beispiel: Stromausfall. Die EDV versagt, das Lager ist wohl gefüllt, aber wo lagern bloß die gerade benötigten Reifen? Das „chaotische Lager“ sollte die Situation beherrschen, tut es aber nicht.
Ein weiteres Beispiel: Kaum ist der Transporter mit Bib auf der Karosse abgefahren, kommt der Goodyear-LLkw und lädt seine vier Reifen ab. Jedermann weiß, dass es günstiger wäre, wenn sich nur ein Lieferfahrzeug mit je vier Kleber- und vier Goodyear-Reifen auf den Weg gemacht hätte. Es würde übrigens auch auf dem Hof die Kosten senken, wenn die Belieferungen auf weniger Fahrzeuge verteilt würden.
Theorie und Praxis: Da gibt es ein großes Lager, in dem die Marken eines Konzerns alle gleichermaßen vertreten sind. Vorne die Schnelldreher, hinten die weniger häufig abgefragten Dimensionen und Marken. Aber immer wieder geht es auch um allzu Menschliches: Der Verantwortliche einer der Konzernmarken hat beim letzten Frühlingsfest zwei Kisten Bier und Bratwurst für alle spendiert. Das Auslieferungsfahrzeug ist fast gefüllt, nur vier Reifen passen noch, zu welcher Marke greift wohl der Lagerarbeiter? Die vier Reifen der Konzernmarke „B“ bleiben liegen, werden halt beim nächsten Mal mitgenommen.
Der Teufel steckt im Detail. Hilfreich ist sicher, dass die jeweiligen Spezialisten genau die Aufgabe übernehmen, von der sie etwas verstehen. Aber zwischen dem Arbeiter in der Stöckener Reifenfabrik und der Montagehalle beim Berliner Reifenhändler sind so viele Menschen in die Distributionskette involviert, dass es müßig ist zu erwähnen, der kürzeste Weg zwischen beiden sei die Bundesautobahn A2.
Die Reifenhersteller messen den Erfolg ihrer permanenten Optimierungsbemühungen unter anderem in „Fill rates“. Es geht darum, genau die vor Ort benötigten Reifen vorrätig zu haben und in der kürzest möglichen Zeit zur Werkstatt zu schaffen. Beispiel Großbritannien im Jahre 2004: Der Pkw-Reifen-Ersatzmarkt enwickelte sich weit besser als erwartet, die renommierten Hersteller rutschten auf verheerende „Fill rates“ von weniger als 50 Prozent. Konsequenzen: Die Händler waren sauer, die Manager der Industrieunternehmen rauften sich die Haare, „Markenloyalität“ kam zum Erliegen, die Stunde der „No names“ schlug: Gekauft wird, was verfügbar ist. Schließlich ist es immer noch besser, einem Kunden einen alternativen als gar keinen Reifen zu verkaufen.
Es werden vermeintlich brach liegende Ressourcen erschlossen: Man transportiert in der Nacht, wenn die Autobahn relativ frei ist. Klar: Steht der Fahrer im Stau, wächst mit jeder Minute der Kostenblock und gerät das Zeitversprechen („24-Stunden-Service“) in Gefahr. Ruft der Reifenhändler um 16 Uhr noch mal eben bei seinem Großhändler in der Nähe an, schickt der vielleicht noch eines seiner Fahrzeuge los oder schmeißt sich die vier Reifen selbst in den Kofferraum seines Pkw. Wird eben nach Feierabend erledigt. Dass bei ihm der Reifen zwei Euro teurer ist, was macht das schon: Am nächsten Morgen ist das Kundenfahrzeug auf der Bühne. Das ist vielleicht nicht besonders professionell aus der Sicht des Logistikers, aber der Verbraucher ist zufrieden und der Händler auch.
Dave Clarke, Logistikmanager bei Bridgestone in Großbritannien, erklärt, dass man alle Ressourcen so intelligent wie möglich nutzen wolle, der Reifenhersteller wolle effizient sein, der Logistiker auch. Wer Verantwortung an einen Dienstleister abgibt, kann erwarten, dass dieser sich auch darum bemüht, aus Eigeninteresse das Beste herauszuholen. Der Reifenhersteller hat seine Hausaufgaben gemacht und in der Fabrik alle erdenklichen Sparmöglichkeiten erschlossen. Der Logistiker wird das auch versuchen, er ist motiviert, den Auftrag zu behalten, will seine Fahrer nicht unnötige Umwege fahren lassen, weil auch das Geld kostet. Sie alle sitzen in einem Boot, haben ein gemeinsames Ziel. Wem es gelingt, die Distributionskosten am Produkt Reifen von marktüblichen zehn auf neun Prozent zu senken, der hat einen Wettbewerbsvorteil. Aber nur dann, wenn er dadurch nicht langsamer wird als die anderen. Der Reifen mag komplex sein, die Reifendistribution ist es auch.
Offensichtlich wären weitere Einsparpotentiale, wenn Wettbewerber auf dem Felde der Distribution kooperieren. Und Ansätze dafür gibt es ja, so montiert Goodyear Lkw-Reifen auch von Wettbewerbern und lässt sich diesen Service fair bezahlen. Dem Lkw-Bauer ist es egal, ob der Michelin-Reifen auf einer Michelin-Montage- oder einer Goodyear-Montagestraße fixiert wurde und ihm ist auch egal, ob auf dem anliefernden Fahrzeug der Name eines Reifenherstellers oder Christian Salvesen steht. Er will das Produkt zu einem bestimmten Zeitpunkt und zu einem zuvor ausgehandelten Preis.
Die Kooperation auf Wettbewerberseite kann in der Lagerhaltung, beim Transport, in der Erstausrüstung auch bei der Montage (da gibt es ja auch im Pkw-Sektor Spezialisten) Einsparungen bewirken. Einer braucht dabei den anderen und keiner sollte versucht sein, aus einer Kooperation für sich zu Lasten des anderen den Vorteil herauszuziehen bzw. ein wenig mehr zu profitieren. Dann klappt so etwas nicht, wird es in der so fragilen Distributionskette zu Brüchen kommen. Idealerweise erfolgt die Belieferung des Einzelhandels „markenübergreifend“, die Industrie kann das bis heute nicht, der Großhandel schon.
Und wie ist es eigentlich mit der Verantwortung des Einzelhandels? Die individuellen Reifenhändler wollen das richtige Produkt zur rechten Zeit an einem bestimmten Ort zu einem möglichst günstigen Preis. Und sie erwarten, dass ihr Lieferant das leistet und kümmern sich ansonsten überhaupt nicht um die einzelnen Glieder der Distributionskette. Das ist nur auf den ersten Blick verständlich, auf den zweiten sehr kurzsichtig. Sie können auch ihren Beitrag zur Optimierung der Distributionskette leisten, wenn sie zum Beispiel frühzeitig ordern. Sie kennen die Besonderheiten ihres Marktes und sollten den Außendienstmitarbeiter der Industrie, der ihnen schon im Mai Winterreifen verkaufen will, verstehen. Er handelt im Auftrage der Produktionsplaner, die gegebenenfalls dem Formenbau mitteilen müssen, dass man bei 195/65 15 nicht ausreichend Kapazitäten hat. Der Reifenhändler täte gut daran, an dem Spiel aktiver teilzunehmen: Hat er nicht rechtzeitig die renommierten Marken des Marktes geordert, darf er sich nicht wundern, wenn er am Tage X nur noch die Fabrikate beziehen kann, die er eigentlich gar nicht ganz oben auf seiner Prioritätenliste hat. Und weitergedacht: Ob der Endverbraucher mit diesen Reifen der in der Not gekauften Marke so zufrieden ist, dürfte fraglich sein. In der Praxis, so Brian Smith, Geschäftsführer bei Continental in Großbritannien, hieße das, dem Kunden die Premiummarke nicht zur Verfügung zu stellen und statt dessen eine zweite Wahl. Und der Verbraucher versteht: Die Reifen sind doch alle gleich, warum sollte ich für den einen viel mehr als für den anderen hinblättern. Damit unterstützt ein Händler nicht nur das „Preisargument“ beim Reifenkauf, sondern stellt auch die Loyalität seines Kunden unnötig auf die Probe.
Reifenhändler tun im eigenen Interesse gut daran, ein professionelles „Versorgungsmanagement“ in ihrem Betrieb zu errichten (einige haben dies). Das würde auch die Kooperation mit den Reifenherstellern erleichtern, die ja auch kein Interesse daran haben, dass ihr Kunde die falschen Reifen auf Lager hat. Wer feststellt, dass ihm bestimmte Reifentypen fehlen, und mal eben schnell beim Hersteller anruft, der ist der Reifenhändler von gestern. Der von heute hat einen Versorgungsplan, den er mit dem Außendienst seines Herstellers akribisch durchgegangen ist.
Das Vorbild sind die Hersteller von Premiumautos: Der Verbraucher stellt die Konfiguration seines Autos zusammen, ein Blick in den Computer verrät, wann das Auto produziert wird (bzw. in welcher Phase der Produktion es sich befindet) und ausgeliefert werden kann. So detailliert wird es beim Produkt Reifen wohl in absehbarer Zeit nicht kommen, aber es wäre für die Produktionsplaner irgendwann einmal vielleicht hilfreich zu wissen, ob die georderte Größe eines Runflats-Reifens für ein BMW- oder Mercedes-Modell bestimmt ist. Aber erst einmal müssen die aktuellen Hausaufgaben gemacht werden. Die Erschließung weiterer Einsparpotentiale in der Distributionskette ist ein immer währendes Rennen. Wer glaubt, am Ziel zu sein, wird schon überholt.
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