Neubau: Reifenhandel Kessler setzt auf Unabhängigkeit und Dienstleistungen
Trifft man heute mit Reifenhändlern oder gar mit Reifengroßhändlern zusammen und kann mit ihnen vertraulich reden, dauert es meist nicht lange, bis das Klagen über den Markt und die Industrie beginnt. Während man dabei vielerorts eine mitunter große Passivität wahrnehmen kann, das eigene Schicksal zu beeinflussen, gibt es im Markt immer wieder aber auch herausragende Beispiele aktiven, positiven Unternehmertums. Als ein solches Beispiel lernte die NEUE REIFENZEITUNG kürzlich Jürgen Kessler kennen, Inhaber und Geschäftsführer der Reifenhandel Kessler GmbH. Der Unternehmer aus Witten bei Dortmund hat nicht nur keine Lust, über einen vermeintlich fremdbestimmten Markt zu jammern, sondern konzentriert sich lieber auf die eigenen Stärken. Diese fanden erst im vergangenen Jahr ihren Ausdruck in einer aufwendigen und kostspieligen Betriebsverlagerung, die sich aber durchaus rechnet, verriet Jürgen Kessler – das hat Gründe.
Jürgen Kessler begann bereits als junger Student das Handeln mit Reifen. Dass daraus einmal ein Unternehmen mit einem Jahresumsatz von 35 Millionen Euro werden würde, hatte sich der Wittener damals noch nicht träumen lassen. Dabei ist die Entwicklung des Unternehmens seit der Gründung 1990 alles andere als zufällig verlaufen, wie der Reifenhändler im Gespräch mit der NEUE REIFENZEITUNG betont. Während viele Reifenhändler im Land gerne mit der großen Welle schwimmen – anders ausgedrückt: sich treiben lassen –, hat Jürgen Kessler die Entwicklung seines Betriebes offenbar immer bewusst in eine bestimmte Richtung gelenkt, in der er Wachstums- und Ertragspotenziale wähnte, und ist damit in nunmehr 26 Jahren augenscheinlich immer gut gefahren, auch wirtschaftlich.
Kessler ist dabei kein Mann, dem das Schulterklopfen der Kollegen im Markt und der Industrievertreter besonders viel bedeutet. Auch ist er keiner, der großen Wert auf engmaschige Kooperationen legt. Seinen Antrieb findet er in der Entwicklung seines Unternehmens und nimmt sich dabei selber – mit Blick auf seine Mitarbeiter – mitunter auch bewusst zurück. „Ich bin freier Reifenhändler und ich bleibe freier Reifenhändler“, so der Unternehmer im Gespräch mit der NEUE REIFENZEITUNG. Während im Markt der Trend üblicherweise immer größere Netzwerke – industrienah oder ungebunden – entstehen lässt, angetrieben durch die verzweifelte Suche einer ‚starken Schulter’ zum Anlehnen, will man sich beim Reifenhandel Kessler lieber auf sich selber konzentrieren und sich entsprechend weiterentwickeln, wo es eben geht. Dieses Credo größtmöglicher Unabhängigkeit schließe allerdings eine punktuelle unternehmerische Zusammenarbeit nicht aus, so Kessler und pointiert, dass er mit seinem Unternehmen gerne mit anderen zusammenarbeite, nicht aber kooperieren wolle; für Jürgen Kessler geht der Begriff Kooperation über den der Zusammenarbeit hinaus, schließt ihm zufolge nämlich die teilweise Aufgabe unternehmerischer Souveränität mit ein.
„Zusammenarbeit statt Kooperation“
In der Aussage „Zusammenarbeit statt Kooperation“ kommt ein klares Geschäftsmodell zum Ausdruck, etwas, das viele andere Marktteilnehmer mitunter vermissen lassen. Zunächst setzt Kessler seit Gründung seines Unternehmens auf den Reifengroßhandel und erzielt damit immerhin und immer noch zwei Drittel seiner Umsätze; der Ertragsanteil des Großhandels ist zwar beträchtlich, aber im Vergleich zum Umsatz deutlich geringer. Und dann betreibt das Unternehmen – übrigens erst seit elf Jahren – einen Einzelhandel und baut dabei ganz gezielt ertragsstarke Dienstleistungen auf und aus wie etwa Einlagerungen, das Autoservicegeschäft allgemein oder Hauptuntersuchungen im Besonderen; auch Reifenreparaturen zählen zunehmend zum Angebot. Dass der Reifenhandel Kessler erst vor rund einem Jahrzehnt auch zum Reifen-Einzelhandel Kessler wurde, ist zwar einerseits ein nicht unüblicher Entwicklungsschritt; viele Reifengroßhändler fahren ein ähnlich zweigeteiltes Geschäftsmodell. Dennoch sah Jürgen Kessler bereits damals in der Erweiterung seines Angebotes eine wichtige Absicherung gegen Marktschwankungen; das Schlüsselwort heißt Diversifizierung.
Da dann aber der bisherige Reifenhandel Kessler am alten Standort in der Wittener Westfalenstraße keine Erweiterungsmöglichkeiten mehr für ein wachsendes Geschäft mit zusätzlichen Dienstleistungen fand, entschied Jürgen Kessler, seinen Betrieb zu verlagern und damit auch deutlich zu vergrößern. Ein paar Zahlen dazu: Die Bauarbeiten begannen 2014 auf dem rund 15.000 m² großen Gelände einer ehemaligen Schule 500 Meter die Straße runter in Richtung Stadt. Für eine Investitionssumme von fast fünf Millionen Euro entstanden dort auf 6.500 m² Lagerhallen mit einer Kapazität von maximal 100.000 Reifen bzw. Rädern in modernen Hochregalen, darunter Kapazitäten für bis zu 10.000 eingelagerte Komplettradsätze, eine 600 m² große Werkstatt mit immerhin acht Bühnen, ein großzügiger Verkaufsraum sowie moderne Büroflächen auf 700 m². Auch wenn sich die Lagerkapazität am neuen Standort vervierfacht hat und nun außerdem fünf zusätzliche Bühnen zur Verfügung stehen, sei man damit aber noch nicht ausgelastet; die neuen Räumlichkeiten seien hingegen „großzügig“ geschnitten und böten dem Unternehmen „ausreichend Entwicklungsreserven“ für die kommenden Jahre. Sollte dennoch der Platz einmal eng werden, kann immer noch eine bestehende Freifläche auf dem Kessler-Grundstück genutzt werden.
Auch wenn der Einzelhandel derzeit ‚nur’ für rund zehn Prozent der Umsätze steht, entwickele sich dort das Geschäft doch deutlich dynamischer als im Reifengroßhandel. Dies schlägt sich einerseits auf den Umsatz nieder: Seit dem Umzug im August 2015 habe dieser insgesamt um wenigstens zehn Prozent zugelegt, wobei der Einzelhandel deutlich stärker gewachsen ist als der Großhandel. Aber gerade die Erträge im Einzelhandel hätten mit plus 20 Prozent zuletzt eine durchaus gute Entwicklung hingelegt, so Jürgen Kessler zufrieden. Man sei eben „nicht der Billigste“, bekundet der Unternehmer und weiß, dass seine Kundschaft einen Preis für eine entsprechende Leistung zu zahlen bereit ist. Nicht von ungefähr sei es demnach gelungen, seit dem Umzug über 600 Neukunden hinzuzugewinnen.
Positiv auf die Erträge wirke sich dabei vor allem die bewusste Ausrichtung auf Dienstleistungen aus. Etwa Einlagerungen. Bereits heute lagern beim Reifenhandel Kessler rund 5.000 Komplettradsätze insbesondere von Großkunden wie Autohäuser, aber natürlich auch von Endverbrauchern. Gerade diesbezüglich versuche das Unternehmen gezielt seinen Kundenstamm zu erweitern.
Ein weiterer Ertragsbringer heute: die Reifenreparatur. Das Unternehmen, das natürlich einen eigenen Vulkaniseurmeister beschäftigt, repariert heute zwischen fünf und zehn Reifen täglich, und zwar entweder im Heiß- oder im Kaltvulkanisationsverfahren. Reifen repariere in der Region um Witten kaum noch jemand, so Jürgen Kessler. Damit könne sich das Unternehmen nicht nur als wahrer Dienstleister gegenüber dem Kunden präsentieren, der im Zweifel eben nur 30 oder 40 Euro für eine Reparatur bezahlen, nicht aber einen oder zwei neue Reifen kaufen muss. Außerdem ist die Reparatur fast immer auch deutlich ertragsstärker als der Verkauf eines Reifens.
Ganz neu als Angebot am neuen Standort: Hauptuntersuchungen. Damit ließen sich immer wieder gute Folgeaufträge für die Kfz-Werkstatt und den Reifenhandel und außerdem auch eine ganzjährig gleichbleibendere Auslastung im Betrieb generieren, der sich folglich insgesamt mehr und mehr auch auf Autoservice einstellt.
Dabei bietet der Reifenhandel Kessler nicht alles an, was man mitunter als üblich für eine Fach-Werkstatt bzw. einen Kfz-Meisterbetrieb empfinden würde. So habe Jürgen Kessler etwa die Etablierung eines Hol- und Bringservices versucht; dies habe sich aber aufgrund der Kostensituation nicht durchsetzen können und wurde eingestellt.
Klarere räumliche Trennung
Dabei könne das Unternehmen am neuen Standort in der Wittener Westfalenstraße nun auch von einer klareren räumlichen Trennung der beiden Geschäftsbereiche Großhandel und Einzelhandel profitieren. Wenn eingelagerte Kompletträder mit Ware aus dem Einzel- und dem Großhandel im eigentlich viel zu kleinen Lager unter einem Dach stehen, dann sind Fehler programmiert. Die räumliche Aufteilung der Geschäftsbereiche des Mischbetriebes ermögliche heute in verschiedener Hinsicht ein effizienteres Arbeiten mit auch eindeutigeren Zuordnungen von Verantwortungen und Pflichten der Mitarbeiter im Team. Das Team selber, dem Jürgen Kessler eigenen Aussagen zufolge einen nicht unerheblichen Grad an Eigenverantwortung zubilligt – er spricht hier von einer „flachen Hierarchie“ –, ist seit dem Umzug vor über einem Jahr außerdem um gleich acht neue Kollegen gewachsen, die in sämtlichen Unternehmensbereichen untergekommen sind. Der Reifenhandel Kessler beschäftigt heute je nach Saison 35 bis 40 Mitarbeiter. Gleichzeitig sucht Jürgen Kessler derzeit noch weitere Auszubildende für die kaufmännischen und handwerklichen Ausrichtungen im Betrieb sowie für das Lager; seine Azubis übernimmt das Unternehmen üblicherweise.
Auch wenn Kessler den Einkauf – das Unternehmen kauft und verkauft jedes Jahr rund 430.000 Reifen – schon als zentral für den Geschäftserfolg betrachtet, ist er nicht der Ansicht, Mitglied einer Kooperation etc. sein zu müssen, um hier besondere Einkaufsvorteile herausholen zu können. Das Unternehmen kauft dabei einen eher geringen Anteil seiner Reifen direkt über die Industrie ein, sondern nutzt für seinen Einkauf hauptsächlich Sekundärquellen, zum Beispiel andere Großhändler. Auch darin spiegelt sich das Unabhängigkeitsdenken des Wittener Unternehmers wider. Dabei verfolgt der Reifenhandel Kessler eine exklusive Ausrichtung auf Pkw-Reifen. Der Einkauf übers Internet bedeute dabei aber nicht, dass das Unternehmen nicht trotzdem auch bei den Produkten eine Premiumstrategie verfolgt, betont der Händler gegenüber der NEUE REIFENZEITUNG. Selbst wenn die Spannen zwischen Sell-in- und Sell-out-Preisen im Großhandel üblicherweise überaus gering sind, wenn überhaupt vorhanden, erzielt Jürgen Kessler eigenen Aussagen zufolge noch auskömmliche Erträge auch im Großhandel, auch wenn dieser, wie oben bereits beschrieben, im Vergleich zum Umsatz nur unterdurchschnittlich zum Gesamtergebnis der Reifenhandel Kessler GmbH beiträgt. Auch weitere Dienstleistungen, mit denen die Zusammenschlüsse von Reifenhändlern üblicherweise werben, spielen für den Unternehmer aus Witten nur eine untergeordnete Rolle. Marketing und Werbung etwa. Klassische Anzeigenwerbung betreibe das Unternehmen gar nicht und vertraue auch darüber hinaus eher auf die überzeugende Wirkung des eigenen Angebots und das seiner Mitarbeiter; das sei dem Unternehmer Werbung genug. Ein Blick auf die Hohe Anzahl von Neukunden innerhalb eines Jahres unterstreicht diesen Ansatz offenbar.
Jürgen Kessler kann zwar nicht in die Zukunft blicken. Dennoch versucht er sein Unternehmen Schritt für Schritt weiter zu diversifizieren und für den ihm immerhin möglich erscheinenden Fall vorzubereiten, dass sich der Reifengroßhandel eines guten Tages nicht mehr trägt. Auf einen solchen möglichen Tag in passiver Erstarrtheit zu warten, ist für ihn jedenfalls keine Option. arno.borchers@reifenpresse.de
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