Deutsche Umrüstquoten haben sich den Nachbarländern angepasst
In den 80ern und selbst bis weit in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein waren die Umrüstquoten von Sommer- auf Winterreifen hierzulande noch recht spärlich. In den beiden Alpenländern Österreich und Schweiz war man den Deutschen da meilenweit voraus. Anfang dieses Jahrhunderts begann die Aufholjagd, so um 2006 sind erstmals mehr Winter- als Sommerreifen im deutschen Ersatzgeschäft verkauft worden, jedenfalls wenn man nach den Zahlen der Verbände – BRV/Bundesverband Reifenhandel und Vulkaniseur-Handwerk sowie WdK/Wirtschaftsverband der deutschen Kautschukindustrie – geht. Wobei Verbraucheruntersuchungen unabhängig von den offiziellen Absatzzahlen der statistisch erfassten Reifenhersteller (früher via WdK, jetzt via Europool) schon immer zu höheren Zahlen geführt hatten als die rechnerisch von WdK und BRV ermittelten.
Die Schweizer hatten traditionell eine Umrüstquote von um die 70 Prozent, übertroffen wurden sie aber von den Österreichern, die es auf um die 80 Prozent geschafft haben. Die „situative Winterreifenpflicht“, die am 1. Mai 2006 in Kraft getreten war, hatte in Deutschland für reichlich Unsicherheit, auch in rechtlicher Hinsicht, gesorgt. Auf der einen Seite muss ganz klar gesagt werden, dass es eine unbedingte Winterreifenpflicht nicht gibt, auf der anderen Seite waren Reifenhersteller und -handel nicht unglücklich, dass sich in den Köpfen der meisten Verbraucher eben diese vermeintliche Pflicht dennoch festsetzte. Die Konsumenten waren der Ansicht – und kommen damit ja auch allen Sicherheitskriterien entgegen –, dass sie umrüsten mussten. Die Umrüstquote schoss in die Höhe, Fragen ob die Kennzeichnung mit M+S, das Schneeflockensymbol oder Ganzjahresreifen gleich zu bewerten seien oder doch unterschiedlich beschäftigten die Branche und tun dies noch heute. Den meisten Verbrauchern wird solch eine Diskussion ziemlich egal sein, sie werden sie als akademisch oder spitzfindig, jedenfalls als für sie nicht nachvollziehbar oder – freundlich betrachtet – Expertengeplänkel abtun.
Wie auch immer, die Umrüstquote in deutschen Landen kann sich jetzt mit der in den beiden Alpenländern messen und natürlich auch mit bergigen Regionen beispielsweise in Frankreich oder in Norditalien. Die nordischen Länder Finnland, Schweden und Norwegen seien einmal außen vor gelassen, dort hatte man schon zuvor Winterreifentypen montiert, die mit den mitteleuropäischen Produkten nicht sehr viel gemeinsam hatten.
Die Quote stieg, und das mit Produkten, die ohnehin eine höhere Marge verheißen als Sommerreifen. Auch tat der Branche gut, dass die bis weit in die 90er Jahre hinein bedeutsamen Winterreifen mit dem Geschwindigkeitsindex Q für 160 km/h sukzessive verschwanden und inzwischen keine Bedeutung mehr haben, mit ihnen übrigens auch die mit der Aufschrift S für 180 km/h. „T“ – also bis 190 km/h – ist das überragende Segment, „H“ bis 210 km/h legt zu, erst „V“ (bis 240 km/h) und dann „W“ (bis 270 km/h) auch. Noch wenige Jahre vorher hätten die Reifentechniker und auch manche Marketingexperten sich gegen die Inflation der Speedindices gewehrt. Techniker sprachen bei Hochgeschwindigkeitswinterreifen von einer Quadratur des Kreises, die nicht möglich sei, Marketingexperten sahen schon massenweise abfliegende Luxuskarossen an den Autobahnen und fürchteten, das Pflänzchen steigender Umrüstquote könne durch diesen Trend schnell wieder zertreten werden. Viele Reifentechniker und die Marketingdependancen einiger Reifenhersteller waren sich ausnahmsweise einmal einig: Diesem Unsinn musste Einhalt geboten werden! Nokian hat’s dann vorgemacht und aller Kritik zum Trotz einen Winterreifen mit Speedindex „W“ präsentiert, den Durchbruch aber hat wohl am ehesten Porsche bewirkt: Die Zuffenhausener Sportwagenschmiede hat ihren Reifenzulieferern ziemlich unmissverständlich bedeutet, was von ihnen erwartet wird: Hochgeschwindigkeitswinterreifen. Die Kollegen von beispielsweise Audi oder BMW haben sich das gerne angesehen, freuten sich still und heimlich über die Vorreiter – und konnten dann nachziehen, als weder ein empörter Schrei von Verbrauchern erschall noch die Reifenhersteller kapitulierten, weil zu viele winterliche Kriterien auf der Strecke geblieben seien.
Auch das früher einmal recht bedeutsame Segment der runderneuerten Pkw-Winterreifen – um den Antipoden der Hochgeschwindigkeitswinterreifen zu nennen – wurde erst zur Nische und ist inzwischen nur noch mit der Lupe zu erkennen, weil traditionell bedeutsame Anbieter/Hersteller wie Gummi-Mayer oder Reiff trotz Investitionen in diesen Bereich einfach nicht mehr mithalten konnten. In Deutschland fristet die Runderneuerung von Pkw-Winterreifen ein karges Dasein, Reifen Ihle aus Günzburg ist so etwas wie der „letzte Mohikaner“. Die vermeintlich wettbewerbsfähigen britischen Pkw-Reifenrunderneuerer hat es dahingerafft, in Baumärkten sichtet man gelegentlich noch Reifen dieser Spezies, zum Beispiel von Marangoni.
Die deutschen Verbraucher der 80er oder 90er Jahre sollten nicht über einen Kamm geschoren und als Umrüstmuffel klassifiziert werden. Im Osten der Republik – vor allem im Bundesland Sachsen – setzten viele Konsumenten schon seit Jahren wie selbstverständlich Winterreifen ein. Umrüstquoten von an die 70 Prozent überraschten hier keinen, erst recht nicht wenn er aus der Reifenindustrie kommt und seine berufliche Biografie bei Pneumant begann. Die Technikabteilungen der westlichen Reifenhersteller haben sich schon in den 80er Jahren gefragt: Wie machen die Pneumant-Ingenieure das bloß angesichts eher bescheidener Entwicklungsmittel? Wer aus der damaligen DDR importierte Winterreifen fuhr, hatte durchaus ein Produkt, das sich hinsichtlich typischer Winterreifeneigenschaften nicht wesentlich von den Goodyears, Contis und Pirellis unterschied.
Und natürlich gab es auch im Westen der Republik „Winterreifennester“, zuallererst seien die Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg genannt mit Umrüstquoten ebenfalls in Sphären von 70 Prozent. Darüber hinaus gab und gibt es Regionen, in denen man in der kalten Jahreszeit wenigstens an einigen Tagen ohne Winterreifen schlicht aufgeschmissen ist: Man denke ans Sauerland, an den Westerwald, an den Taunus oder den Harz. Wo es hierzulande bergig ist, wo Steigungen das Herauf- oder Herabfahren bei Eis und Schnee zu einem Abenteuer werden lassen können, da wissen Reifenhändler: Ohne Winterreifen geht es nicht!
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