Umrüstmuffel sind nicht generell haftbar
Hartnäckig hält sich das Gerücht in der Branche, dass unabhängig von den näheren Umständen der Vollkasko-Versicherungsschutz erlischt oder wenigstens verringert wird, wenn ein Autofahrer im Winter mit Sommerreifen einen Unfall verursacht. Tatsache ist, es gibt Urteile, bei denen Autofahrern ebendies passiert ist. Das Oberlandesgericht Frankfurt etwa urteilte am 10. Juli 2003, dass eine Fahrt in den Winterurlaub auf Sommerreifen als „grob fahrlässig“ einzustufen sei – aber eben nur in dem verhandelten Einzelfall und nicht generell. Der Fahrzeughalter hatte zu allem Überfluss auch noch die falschen Schneeketten aufgezogen, so dass er auf der schneebedeckten Hotelausfahrt ins Rutschen geriet und an einer Schneewand entlang schrammte (Az.: 3 U 186/02). Eine weitere Tatsache ist auch, dass es ein Urteil eines Aachener Amtsrichters gibt, der einem Autofahrer wegen „nicht witterungsbedingter Bereifung“ eine 20-prozentige Mitschuld aufgebürdet hat (Az.: 6 C 220/85). Dieses Urteilt stammt allerdings bereits aus 1986, wird aber dennoch immer überall dort zitiert, wo es darum geht, Stimmung gegen Umrüstmuffel zu machen.
Außer Frage stehen die Vorteile von Winterreifen bei kalten Witterungsverhältnissen gegenüber Sommerreifen, Untersuchungen hierzu vonseiten der Industrie gibt es genügend; ohne Frage ist der Bremsweg in den meisten Fällen kürzer. Dennoch muss sich die Branche vergegenwärtigen, dass es „keine allgemeine Rechtslage“ in Sachen Sommerreifen im Winter gibt, erklärt Klaus Brandenstein vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) in Berlin gegenüber der NEUE REIFENZEITUNG. Ob eine „grobe Fahrlässigkeit“ gegeben ist, muss stets im Einzelfall von einem Richter entschieden werden, da der juristische Begriff eh interpretationsbedürftig ist. Grobe Fahrlässigkeit liege vor, wenn die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt worden ist, d.h. wenn schon einfachste und naheliegendste Überlegungen nicht angestellt wurden und dasjenige nicht beachtet wurde, was im gegebenen Fall jeder Person klar sein musste, heißt es im Versicherungslexikon. Aber selbst diese Erklärung bedarf einer weiteren Erklärung, und die kann eben nur auf juristischem Wege erlangt werden, solange die Kriterien nicht exakt festgelegt sind, aus denen eine grobe Fahrlässigkeit entsteht. Dies scheint aber durchaus schwierig, jedenfalls hat es bisher kein höchstrichterliches Urteil im hier zur Diskussion stehenden Zusammenhang gegeben. Wenn jemand mit 2,1 Promille im Blut einen Unfall verursacht, gibt es mittlerweile keine Diskussionen und Rechtsstreitereien mehr: Dies setzt jeder Richter als „grob fahrlässig“ voraus. Dasselbe trifft allerdings nicht auf den Gebrauch von Sommerreifen im Winter zu.
Sollte eine Vollkaskoversicherung den Verdacht haben, zwischen den Sommerreifen, mit denen der Versicherungsnehmer im Winter versucht hat, einen Alpenpass zu nehmen, und einem Unfall gibt es einen kausalen Zusammenhang, muss sie dies dem Versicherten nachweisen. Die Beweislast liegt also generell bei der Versicherung; Vermutungen im Unfallprotokoll der Polizei sind hier nebensächlich. Entscheidend ist einzig und allein ein Gutachten, mit dem die Versicherung ihrem Versicherungsnehmer den kausalen Zusammenhang, also die grobe Fahrlässigkeit, nachweist. Solange dies nicht geschehen ist, hat der Versicherungsnehmer einen grundsätzlichen Anspruch auf eine Zahlung. Im Extremfall werden dann noch weitere Gutachten (des Versicherungsnehmers, des Gerichts) in Auftrag gegeben, bis letzten Endes ein Urteil gefällt werden kann. Also: Keine Versicherung kann unter Hinweis auf bisher gesprochenes Recht einen Anspruch abweisen, es muss der Einzelfall geprüft werden.
Ähnliches gelte auch für die Kfz-Haftpflichtversicherung, erklärt Klaus Brandenstein vom GDV. Unter Umständen könne die Versicherung dem Unfallverursacher eine Mitschuld aufbürden und somit die Zahlung des kompletten Schaden, an den Unfallgegner verhindern. Aber auch hier muss wieder im Einzelfall entschieden werden, es gibt keine generelle Regelung, die von Versicherungen angewandt wird. Folglich geht kein Autofahrer ein generelles versicherungsrechtliches Risiko ein, wenn er im Winter mit Sommerreifen auf deutschen Straßen unterwegs ist – es gilt stets die Entscheidung im Einzelfall, und diese kann keine Versicherung rechtskräftig und eigenmächtig festlegen.
Was für den Begriff „grobe Fahrlässigkeit“ gilt, trifft auch auf den Begriff „Verschulden“ zu. Der Begriff ist im BGB nicht definiert. Verschulden ist ein „objektiv rechts-/ pflichtwidriges und subjektiv vorwerfbares Verhalten eines Zurechnungsfähigen“, heißt es dazu im Lexikon. Wer einem anderen schuldhaft einen Schaden zufügt, ist nach BGB uneingeschränkt zum Schadenersatz verpflichtet; die „Objektivität“ muss aber erst einmal festgestellt werden.
Da die Rechtslage in Deutschland folglich klar ist – es gibt keine allgemein gültigen Entscheidungen, sondern Fahrlässigkeit oder Schuld muss immer im Einzelfall geprüft werden –, argumentiert der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft auch in Sachen Winterreifen nicht mit rechtlichen Hinweisen, sondern damit, dass Winterreifen vorteilhaft zum persönlichen Schutz des Autofahrers, seiner Beifahrer und anderer Verkehrsteilnehmer ist, wie Klaus Brandenstein betont: „Versucht die größtmögliche Sicherheit für Euch zu schaffen.“
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