Natur- und Synthesekautschuk ergänzen sich
In Pkw-Reifen, speziell solchen für den Sommer, hat der Synthesekautschuk den Naturkautschuk zurückgedrängt, bei Lkw-Reifen spielen Synthesekautschuke noch und auf absehbare Zeit nur eine untergeordnete Rolle. Aufmerksam auf die unterschiedlichen Vor- und Nachteile beider Materialien wurde der Verbraucher in Zusammenhang mit Winterreifen gebracht. So wird gesagt, dass ab etwa sieben Grad das Gummi des Pkw-Sommerreifens dermaßen verhärte, dass er in der kalten und dennoch noch über der Gefriergrenze liegenden Jahreszeit unbedingt gegen das winterliche Pendant gewechselt werden sollte. Dafür sind nicht zuletzt die Synthesekautschuke verantwortlich, die die Reifenhersteller von ihren Zulieferern beziehen bzw. – jedenfalls partiell wie etwa Michelin – selbst herstellen. Auch bei Lkw-Reifen gab es eine in diesem Zusammenhang passende Diskussion: Ob denn beispielsweise etwa bei Lenkachspneus nicht auch in der kalten Jahreszeit Winterspezialisten opportun seien, fragten Verbraucher(verbände). Die Antwort der Hersteller: Der Naturkautschukanteil sei dermaßen dominant in Lkw-Reifen, dass eine Verhärtung – es wird auch von „Verglasung“ gesprochen – des Gummis nicht stattfindet (wie dies etwa bei Reifen für Personenwagenreifen geschieht).
Natur- und Synthesekautschuk haben jedenfalls noch auf Jahre ihre Daseinsberechtigung. Der chemische Aufbau des natürlichen Kautschuks – abgezapft vom Gummibaum und wie Milch aussehend (Latex) – ist dermaßen ausgetüftelt und verzwickt, dass es den Chemikern dieser Welt bislang schwerfällt, die Natur zu imitieren. Eigentlich tröstlich in unserer heutigen Welt, wo doch fast Alles entschlüsselt wird. Treffend hat ein Reifenmanager vor Jahren einmal gesagt, Naturkautschuk sei mit Wein vergleichbar. Der lässt sich von der Chemieindustrie – allen Skeptikern zum Trotz – auch noch nicht 1:1 nachmachen. In der Reifenproduktion ist man übrigens auch nicht in der Lage, hier eine „Kautschuk-Spätlese“ und dort einen „Kautschuk-Riesling“ einzusetzen. Beispiel Formel-1-Reifen: Der synthetische Anteil des Kautschuks liegt bei diesen Hochgezüchteten Produkten etwa um 90 Prozent, der natürliche beträgt demnach zehn Prozent und bezieht sich auf die Seitenwand. In der Seitenwand eines Formel-1-Reifens von Pirelli kommt exakt der gleiche Naturkautschuk zum Einsatz, der auch bei Lkw-Reifen Verwendung findet. Das mag der reifentechnische Laie kaum glauben.
Mit der Einführung des Begriffes „grüner Reifen“ als besonders umweltfreundliches Produkt einher ging in den 90er Jahren der (teilweise) Ersatz des Füllstoffes Ruß durch Silica, keine Erfindung von Michelin, aber Michelin war der erste Anbieter solcher Reifen in Serie und der Treiber bei der Industrialisierung. Dabei wurde jedenfalls anfangs fast übersehen, dass auch die Chemieindustrie einen nicht unerheblichen Beitrag zum Entwicklungssprung bei Fahrzeugreifen geleistet hat. Heute werden synthetisch hergestellte Hochleistungskautschuke gemeinhin mit dem Marktführer für diese Produktgruppe Lanxess in Verbindung gebracht, der vor allem für Fortschritte bei der Rollwiderstandsoptimierung bei Reifen, aber auch für eine Verlängerung der Reifenlebensdauer und für Leistungszuwächse in sicherheitsrelevanter Hinsicht beim Reifen steht und in Leverkusen ansässig ist. Der Hinweis auf den Ort der Unternehmenszentrale sei gestattet, weil damit auch noch einmal daran erinnert wird, dass die heutige Lanxess damals noch eine Sparte des Chemiegiganten Bayer war und erst 2005 ausgegliedert wurde. Bayer hält heute keine Anteile mehr an der in den letzten Jahren außerordentlich erfolgreichen börsennotierten Lanxess AG.
Während in den Fabriken der chemischen Industrie die Kapazitäten für Synthesekautschuk relativ leicht herauf- oder heruntergefahren werden – in der Chemieindustrie beginnt die Profitabilität der Auslastung früher als in anderen Branchen, man geht von 60 Prozent plus X aus –, ist das mit den Gummibaumplantagen schon ungleich schwieriger und erklärt jedenfalls teilweise die exorbitante Preisvolatilität in der jüngeren Vergangenheit: Bei Nachfrageschwankungen für Naturkautschuk ist es eben nicht in größerem Umfang möglich, mal eben kurz die Produktion zu steigern oder herunterzufahren. Das beginnt schon damit, dass ein Kautschukbaum (Hevea brasiliensis) erst nach frühestens fünf, besser ab etwa sieben Jahren Latexmilch gibt und erst nach ungefähr zehn Jahren den maximalen Ertrag erreicht. Nach 25 Jahren macht sich das Alter des Baumes bemerkbar, er ist ausgelaugt und nach spätestens 30 Jahren völlig ausgelaugt. Wer Plantagen anlegt, muss also sehr langfristig denken, muss hochrechnen, wie der Bedarf denn möglicherweise wann ist. Alte Bestände müssen rechtzeitig durch Neuanpflanzungen ersetzt werden – am Besten sukzessive, um nicht für eine Übergangszeit völlig ohne Ware dazustehen. Natürlich wollen die „Latex-Zapfer“ in den meist wirtschaftlich unterentwickelten Regionen, in denen Gummibäume wachsen (die drei größten Produktionsländer sind Thailand, Indonesien und Malaysia), bei einem Nachfrageboom und hohen Preisen gerne liefern und neigen dann dazu, mehr als gewöhnlich zu zapfen: Das klappt auch, wird allerdings langfristig zu einem Bumerang, denn die Bäume werden über Gebühr gestresst, ihre Lebenserwartung und Leistungsfähigkeit leiden je stärker sie belastet werden.
Aktuell werden mehr Plantagen aufgebaut als aufgegeben, obwohl derzeit eine andere Pflanze, die in den gleichen Regionen ebenfalls bestens gedeiht, mehr Profit verheißt: die Ölpalme. Deren Öl spielt übrigens bei der Reifenherstellung keine Rolle, sondern dient überwiegend der Nahrungs-, Kosmetik- und Reinigungsindustrie sowie der Energiegewinnung. Bislang sind Länder wie Laos, Vietnam, Kambodscha oder China als Naturkautschukproduzenten kaum in Erscheinung getreten. Dass gerade auch dort neue Plantagen entstehen, wird zwar die Dominanz von Thailand, Indonesien und Malaysia nicht brechen, aber immerhin für eine bessere Streuung der Ressourcen sorgen. Und dass der weltgrößte Naturkautschukverbraucher China hier auch genannt wird, gibt Hoffnung, dass China den Anteil der Selbstversorgung langfristig steigern kann.
Die Naturkautschuk produzierenden Länder haben ihren eigenen Verband namens ANRPC (Association of Natural Rubber Producing Countries), dem derzeit mit Kambodscha, China, Indien, Indonesien, Malaysia, Papua-Neuguinea, Philippinen, Singapur, Sri Lanka, Thailand und Vietnam elf Länder angehören und die gut 90 Prozent der weltweiten Erzeugung repräsentieren. Die ANRPC geht bis 2018 von durchschnittlichen jährlichen Zuwachsraten in der Höhe von drei bis vier Prozent aus entsprechend von jetzt noch knapp unter zehn Millionen Tonnen jährlich auf dann mindestens (das pessimistische Szenario) zwölf bis gut 14 Millionen Tonnen Naturkautschuk. Längerfristigere Prognosen dürften äußerst spekulativ sein und sind von einer ganzen Reihe von Faktoren abhängig: Wie entwickeln sich die Naturkautschuk produzierenden Länder selber, wie ihre traditionellen Absatzmärkte, schafft es die Synthesekautschukindustrie doch, für mehr Kompensation zu sorgen, kann der Kaukasische Löwenzahn (Taraxacum koksaghyz) tatsächlich als Latexproduzent in größerem Ausmaße als Alternative entwickelt werden (mit dann auch anderen Anbaugebieten wie beispielsweise die Ukraine), hat der Klimawandel Auswirkungen auf den Anbau von Gummibäumen usw. usw.? Lauter offene Fragen. Wie das Beispiel Brasilien zeigt, kann alles ganz schnell ganz anders kommen: Wie schon der Name Hevea brasiliensis sagt, kam der Kautschukboom des 19. Jahrhunderts aus Brasilien, genauer von dem im Amazonasraum so häufig vorkommenden Gummibaum: Eine Pilzkrankheit, die sich rasch ausbreitete, verurteilte Brasilien zur relativen Bedeutungslosigkeit bei Naturkautschuk, sodass neben den elf genannten asiatischen Ländern lediglich tropische oder subtropische Länder Afrikas – genannt seien Liberia und Kongo – eine nennenswerte Bedeutung als Anbaugebiete haben.
Neben der ANRPC gibt es mit der IRSG (International Rubber Study Group, Singapur) eine weitere relevante Organisation, die sich allerdings nicht nur mit dem Naturkautschuk, sondern mit Kautschuk an sich auseinandersetzt, also auch dem synthetischen. Deren Generalsekretär Dr. Stephen V. Evans präsentierte unlängst auf der „7th International Conference International Tire Technology“ Zahlen zum Status quo des weltweiten Kautschukmarktes und Ausblicke bis zum Jahr 2020.
Im Jahre 2011 dürfte der weltweite Kautschukbedarf bei 24,6 Millionen Tonnen liegen, von denen etwa 60 Prozent auf Synthese- und der Rest auf Naturkautschuk entfallen werden. Hochgerechnet erwartet die IRSG im Jahre 2020 einen globalen Kautschukverbrauch von 35,9 Millionen Tonnen, die sich auf 16,5 Millionen Tonnen Natur- und 19,3 Millionen Tonnen Synthesekautschuk verteilen. Von den 35,9 Millionen Tonnen des Jahres 2020 entfallen nach den Berechnungen 23,2 Millionen Tonnen auf die Reifen- und 12,6 Millionen Tonnen auf die sonstige Gummiindustrie.
Die Reifenindustrie ist beim Naturkautschuk mit einem Anteil von gut drei Vierteln der ganz überragende Abnehmer. Der starke regionale Treiber beim Naturkautschukverbrauch wird China sein: Die Chinesen werden in 2020 um die 40 Prozent des weltweiten Verbrauchs auf sich vereinen; auch in Indien sowie im restlichen Asien werden die Steigerungsraten signifikant sein, jedoch insgesamt deutlich dahinter zurückbleiben. Für Europa, Nordamerika und Japan sind keine nennenswerten Steigerungsraten zu erwarten.
Dass Natur- und Synthesekautschuk gewissermaßen „zwei Welten“ sind, wird an der Verteilung des Abnehmerkreises deutlich: Von den für 2020 vorhergesagten 19,3 Millionen Tonnen Synthesekautschuk entfallen nur etwa 55 Prozent auf die Reifenindustrie, das heißt die Chemieindustrie ist deutlich weniger abhängig von der Reifenkonjunktur als die landwirtschaftliche Gummigewinnung.
Nach den Zahlen der IRSG wird sich der weltweite Erstausrüstungsbedarf an Pkw-Reifen von etwa 300 Millionen Pkw-Reifen in diesem Jahr bis 2020 auf ca. 470 Millionen Einheiten hochschrauben, der bei leichten Lkw von etwa 60 auf hundert Millionen Stück und der bei großen Nutzfahrzeugen von etwa 40 auf knapp unter 50 Millionen Reifen. Im globalen Ersatzgeschäft geht die Organisation von einer Steigerung von um die 780 Millionen Einheiten in 2011 im Pkw-Sektor bis 2020 auf mehr als 1,2 Milliarden Einheiten aus, bei leichten Nutzfahrzeugen von knapp 200 Millionen Stück auf ca. 380 Millionen und bei schweren Nutzfahrzeugen von um die 120 Millionen Reifen auf dann mehr als 200 Millionen. Insgesamt werden den internationalen Reifenmärkten jährliche Wachstumsraten von durchschnittlich knapp unter fünf Prozent bei Pkw und eher über fünf Prozent bei Nutzfahrzeugen prognostiziert.
Nicht nur diese Zahlen belegen: Auf der Erde findet ein Wandel in der Mobilität statt: Wer bislang zu Fuß ging, der will ein Fahrzeug. Wer bislang auf zwei oder drei Rädern unterwegs war, der will ein voll funktionsfähiges Auto. Die Menschen in den Megacities dieser Welt wollen versorgt sein, das werden überwiegend Nutzfahrzeuge leisten. Die Erschließung von Bodenschätzen wird forciert, dazu braucht es Fahrzeuge. Neue Industriekomplexe in jetzt noch brach liegenden Regionen werden entstehen. Was nicht heißen soll, dass es weniger landwirtschaftliche Fahrzeuge geben wird, im Gegenteil: Der Ochsenkarren wird durch den Traktor ersetzt. Um die sieben Milliarden Menschen wollen satt werden, das verlangt nach einem immer effizienter werdenden Anbau. Und immer braucht man Reifen. Das weltweite Geschäft mit Reifen wird im nächsten Jahrzehnt quantitativ stark anwachsen – weniger in unseren, sondern in den Regionen, die sich weiterentwickeln, vor allem in China. Dennoch bieten auch die hochentwickelten Länder in Europa, Japan oder Nordamerika jede Menge Chancen: Die Fahrzeuggenerationen künftiger Tage benötigen neuartige Produkte, den ganz leisen und den enorm rollwiderstandsoptimierten und dabei auch immer sicherer werdenden Reifen. Das sind Herausforderungen. China, Indien, Russland und Co. mögen in den nächsten Jahren zu Gewinnern im Reifengeschäft werden; Deutschland, USA, Japan und Co. aber sind deswegen nicht die Verlierer. detlef.vogt@reifenpresse.de
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