Der Reifenfachhandel denkt überwiegend pragmatisch
Interview mit Peter Hülzer, geschäftsführender Vorsitzender des Bundesverbandes Reifenhandel und Vulkaniseur-Handwerk, zum OLG-Urteil
NEUE REIFENZEITUNG: Das OLG Oldenburg hat die „situative Winterreifenpflicht“ als verfassungswidrig eingestuft. Wie war die spontane Reaktion des Verbandes oder von Verbandsmitgliedern darauf: freudig, verärgert, überrascht …?
Peter Hülzer: Der BRV erhielt Mitte Juli Kenntnis von dem am 9.7. beschlossenen Urteil des OLG Oldenburg zum Thema „geeignete Bereifung“. Wegen der Urlaubszeit fiel die Reaktion des Reifenfachhandels eher verhalten aus. Die Reaktionen, die ich allerdings erhielt, zeigen, dass der Reifenfachhandel überwiegend pragmatisch denkt:
„Damit musste angesichts der Tatsache, dass die Eigenschaften von Winterreifen bisher noch nicht gesetzlich oder international präzisiert sind, gerechnet werden“
oder
„Jetzt sind die Hersteller dringend gefordert, den Gesetzgeber dabei zu unterstützen, schnellstmöglich eine juristisch wasserdichte und nachprüfbare Definition für Winterreifen zu schaffen“,
so lautete der Tenor der mir zugegangenen Händlerresonanzen.
NEUE REIFENZEITUNG: Sollte man nicht dem Oberlandesgericht in Oldenburg dankbar sein? Denn die bisherige schwammige Formulierung ist ja allgemein schon kritisiert worden. Jetzt ist doch eine viel eindeutigere Ansage des Gesetzgebers gefordert.
Peter Hülzer: So kann man es sehen, muss man aber nicht. Mich hat überrascht, dass die Reifenhersteller angesichts der bekannten fehlenden gesetzlichen Präzisierung und der damit verbundenen Gefahr, ein solches OLG-Urteil hinnehmen zu müssen, vier Jahre (jedenfalls nach meiner Wahrnehmung) nichts unternommen haben, um die gesetzliche Verankerung der M+S-Eigenschaften voranzutreiben, obwohl im Lenkungsausschuss der „Initiative PRO Winterreifen“ das Thema permanent auf der Agenda stand.
Eindeutig: Das Urteil hätte uns erspart werden können, wenn sich der „geeignete Bereifungspassus“ in der StVO auf eine definitorische Größe hätte stützen können. Denn (lt. Urteilsbegründung): „Der Verordnungsgeber hätte die mit der Neuregelung des § 2 Abs. 3 a, S. 1 und 2 StVO verfolgten Ziele durch eine eindeutige Norm erreichen können.“
Auch ich war kein Sympathisant der StVO-Formulierung. Die Branche hat es dann aber in den vergangenen vier Jahren ganz gut hinbekommen, die Formulierung in ihrem Sinne auszulegen und für sich zu nutzen. Durch die permanente Presseberichterstattung zu diesem Thema kam es zu einer gewissen Verankerung des Themas im Gedächtnis des Verbrauchers. Durch das OLG-Urteil könnte es jetzt wieder zu gegensätzlichen Entwicklungen kommen nach dem Motto: „Ich habe mit Sommerreifen im Winter nichts zu befürchten.“
NEUE REIFENZEITUNG: Erwartet der BRV, dass das Urteil ganz konkrete Auswirkungen auf das kommende Winterreifengeschäft der Saison 2010/2011 haben wird? Also dass beispielsweise mehr als nur eine kleine Gruppe von Verbrauchern unter Verweis auf das Urteil wieder leichtsinniger werden und auf die Montage von Winterreifen verzichten könnte.
Peter Hülzer: Ich rechne eher damit, dass sich die Auswirkungen auf das kommende Winterreifengeschäft in Grenzen halten werden. Tatsache ist, dass wir eine M+S-Umrüstquote von ca. 80 Prozent in Deutschland haben. Die überzeugenden Produkteigenschaften von M+S-Reifen hat der Verbraucher in den letzten Jahren also mehrheitlich „erfahren“. Der Sicherheitsgewinn für jeden Automobilisten, der M+S-Reifen fährt, ist unübersehbar.
Bezüglich der Auswirkungen hängt viel davon ab, wie die Medien im Zusammenhang mit der Berichterstattung über M+S-Reifen zu Beginn der Saison über das OLG-Urteil berichten werden. Schlagzeilen wie „Situative Winterreifenpflicht aufgehoben“ könnten zu Verbraucherirritationen führen, die Diskussionen am Point of Sale auslösen und niemandem dienen. Hinzu kommt, dass häufig ja nur die Knute eines Bußgeldes bzw. die Belastung des Punktekontos in Flensburg die Menschen zu vernünftigen Verhaltensweisen zwingt. Und diese Knute existiert angesichts des OLG-Urteils eben nicht mehr.
NEUE REIFENZEITUNG: Beim so genannten Reifen-Labelling gelingt es den Reifenherstellern offensichtlich, Standards zu definieren. Warum ist das bei mit M+S gekennzeichneten bzw. dem Schneeflockensymbol versehenen Reifen aus Ihrer Sicht so schwierig?
Peter Hülzer: Bitte richten Sie diese Frage an Herrn Peter Sponagel, wdk, der sich meines Wissens sehr intensiv um das Thema „Standarddefinition“ bemüht. Meines Wissens bis zur Stunde ohne den gewünschten Erfolg.
NEUE REIFENZEITUNG: Würde der BRV eine glasklar definierte Winterreifenpflicht begrüßen, die eine hundertprozentige Umrüstquote nach sich ziehen würde? Oder wäre die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers dadurch zu sehr beschnitten?
Peter Hülzer: Die abgestimmte Politik der „Initiative PRO Winterreifen“ ging in den vergangenen Jahren eindeutig in die Richtung, eine „glasklar definierte Winterreifenpflicht“ vom Gesetzgeber nicht zu fordern, sondern auf die Argumentationskraft der Branche und die Vernunft des Autofahrers bezüglich M+S-Reifen zu setzen. Meines Erachtens war dies richtig, wie die stetig gestiegene Umrüstquote im letzten Jahrzehnt zeigt. Des Weiteren erscheinen mir in diesem Zusammenhang noch zwei Aspekte relevant:
a) Ich halte es angesichts der Gesetzesflut, die sowohl aus Brüssel als auch Berlin auf Verbraucher und Unternehmer einwirkt, nicht für vertretbar, den mündigen Bürger mit „glasklaren Definitionen“ weiter zu gängeln.
b) Eine Winterreifenpflicht – z. B. von Oktober bis Ostern, wie sie unsere Kollegen in Österreich seit einiger Zeit haben – birgt bezüglich der Bewältigung des Kundenansturms auch Nachteile in sich. Eine stichtagsbezogene Pflicht, Winterreifen zu fahren, wird den Reifenfachhandel über Gebühr strapazieren. Entzerrungsmaßnahmen, die vom Reifenfachhandel hier und da erfolgreich praktiziert werden, wirken dann kaum noch.
NEUE REIFENZEITUNG: Müsste nicht eine Mindestprofiltiefe Bestandteil einer Verordnung hinsichtlich winterlicher Bereifung sein?
Peter Hülzer: Zu begrüßen wäre dies. Ich bin mir jedoch unsicher, ob insbesondere die südeuropäischen Länder eine solche Initiative Brüssels, wenn sie denn käme, mittragen würden. Eine rein deutsche Regelung hätte angesichts der Tatsache, dass wir Transitland sind, wohl keinen Sinn.
NEUE REIFENZEITUNG: Auch eine „Sommerreifenpflicht“ würde der Sicherheit der Autofahrer dienen, wenn auch in geringerem Ausmaß als bei den winterlichen Pendants. Aber sollte der Verbraucher nicht das Recht haben, einen Reifen bis zum Erreichen der Mindestprofiltiefe zu fahren, also das Restprofil eines Winterreifens im Sommer bis zu 1,6 Millimeter zu nutzen?
Peter Hülzer: Sie konstatieren, dass eine „Sommerreifenpflicht“ der Sicherheit der Autofahrer diene. Aus hinlänglich bekannten technischen Gründen schließt dies aber generell und eindeutig
a) das Fahren von Winterreifen im Sommer
b) das Herunterfahren von Reifen bis zum Erreichen der Mindestprofiltiefe aus.
Wenn ein bekannter Reifenhersteller das Herunterfahren von Sommerreifen bis zur Mindestprofiltiefe aus ökologischen Gründen für sinnvoll erachtet, so ist dies weder die Position des BRV noch die der „Initiative Reifenqualität“. Hierzu liegen eindeutige Beschlüsse der Gremien vor.
NEUE REIFENZEITUNG: Abgesehen vom OLG-Urteil setzt sich der Pkw-Ganzjahresreifen im deutschen Markt immer mehr durch und verlässt das Nischendasein. Ist es aus Verbandssicht denn richtig, diese „dritte Reifengattung“ rechtlich wie einen Winterreifen zu behandeln?
Peter Hülzer: Wenn der Ganzjahresreifen die noch zu definierenden Festlegungen der physischen Merkmale und Leistungsanforderungen eines M+S-Reifens erfüllt, sollte er rechtlich wie ein Winterreifen gewertet werden. Darüber sollten aber Experten und Gesetzgeber auf der Grundlage eines Normungsverfahrens befinden.
detlef.vogt@reifenpresse.de
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