Klassikreifen – Ein Geschäft für Liebhaber?
Es gibt kaum einen Markt, den man treffender mit der Qualifizierung „klein, aber fein“ umschreiben kann als den Markt für Klassikreifen. Das Volumen ist überschaubar, was von vornherein viele potenzielle industrielle Marktteilnehmer abschreckt. Dafür gilt umso mehr die Erkenntnis, dass mit Klassikreifen vernünftige Margen erzielt werden können, der Markt insgesamt kontinuierlich wächst und – wichtiger noch – der Kontakt zu hochinteressierten Enthusiasten unter den Händlern und Endverbrauchern hergestellt wird. Dies wirkt nicht nur imagefördernd, sondern lässt die jeweilige Marke auch in einem besonderen Licht erscheinen. In den vergangenen Jahren haben mehr und mehr nur noch zwei Hersteller den Ton auf dem Klassikreifenmarkt angegeben – Michelin und Apollo Vredestein –, während andere Unternehmen das Geschäft offenbar nicht mehr mit der nötigen und letzten Konsequenz betreiben.
Der europäische und insbesondere der deutsche Markt für Klassikreifen wächst, und zwar täglich. Während auf der einen Seite ständig aus einfach nur ‚alten’ Autos sogenannte Youngtimer werden, bleiben diejenigen Autos, die die ersten 15 bis 20 Jahre ihres Daseins überstanden haben, sehr wahrscheinlich noch weitere Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte, auf der Straße und werden somit interessant für die Lieferanten von Klassikreifen. Aus Autos werden ab einem bestimmten Alter einfach wieder ‚Babys’, um die man sich mit großem Aufwand kümmert. Wie immer auf diesem Markt gilt natürlich: Alles hängt irgendwie von der Definition dessen ab, über das man spricht. Allein bei der Unterscheidung zwischen ‚alten’ Autos, Youngtimern und Oldtimern gibt es einen immensen definitorischen Spielraum. Je nachdem, mit wem man sich unterhält – die zum Markt genannten Zahlen variieren zum Teil immens.
Lediglich wirklich belastbar ist die Zahl des Kraftfahrtbundesamtes zum Fahrzeugbestand in Deutschland. Danach lag der Anteil an Fahrzeugen mit einem Historienkennzeichen Ende 2012 bei 0,5 Prozent des gesamten Fahrzeugbestandes; in Summe gab es demnach laut KBA Ende vergangenen Jahres 285.052 Fahrzeuge mit H-Kennzeichen. Ein Jahr zuvor waren dies den Angaben der Behörde zufolge nur rund eine Viertel Million Fahrzeug, was einem Anteil am gesamten Fahrzeugbestand in Höhe von 0,4 Prozent entsprach.
Der Markt in Deutschland wächst demnach, dasselbe gilt auch für Europa, wenn auch mit unterschiedlicher Ausprägung, wie Sytze Attema von Apollo Vredestein bescheinigt. Insgesamt wachse der europäische Klassikreifenmarkt jährlich um rund fünf Prozent, so seine Schätzung. Während man uns Deutschen traditionsgemäß ein besonderes Faible für Autos und für Mobilität auf hohem qualitativen Niveau nachsagt, gilt dies nicht unbedingt für viele Südeuropäer, wie der Head Global Produkt Management PV – also Pkw-, SUV- und LLkw-Reifen – beim indisch-niederländischen Reifenhersteller mit Büro im Global Marketing Office des Konzerns in London im Gespräch mit der NEUE REIFENZEITUNG sagt. In Italien etwa fahre man freilich auch leidenschaftlich gerne Auto, nur sei dort der Umgang mit dem eigenen Fahrzeug eben eine Frage der Zweckmäßigkeit und nicht der Emotionen. Dies spiegele sich beispielsweise auch darin wider, dass man in Deutschland zum Teil deutlich mehr für die Instandhaltung von älteren Autos ausgibt, als dies in Italien der Fall ist.
Aus dieser quasi persönlichen Verbindung vieler Kunden in Deutschland zu ihrem Automobil entwickelt sich auch eine besondere Bereitschaft, für sein ‚Baby’ auch entsprechend zu bezahlen. Gleichzeitig entwickelt sich daraus auch ein besonderes technisches Interesse an dem Produkt und dessen Bereifung. All dies macht aus Deutschland offensichtlich einen der interessantesten Märkte für Hersteller von Klassikreifen. Auch hier gilt noch einmal: Die definitorische Abgrenzung, was nun genau ein Klassikreifen ist, muss jeder mit sich selber abmachen, da nicht einmal die Experten der Branche eine allgemeingültige Bestimmung vornehmen können.
Der Markt in Europa, so der Chef des weltweiten Produktmanagements für Consumer-Reifen bei Apollo Vredestein, umfasse schätzungsweise 200.000 Reifen. Der wichtige deutsche Markt steht dabei für wenigstens ein Drittel dieses Marktvolumens, liege also irgendwo zwischen 60.000 und 80.000 Reifen. Der zweitwichtigste Markt nach Deutschland ist der britische.
Stellt man dieselbe Frage nach dem deutschen Marktvolumen im Klassikreifenfachhandel, erhält man schon wieder ganz andere Antworten. Harald Möller etwa, Inhaber des gleichnamigen Handels für Oldtimer- und Weißwandreifen im schleswig-holsteinischen Quickborn nördlich von Hamburg, schätzt den deutschen Markt für Klassikreifen auf „wenigsten 30.000 Stück“. Wie gesagt: Am Ende ist dies eine Frage der Definition. Fallen die Reifen für einen über 30 Jahre alten Golf I nun in die Kategorie „Klassikreifen“ oder nicht? Zählt man moderne Radialreifen im alten Design noch hinzu oder eben nicht?
Tatsache ist und bleibt, der Markt ist denkbar klein. Bei insgesamt fast 72 Millionen in Deutschland 2012 verkaufter Pkw-Reifen (Ersatzmarkt und Erstausrüstung; laut WdK) liegt der Anteil der Klassikreifen dabei gerade bei über 0,1 Prozent vom Gesamt-Pkw-Reifenmarkt. Ist der Kuchen klein, fallen auch die Kuchenstücke klein aus. Infolgedessen ist die Anzahl der Marktteilnehmer, die sich um ein Stück vom Kuchen bemühen, eher gering. Zählte man früher noch die Reifenmarke Dunlop in die Riege der etablierten Klassikreifenanbieter, so hat sich in den vergangenen zehn bis 20 Jahren doch mehr und mehr ein Duopol auf dem Klassikreifenmarkt gebildet. Heute wird der gesamte Markt beinahe ausnahmslos von Michelin und Apollo Vredestein bedient. Während Michelin überall als klarer Marktführer geführt wird, eigenen Angaben zufolge pro Jahr etwa 100.000 Oldtimerreifen (weltweit) fertigt und als das Traditionsunternehmen schlechthin in diesem Segment gilt, hat Apollo Vredestein seit dem Einstieg in diesen Nischenmarkt in den 1990er Jahren doch ein immer größeres Stück vom Kuchen für sich beansprucht. Beiden Platzhirschen trauen Marktkenner leicht einen Anteil von insgesamt über 90 Prozent zu. Während Michelin gerade bei Diagonalreifen klar den Markt dominiert und hier auch von Wettbewerbern einen Marktanteil von beachtlichen 80 Prozent und mehr zugestanden bekommt, ist der Markt bei Radialreifen etwas komplexer. Da Apollo Vredestein Klassikreifen ausschließlich in radialer Bauweise fertigt, ist dies auch der Markt, auf dem man stark ist, so Sytze Attema gegenüber dieser Zeitschrift. Hier könne sich der Newcomer aus den Niederlanden, der – wie gesagt – erst seit den 1990er Jahren in diesem Geschäft aktiv ist, durchaus mit Michelin messen. Laut dem Head Global Produkt Management PV könnten beide Hersteller einen in etwa gleichgroßen Markt bedienen.
Händler zollen den Entwicklungen aus Enschede auch technisch großen Respekt. Dass aber Michelin auf diesem Nischenmarkt in Sachen Qualität die Maßstäbe setzt und allerorten als Marktführer gilt, entsprechende Umfragen zur „Best Brand“ gewinnt, verwundert nicht, ist der Hersteller und Vollsortimenter doch bereits seit 1889 im Geschäft und gilt auch auf allen anderen Märkten als Benchmark. Auch preislich liegen zwischen vergleichbaren Reifen beider Hersteller oftmals große Unterschiede, die sich auf bis zu 50 oder 60 Prozent belaufen können, wie Harald Möller erläutert. Dies darf aber nicht als Hinweis auf eine fehlende Entschlossenheit bei Apollo Vredestein verstanden werden. Im Gegenteil.
In den 1990er Jahren hat man sich in Enschede ganz bewusst dazu entschlossen, in das Geschäft mit Klassikreifen schrittweise einzusteigen. Dass ein entsprechender Einstieg Zeit brauchen würde und nicht über Nacht und auf ganzer Front gelingen konnte, war der damals treibenden Kraft hinter diesem Engagement auch klar: Rob Oudshoorn. Der damalige CEO des niederländischen Reifenherstellers ist selber bekennender Klassikliebhaber und hat damals das Unternehmen in eine entsprechende Richtung gelenkt.
„Wenn du dieses Geschäft machen willst, dann musst du es richtig machen“, sagt Sytze Attema gegenüber der NEUE REIFENZEITUNG. Halbherzigkeiten und Unregelmäßigkeiten bei der Versorgung mit Reifen würden die Kunden nicht besonders schätzen. Folglich werden in Enschede bei Apollo Vredestein die Klassikreifen auch vor-, also auf Lager produziert, und zwar das ganze Jahr über ohne nennenswerte saisonale Schwankungen. Die Vertriebsgesellschaften in den Ländern könnten demnach in der Regel ständig liefern, auch wenn es um besondere Raritäten geht. Beim Mitbewerber Michelin hingegen werden in der Regel erst mehrere Bestellungen abgewartet, bis einige Tausend Reifen in (Klein-)Serie gefertigt werden können und sich folglich ein Produktionslauf rechnet. Der französische Hersteller betont demnach mehr die Rolle des Fachhandels bei der Versorgung des Marktes mit Klassikreifen, die dieser als Problemlöser und erster Ansprechpartner für Besitzer von Oldtimern und Youngtimern auch wahrnimmt.
Die Produktion und der Verkauf von Klassikreifen seien durchaus ein lukratives Geschäft, findet Sytze Attema; die Erträge seien generell schon überdurchschnittlich im Vergleich zum Standard-Pkw-Reifensegment. Interessanter allerdings als die Beiträge zum Betriebsgewinn ist der Beitrag zum Image einer Marke und zur Kundenbindung, so der Head Global Produkt Management PV von Apollo Vredestein weiter. Dadurch, dass man bei Klassikreifen beinahe ausschließlich mit Enthusiasten, Liebhabern und in vielerlei Hinsicht Hochinteressierten zu tun hat, ist die Beziehung zum Kunden und deren Stabilität eine ganz andere als dort, wo der Kunden eben Reifen haben muss und nicht Reifen haben will, also auf dem ‚normalen’ Reifenmarkt.
Der Produktmanager von Apollo Vredestein warnt allerdings davor zu glauben, dass Menschen, die eine Viertelmillion Euro und mehr für einen Oldtimer bezahlen (können), nicht trotzdem beim Reifen auf den Preis achteten. Manchmal werde schon „um den Euro“ gefeilscht. Dennoch: Das Geschäft ist lukrativ, nicht zuletzt auch, weil sich das Engagement im Klassikreifensegment eben auch positiv auf das Standardreifengeschäft auswirke.
Als einer der beiden größten Marktspieler ist Apollo Vredestein natürlich bei fast allen Oldtimermessen, Ausfahrten und anderen Zusammenkünften mit eigenem Personal und einem Stand präsent – auch bei der größten Oldtimer-Messe der Welt. Die „Techno Classica“ lockte im April 193.000 Besucher nach Essen, wo der Hersteller große Teile seines „Sprint-Classic“-Klassikreifensortiments präsentierte. Auf Veranstaltungen wie dieser erreiche der Reifenhersteller eine überaus breite und dem Thema Oldtimer überaus positiv gegenüber stehende Öffentlichkeit und könne dabei einen Imagetransfer vollziehen. Dieser wird noch durch das Designthema, das Apollo Vredestein durch die Zusammenarbeit mit Italdesign Giugiaro für sein Pkw-Reifensortiment seit über einem Jahrzehnt besetzt hält, positiv unterstützt und verstärkt. Die Schlüssigkeit dieses Ansatzes erkennen auch Wettbewerber an. arno.borchers@reifenpresse.de
Die Ruhe vor dem Sturm: Auf die diesjährige „Techno Classica“ kamen 193.000 Besucher – für einen Klassikreifenhersteller wie Apollo Vredestein eine erstklassige Gelegenheit, Produkte zu präsentieren und einen Imagetransfer zum Standard-Pkw-Reifensegment zu vollziehen
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