Die Reifenlandschaft verändert sich
Es ist wieder die Zeit der Jahresrückblicke, auch traditionell an dieser Stelle in der NEUE REIFENZEITUNG. Doch selten zuvor fiel es schwerer, auf etwas zurückzublicken, das sich ereignet hat. Das liegt daran, dass zu viele Dinge im Fluss, nicht abgeschlossen sind. Langwierige Prozesse überlagern singuläre Ereignisse, diese Prozesse sind jedenfalls in der Reifenbranche so vielschichtig, dass wohl sogar das Wort „Strukturwandel“ gerechtfertigt erscheint. Wohl selten war die allseits bekannte Binse, dass Wandel immer stattfindet, so berechtigt wie heute. Wobei vielen Menschen dieser permanente Wandel irgendwie und ganz diffus immer hektischer erscheint und kaum die Zeit bleibt zu begreifen, was da wirklich vorgeht. Weil schon wieder „die nächste Sau durchs Dorf getrieben wird“. Um auf dem Laufenden zu bleiben, saugen wir auf, was uns die Informationsflut serviert. Wir wissen immer mehr und verstehen immer weniger.
Wer mit wem?
Welcher Zusammenschluss unter den Branchenriesen wäre denn überhaupt denkbar? Schon geradezu stereotyp die Erwiderung, dass die Kartellbehörden da schon ihr Veto einlegen würden, jedenfalls in einigen Ländern oder Segmenten. Seit Jahren wird einer Konsolidierung unter den Reifenherstellern von sogenannten Branchenexperten das Wort geredet. Stattdessen zerfasert die Industrielandschaft immer weiter, werden vor allem aus fernöstlichen No-Name-Marken echte Wettbewerber. Reifen herzustellen, auch gute, ist keine Geheimwissenschaft, die den renommierten Herstellern dauerhaft vorbehalten ist. Die entsprechenden Materialien kann man ebenso irgendwo kaufen wie die entsprechenden Maschinen oder die Fachleute mit ihrem Know-how. Michelin deutet in aller Vorsicht an, doch eventuell einen Billiganbieter in eben jener fernöstlichen Region kaufen zu wollen, wenn es denn eine günstige Gelegenheit geben sollte – hat aber doch eigentlich genügend Marken im eigenen Portfolio, die das Budgetsegment abdecken könnten. Was passiert eigentlich, wenn das Joint Venture aus Goodyear und Sumitomo Rubber Industries (SRI, Hauptmarke Dunlop) aufgelöst wird, der Scheidungstermin dürfte innerhalb der nächsten zwei Jahre liegen? SRI kann es nicht hinnehmen, vom jahrelangen Joint-Venture-Partner von wichtigen Reifenmärkten ausgeschlossen zu werden. Goodyear kann es nicht hinnehmen, wenn Produktions-Know-how aus „eigenen“ Werken gen Japan flutscht. Und wer weiß überhaupt, wer Jäger und wer Gejagter sein wird? Gewiss: Reifenhersteller wie Michelin oder Großkonzerne wie Continental haben ihre „Kriegskassen“, mit denen sich manches stemmen ließe. Aber es sollte keiner sicher sein, dass Größe das entscheidende Kriterium ist bei der Frage, wer der agierende und wer der reagierende Spieler ist. Dass der Versuch des aufstrebenden indischen Unternehmens Apollo Tyres gescheitert ist, mit Cooper einen der letzten beiden US-Reifenkonzerne und langjährigen weltweiten Top-Ten-Vertreter unter den Herstellern zu übernehmen, ist kein Menetekel. Es sollte keiner glauben, dass sich chinesische Unternehmen dauerhaft damit begnügen, europäische Mittelständler zu übernehmen (und manchmal mit ihrem Geld sogar vor dem Exitus zu retten, auch das ist ein Teil der Wahrheit). China hat inzwischen ambitionierte private Industrieunternehmen mit reichlich Kapital und nicht minder ambitionierte staatliche Industrieunternehmen mit noch mehr Kapital, sodass es nur eine Frage der Zeit ist, auch die automobilen Zulieferer im Rest der Welt und gerade auch in Deutschland ins Visier zu nehmen. Man sollte da nicht zu sehr auf Rettung aus der deutschen Politik hoffen angesichts der Erfolge, die Volkswagen, BMW oder inzwischen auch Mercedes in China selbst verzeichnen. Auch die chinesische Regierung weiß Politik zu machen. Westliche Automobilhersteller, Zulieferer und auch die Reifenindustrie macht sich in China breit, das wird keine Einbahnstraße bleiben.
Wer bleibt?
Große Politik? Darum kümmern sich die „großen Großhändler“ im deutschen Markt eher nicht, auch wenn sie als typische Mittelständler als Teil des „Rückgrates der deutschen Wirtschaft“ gelten und einem spontan einige herausragende Unternehmertypen im Reifenhandel einfallen, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten richtige Aufbauarbeit geleistet haben und erfolgreich waren. Dennoch hört man auch auf dieser Ebene immer wieder das Wort „Konsolidierung“. Neben den diversen kleineren Grossisten mit Markteinfluss etwa „50 Kilometer um den Kirchturm“ gibt es circa zwei Dutzend nationale Größen. „Zu viele“, lautet der Konsens. Jetzt ist mit der Übernahme von Ihle Baden-Baden durch Michelin die Bewegung in die Riege gekommen, die schon seit zwei, drei Jahren vorhergesagt wird. Von anderen ist bekannt, dass sie sich mit dem Gedanken eines geordneten Rückzugs aus dem
Reifengroßhandelsgeschäft tragen so es ihnen nicht doch noch gelingen sollte, rechtzeitig einen respektablen Kaufpreis für ihr Geschäft von einem Investor zu ergattern – bevor der Niedergang sichtbar wird. Regionale Großhändler wie Reifen Ihle in Günzburg werden samt ihres lokalen Einzelhandelsnetzes übernommen, in diesem Falle von jemandem, der ebenfalls eher regionaler Großhändler ist und ebenfalls eine veritable lokale Einzelhandelskette aufgebaut hat: Reifen Müller (Hammelburg). Das so transparente und in Echtzeit erfolgende Pricing der Reifen-Online-Händler bringt das Geschäftsmodell des traditionellen Reifengroßhandels ins Wanken, der überregionalen Grossisten noch mehr als der regionalen, die ihren Kunden Einzelhändler um die Ecke haben und darum immer noch einen Zeitbonus, der den Preisbonus der Internetjongleure schlagen kann.
Wer geht wohin?
Reifenhandelskooperationen sind ein natürlicher Wettbewerber der Reifengroßhändler, ob sie nun industriegebunden, industrienah oder nach eigenem Empfinden wirklich „frei“ sein mögen. Sie bündeln Einkauf und versprechen sich davon einen Preisvorteil. Und weil sie erkannt haben, dass das als Geschäftsmodell allein nicht ausreicht, zimmern sie sich einen Baukasten, in den sie sogenannte Module wie Marketing, Betriebswirtschaft, Autoservice usw. hineinpacken. Machen sie alle, jeder glaubt das besser zu machen als die anderen. Aber ist nicht auch da so manches Geschäftsmodell längst zu einem Auslaufmodell mutiert und fehlt nur der Mut, sich das einzugestehen? Zwar verbietet es der Respekt beispielsweise vor großartigen Unternehmen und Unternehmern – wie Emigholz, Stiebling und andere –, despektierlich von einer „Resterampe“ bei Team zu sprechen, aber auffällig ist es schon, dass sich nicht nur kleinere Reifenhändler aus der point-S-Organisation entschließen, schnell noch Kasse zu machen und von Vergölst, Pneumobil und Euromaster aufkaufen zu lassen, sondern sich auch die Crème des deutschen Reifenhandels von Team anders orientiert. Jahrzehntelang etablierte „Platzhirsche“ suchen Anlehnung: Reifen Feneberg bei Premio, Gummi Berger bei Euromaster, begeben sich direkt in den Schoß einer Pneumobil wie die Wagners bzw. einer Vergölst wie bei Eska geschehen oder suchen ihr Heil in der Stand-alone-Lösung wie weiland schon Pneuhage und Reiff sowie jetzt Helm – ein wenig wirkt das wie „back to the roots“.
Wer kann noch mithalten?
„Wir werden unsere eigenen Reifenhandelsbetriebe im Jahre 2020 nicht mehr wiedererkennen“, so ein ehemaliger Ehrenamtsträger des Bundesverbandes Reifenhandel und Vulkaniseur-Handwerk (BRV) vor geraumer Zeit gegenüber dieser Zeitschrift und meint damit – einerseits anerkennend, andererseits nicht frei von einer gewissen Resignation – das hohe Maß der Professionalität und der auch mit dem Geld der dahinterstehenden Industrien erkauften Kompetenz bei beispielsweise Euromaster und Vergölst. Da kann der Einzelkämpfer längst nicht mehr mithalten und inzwischen auch nicht mehr, wenn er in eine Kooperation flieht, die sich „frei“ nennt.
Bei Vergölst oder Euromaster wird man bestenfalls mitleidig schmunzeln, wenn tradierte Händler – die viele Jahre ein ausgezeichnetes Geschäft betrieben haben – mit Formulierungen wie „unter der Gürtellinie“, „die Motorhaube ist tabu“, „1-2-3-Service“ oder „Fast-fit“ ihr Geschäftsmodell abgrenzen und mit Floskeln wie „Schuster, bleib bei deinem Leisten“ oder „Fokussierung aufs Kerngeschäft“ zu rechtfertigen versuchen, um schließlich darauf hinzuweisen, dass sie das Thema „Autoservice“ ja bereits tapfer beackert haben. Was ist denn überhaupt mit „Autoservice“ gemeint? Es gibt Organisationen, da heißt es: „Das Thema Getriebe ist durch, jetzt kümmern wir uns um den Motor und bauen da Kompetenz auf.“ Es wird – und das war die Botschaft des ehemaligen BRV-Vorstands – immer mehr Betriebe geben in einigen Jahren, die eine Reifenhandelstradition haben mögen, aber nicht als Reifenhändler wahrgenommen werden, sondern als hochmoderner und professioneller Kfz-Meisterbetrieb mit lückenloser Kompetenz in allen technischen Fragen rund ums Automobil.
Wer muss aufhören?
Die Lkw-Neureifenhersteller sind geradezu gezwungen, sich intensiv um die Runderneuerung zu kümmern. Bei ihnen gehört die Runderneuerung zum Geschäftsmodell, nur so können sie in diesem Segment eine tragende Rolle spielen. Das spielt der Heißerneuerung in die Hände, bei der im Allgemeinen die Stückzahlen größer sind als bei der Kalterneuerung. Die Heißerneuerung ist tendenziell eher ein zentraler Ansatz, die Kalterneuerung ein dezentraler. Bewegung kommt in den Runderneuerungsmarkt
zwangsläufig durch die Neuordnung der Typengenehmigung von Reifen, die in Bälde eben auch Runderneuerte mit einbezieht, und das Reifenlabel. Je höher die Prüfkosten desto eher führt das zum Aus für kleine und mittelständische Runderneuerer. Je kleiner die (Kalt-)Runderneuerungsanlage, mit desto spitzerem Bleistift muss gerechnet werden. „Papa-Mama-Shops“ hat ein Bandag-Manager einmal die kleineren Lizenznehmer seiner Runderneuerungsmarke genannt. Es reicht nicht mehr, den so deutlich niedrigeren Preis allein als Vorteil des Runderneuerten zu propagieren. Er muss sich auch hinsichtlich Rollwiderstand, Nasshaftung und Geräuschemissionen wenigstens nicht zu weit entfernt vom Niveau des Neureifens bewegen. Die großen Werkserneuerer wie Michelin oder Goodyear oder – spätestens seitdem sie eine eigene große Anlage in Hannover haben – Continental preisen ihre Produkte ja entsprechend als „genauso gut“ wie ihr Neureifenpendant. Der größte „freie Runderneuerer“ Reifen Ihle (Günzburg, Runderneuerungsmarke Rigdon) hat dem Druck nicht mehr standhalten können, Bandag-Runderneuerer können auf Rückendeckung durch Bridgestone vertrauen, Recamic auf solche aus dem Hause Michelin. Marangoni (auch mit Ringtread) wird ebenso wenig weichen wollen wie Kraiburg, Vipal, Galgo und wie sie heißen mögen. Aber es wird eine „kritische Größe“ bei den Betriebseinheiten geben, wer die unterschreitet, wird die Runderneuerung aufgeben müssen über kurz oder lang. Und sollte auf einen industriellen Partner bzw. Materiallieferanten hoffen, der ihm auch reinen Wein einschenkt, bevor er in einen existenzgefährlichen Abwärtsstrudel gerät. Selbst wenn es der entsprechenden Lobby von Verbänden (wie Bipaver oder BRV) gelingen sollte sicherzustellen, dass Spezifika der „freien“ Runderneuerung (Karkassen unterschiedlicher Hersteller und unterschiedlichen Alters, Verwendung von Laufstreifen unterschiedlicher Hersteller etc.) in einer kommenden Gesetzgebung Berücksichtigung finden.
Wer weiß schon, wie die Zukunft aussieht?
Die letzten Jahre, ja die letzten Monate haben der Reifenbranche gravierende Veränderungen beschert, die drei wohl bedeutendsten: die (situative) Winterreifenpflicht, das Reifenlabel und zuletzt Reifendruckkontrollsysteme (RDKS) für alle seit dem 1. November neu zugelassenen Fahrzeuge der Klasse M1 und M1G. Diese Veränderungen setzen keine Schlusspunkte, sondern sind Etappenziele. Wann wird eine höhere Profiltiefe jedenfalls für Winterreifen als 1,6 Millimeter aus Sicherheitsaspekten wieder aufs Tableau gebracht? Und wie geht’s mit dem Reifenlabel, in das soviel Hoffnung von Industrie wie vom Handel gelegt worden ist und das doch bislang eher enttäuscht, weiter? Die Diskussion, ob nicht eine Ausweitung der Kriterien über Nasshaftung, Rollwiderstand und Außengeräusch hinaus auf vor allem Laufleistung sinnvoll sei, hat doch längst begonnen. Und wie kann es sein, dass zwar jeder zweite verkaufte Pkw-Reifen für den Winter ertüchtigt wurde, aber die genannten Kriterien bei Winterreifen nur eine untergeordnete Rolle spielen? Und was ist mit der These, dass RDKS nur ein temporäres (und im Übrigen eher umständliches) Vehikel sind, weil im nächsten Jahrzehnt Systeme vorliegen werden, die den situativ optimalen Reifendruck automatisch herbeiführen und den zur Bequemlichkeit ja neigenden Autofahrer entlasten? Wenn nicht mehr vom „intelligenten Reifen“ schwadroniert wird, sondern er auf der Straße ist!
Wer gewinnt – oder verlieren beide?
Die Essener „Reifen“ des Jahres 2014 wurde fast durch die Bank von allen Beteiligten als Erfolg gewertet. Auch wer auf die letzten beiden Jahrzehnte zurückblickt wird nicht umhinkönnen, von einer Erfolgsgeschichte zu sprechen. Damit soll es nicht mit der nächsten „Reifen“ im Jahre 2016, aber im Jahre 2018 vorbei sein. Dass die „Weltleitmesse“ in Essen sich so prächtig entwickelt hat, ist vor allem ein Verdienst von zwei Akteuren: der Messegesellschaft und des Bundesverbandes Reifenhandel und Vulkaniseur-Handwerk (BRV). Letzterer wendet sich ab von seinem langjährigen Partner und ruft gemeinsam mit der koelnmesse ab 2018 die „The Tire Cologne“ ins Leben. Weil wir nun einmal in einem Land des freien Wettbewerbs leben, überrascht es nicht, dass die Essener an ihrer „Reifen“ festhalten. 2018 wird es zwei konkurrierende Branchenmessen geben und beide buhlen bereits um die Aussteller. Unter denen frohlocken bereits einige, dass es bislang ungekannte Rabatte für ihre Ausstellungsstände geben könnte. Der „billige(re) Jakob“ von Messe Essen GmbH und koelnmesse GmbH wird sich mit allein diesem Argument schon mittelfristig auf der Verliererseite wiederfinden. Die Messe wird sich durchsetzen, die die bessere ist und deswegen mehr Aussteller und mehr Besucher verbuchen kann. Eher national agierende Aussteller dürften wohl eher geneigt sein, dem BRV nach Köln zu folgen, nicht weil sie da sein wollen, wo der BRV ist, sondern da, wo ihre Kunden sind. Für eher globale Spieler hat der BRV – bei allem Respekt – allerdings keine Leitfunktion, sie könnten ihre „Spielwiese“ weiterhin in den dann ertüchtigten Essener Messehallen sehen, mit der „Reifen“ haben sie ja in der Vergangenheit beste Erfahrungen gemacht. Entsprechend werden die Verantwortlichen aus Essen schon auf Veranstaltungen wie der „Reifen China“ trommeln. Welche der beiden konkurrierenden Messen „Reifen“ und „The Tire Cologne“ sich durchsetzen wird ist eine Frage, über die in den letzten Monaten kontrovers diskutiert wurde und wenigstens bis 2018 auch (oftmals zu) emotional debattiert werden wird. Dass Essener und Kölner in irgendeiner Form einen Konsens finden, ist nicht in Sicht. Sollte sich Ende Mai 2018 eine Pattsituation ergeben, hätten wir alle, hätte die Reifenbranche verloren. detlef.vogt@reifenpresse.de
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