Die Russen kommen
In wenigen Monaten kann der holländische Reifenhersteller Vredestein auf sein 60jähriges Bestehen zurückblicken und es ist schon länger als 30 Jahre her, dass sich mit BFGoodrich der Mehrheitsaktionär der blanken wirtschaftlichen Not gehorchend zurückzog. Nachdem im Vorjahr eine aus drei holländischen Familien bestehende Investorengruppe, die 1991 die Kontrolle übernommen hatte, den Hersteller von der Börse nahm, wurde dies als Zeichen für einen bevorstehenden Verkauf gedeutet; dass es sich dabei um den russischen Amtel-Konzern handelt, war eine Überraschung, die wohl auch noch innerhalb und außerhalb der Belegschaft verdaut werden muss.
Vredestein galt in der Reifenindustrie lange Zeit als ein Phänomen. Zu klein, um langfristig erfolgreich bestehen zu können, und zu groß, um sofort unterzugehen. Doch dieser Zustand währt nun schon Jahrzehnte und in den letzten Jahren war es dem Management gelungen, durchaus ansprechende Ergebnisse zu erzielen. Rob Oudshoorn, der in den 90er Jahren zu Vredestein kam, nachdem er zuvor viele Jahre in Spitzenpositionen für den weltweit führenden Reifenkonzern Michelin auf mehreren Auslandsstationen tätig gewesen war, konnte im Vorjahr mit einem Umsatz von 230 Millionen Euro eine weit im zweistelligen Bereich liegende EBIT-Marge erwirtschaften. Oudshoorn hatte Ordnung in die Produktion gebracht und das Unternehmen auf die Produktion ausschließlich sehr anspruchsvoller Pkw-Reifen ausgerichtet, die als „Trac-Generation“ und mit Giugiario-Design im Markt bekannt geworden sind wie zum Beispiel Protrac, T-Trac, Sportrac, Quatrac, Snowtrac und Wintrac. Und die lange Tradition als Hersteller von Landwirtschaftsreifen in Verbindung mit der Tatsache, dass Vredestein sich einen Namen geschaffen und Anerkennung gewonnen hatte, führte dazu, dass Oudshoorn auch für diesen Bereich auf das oberste Segment setzte. Mit äußerster Konsequenz wurden neue Produkte entwickelt wie der radiale Hinterreifen Traxion+ mit seinem bemerkenswerten neuen Profil und der preisgekrönte Flotation+. Alle weniger anspruchsvollen Reifen werden im Offtake bezogen, weil sich Allerweltsreifen/Commodities in Westeuropa kaum noch zu wettbewerbsfähigen Preisen herstellen lassen.
Zum Zeitpunkt des Gesprächs mit der NEUE REIFENZEITUNG wollte sich Rob Oudshoorn nicht zu sehr aus der Reserve locken lassen, was den neuen Partner, besser gesagt die zukünftige Muttergesellschaft Amtel anbelangt. Mit dessen Chef Gupta war er jedoch schon mehrfach zusammengetroffen und es wurde deutlich, dass der Vredestein-Mann auch unter dem Dach des Amtel-Konzerns in vorderster Front bleiben wird.
Amtel produziert in drei russischen Werken sowie in einem ukrainischen Werk Reifen. Der Maschinenpark ist dem Vernehmen nach dermaßen modern und auf der Höhe der Zeit, dass man quasi aus dem Stand mit exzellenter Qualität rechnen kann, immer vorausgesetzt, dass die zum Einsatz kommenden Rohmaterialien mit denen von Vredestein übereinstimmen.
Dass dennoch viel Arbeit zu erledigen bleibt, lässt sich einigen nackten Zahlen entnehmen: Vredestein (Belegschaft insgesamt 1.300) produziert mit etwa 800 Arbeitern im Werk immerhin 4,5 Millionen Reifen für das obere Marktsegment, während für Amtel derzeit noch 22.000 Menschen werkeln, aber nicht mehr als elf Millionen Reifen jährlich ausstoßen. Und angesichts der wirklichen Verhältnisse, insbesondere angesichts der niedrigen Löhne, wird der Wandel ganz sicher nicht binnen kürzester Zeit vonstatten gehen. Abgesehen davon wären ohnehin größere Investitionen erforderlich.
Im Gegensatz dazu steht die Vredestein-Welt. Um ein aktuelles Beispiel heranzuziehen: Derzeit sind fünf neue Roboter im Einsatz, deren Zahl bis Jahresende auf 20 oder 21 steigt. Diese Roboter übernehmen voll und ganz die heute noch von Gabelstaplern und deren Fahrern zu erledigende Arbeit. Dabei ist von einer Investition die Rede, die sich angesichts hoher Löhne in Westeuropa bzw. in Enschede bereits innerhalb von drei, höchstens von vier Jahren „voll zurückgezahlt“ haben wird.
Dafür, dass Vredestein nicht mit fliegenden Fahnen sofort im „russischen Reich“ untergehen wird, sprechen auch die wechselseitigen Vor- und Nachteile von Vredestein einer- und Amtel andererseits.
Vredestein braucht eine kostengünstige Produktionsbasis für die gerne so bezeichneten Brot-und-Butter-Reifen, die bisher zum Teil bereits aus Indonesien und China (Taiwan) bezogen werden. Der indonesische Reifenhersteller Elangperdana mit seinen chinesischen Eigentümern hat seine Fabrik um die Jahrtausendwende mit Vredestein-Know-how errichtet, dürfte inzwischen eine Produktionskapazität von noch weniger als zwei Millionen Stück erreicht haben und liefert in bedeutendem Umfang bereits heute Vredestein-S/T-Reifen in 13 und 14 Zoll nach Europa. In Asien werden alle Reifen der Indonesier übrigens unter dem Markennamen Vredestein vertrieben. Diese Geschäftsbeziehung soll nach Oudshoorns Worten nicht leiden, sondern in vollem Umfang weiter geführt und weiter gepflegt werden, denn die aus Russland zu erwartenden Reifen werden als zusätzliche Mengen gesehen. Das Offtake mit Federal, hier geht es derzeit um eine Reifendimension im Wesentlichen, scheint auch nicht in Frage zu stehen.
Der guten Ordnung und Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass die einfacheren Volumengrößen Landwirtschaftsreifen, alle diagonalen Traktorreifen und Implementreifen in Indien gefertigt werden.
So bleibt als roter Faden ständig erkennbar, dass und wie Vredestein sich bemüht, auf der „höheren Schiene“ Fuß zu fassen und voranzukommen. Das Werk Enschede steht dabei für Hochgeschwindigkeitsreifen, für SUV-Reifen, für anspruchsvolle Winterreifen und wird auf viele Jahre hinaus das Vorzeigewerk des neuen Produktionsverbundes bleiben.
Aber auch und vor allem für Amtel macht die Übernahme von Vredestein sehr viel Sinn. Heutzutage ist es vielen Konkurrenten relativ leicht möglich, irgendwo auf der Welt ein Reifenwerk auf grüner Wiese zu errichten. Diese Produktionskapazitäten dann auch abzusetzen und zu Preisen zu verkaufen, die letztlich einen ausreichenden Gewinn ermöglichen, ist eine völlig andere Sache.
Amtel verkauft derzeit unter verschiedenen Markennamen die im Land hergestellten Reifen auf dem großen und sehr schnell wachsenden russischen Heimatmarkt. Die erste Marke Amtel ist dabei preislich bestenfalls irgendwo im Mittelfeld zu sehen, die anderen Marken tummeln sich im unteren Bereich, in dem auch in Russland kaum Geld verdient werden kann. Der Ansatz ist nun, mit der Marke Vredestein das obere Segment zu besetzen, so wie es zum Beispiel der ebenfalls recht kleine, mit Russland aber traditionell weitaus besser als Vredestein verbundene finnische Reifenhersteller Nokian schafft. Und am Rande sollte wenigstens nicht ganz unerwähnt bleiben, dass die in Westeuropa nahezu ausgestorbene Marke Gislaved in Russland auch noch über einen ausgezeichneten Klang verfügt. Dieser neu entstandene Konzern dürfte also weniger daran interessiert sein, die vorhandene Produktionskapazität auszuweiten, sondern wird sich auf eine Verbesserung des Produktmix konzentrieren wollen.
Vredestein wird unter dem neuen Dach aber nicht nur in seinen bisherigen Kernmärkten Deutschland/Österreich/Schweiz und Benelux stärker werden, sondern wird durch die sehr wettbewerbsfähigen Produktionsstätten in Russland preislich nicht mehr an die Wand zu spielen sein und gleichzeitig werden auch die aus Preis- bzw. Kostengründen bisher gemiedenen Marktsegmente bedient werden können. Ob sich die Marke dann aber in die billigeren Gefilde erneut herablassen wird oder dieses Feld doch lieber der Zweitmarke Maloya oder auch Amtel überlässt, wird sich noch zu zeigen haben.
Und dasselbe gilt natürlich für andere gute, anspruchsvolle Reifenmärkte dieser Welt, auf denen Vredestein zwar nicht ganz unbekannt, aber doch relativ unbedeutend geblieben ist. Da wird man viel nachholen können.
So deutet denn einiges darauf hin, dass es mehr als Zweckoptimismus ist, der zurzeit beobachtet werden kann. Die Partner ergänzen sich, brauchen sich gegenseitig und das ist bisher immer noch das beste Mittel für Zusammenhalt gewesen.
Rund 60 Jahre nach Gründung sind die Holländer somit nicht am Ende, wie es ihnen stets vorausgesagt worden war, denn für große „westliche“ Hersteller schienen sie wegen eines fehlenden Heimatmarktes nicht anziehend genug gewesen sein. Das aber hat sich nun geändert. Amtel hat nicht allein eine weitere Reifenfabrik gekauft, sondern zugleich eine ganze Organisation, mit deren Hilfe die weitere Marktdurchdringung in Europa jedenfalls gewährleistet sein sollte.
Die Vredestein-Geschichte ist nicht beendet, das Zusammengehen mit Amtel kann ein neuer Anfang sein, der das Unternehmen in den kommenden Jahren zu einem stärkeren Wettbewerber im Reifenmarkt werden lässt.
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