“Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben”
Die 23. ordentliche Mitgliederversammlung hielt der Bundesverband Reifenhandel und Vulkaniseur-Handwerk e.V. Mitte Juni in Bonn an geschichtsträchtiger Stelle ab: dem Wasserwerk, das dem Deutschen Bundestag einige wenige Jahre von 1986 bis 1992 als provisorischer Sitz diente, während der eigentliche Plenarsaal umgebaut wurde.
Schon am Vortag waren die meisten der knapp 200 Teilnehmer angereist. Einerseits wegen diverser Versammlungen, z.B. bezüglich Pneu Service, andererseits lockte auch ein vielversprechendes Abendprogramm in das Gästehaus der Bundesregierung auf dem Petersberg (Siebengebirge) bei Königswinter.
Seinen Mitgliedern hatte Peter Hülzer, geschäftsführender Vorsitzender des Verbandes, zum Verlauf des Vorjahres eine, wie er es ausdrückte, „magere Branchenbilanz“ vorzulegen. So ging der Absatz von Pkw-Winterreifen um 3,4 Prozent auf 21,35 Millionen Reifen zurück, der Absatz von Pkw-Sommerreifen erlebte einen Rückgang von vier Prozent auf 23,5 Millionen Stück, sodass der Markt mit abgesetzten 44,85 Millionen Pkw-Reifen gegenüber 2007 einen Rückgang von 3,7 Prozent zu verkraften hatte. Positiv war anzumerken, dass eine Lagerbereinigung stattfinden konnte. Der Anpassungsdruck auf den Handel wird dadurch dramatisch erhöht, dass auch im Produktbereich Nutzfahrzeugreifen erhebliche Absatzrückgänge zu verkraften waren. So konnten nur noch 1,81 Lkw-Neureifen (minus 14,1 Prozent) und 1,18 Millionen runderneuerte Lkw-Reifen (minus 15,1 Prozent) an Kunden ausgeliefert werden.
Ohne Wenn und Aber: Das Vorjahr lief schlechter als erwartet, die Finanz- und Wirtschaftskrise wirkt sehr negativ auf Konsumklima und Kaufkraft der privaten und gewerblichen Kundschaft der Händler. Gestiegene Kosten, so für Energie und Kraftstoff und auch Mautgebühren, belasten das Klima. Der Handel ist zu deutlichen Kostensenkungsmaßnahmen gezwungen. Das wird für sogenannte Pkw-Reifenhändler machbar sein, wie aber die Nutzfahrzeugreifenspezialisten den sich im laufenden Jahr fortsetzenden Absatzverlusten begegnen sollen, ist weitgehend unklar. Diese Händler müssen und wollen ihr qualifiziertes Personal auch in schwachen Zeiten so lang wie nur eben möglich halten. Es wäre schnell und relativ einfach, Kündigungen auszusprechen, aber wenn dann das Geschäft wieder anzieht, kann man die Nutzfahrzeugreifenspezialisten nicht auf Knopfdruck finden und zurückholen. Nach 2007 und 2008 wird 2009 als drittes Rezessionsjahr in Folge in die Geschichte des deutschen Reifenfachhandels eingehen. Zwar sind Prognosen in der jetzigen Zeit sehr schwierig zu erstellen, doch alle befragten Fachleute, Speditionen und deren Fachverbände sind sehr kritisch bzw. sehen, deutlich formuliert, schwarz. Mit dem Ausscheiden von bis zu 5.000 Unternehmen des Transportgewerbes wird gerechnet, fast jede zweite Spedition hat Kurzarbeit beantragt, und in 70 Prozent aller Firmen sind Lastkraftwagen derzeit abgemeldet. Ein Minus von 15 Prozent im Nutzfahrzeugreifenbereich sieht Hülzer als „eine von Hoffnung getragene“ Prognose an und ist doch offen genug zuzugeben, dass das Minus vermutlich eher bei 20 Prozent und noch darüber liegen wird. Der BRV wartet auf Signale aus der Politik, insbesondere wäre eine rückwirkende Aussetzung der Mauterhöhung sehr hilfreich, und der Verband bringt auch nochmals eine temporäre Mautkürzung bei Neuanschaffung eines EEV-Fahrzeugs ins Gespräch.
Das Pkw-Segment versprüht auch in diesem Jahr keinerlei Hoffnungen. Galt bis einschließlich April noch eine relativ gute Prognose, so hat ein sehr schwacher Mai ernüchternd gewirkt. Möglicherweise lief hingegen der Juni schon wieder besser als erwartet. Dazu fehlt aber noch ein genauerer Überblick, der sich auf Daten und Fakten stützen könnte.
Die Abwrackprämie könnte, so Hülzer, eher „kontraproduktiv“ gewesen sein, weil sich dadurch ein erneuter Reifenbedarf in die Zukunft verlagert. Es kommt hinzu, dass der Begriff Abwrackprämie kaum Musik in den Ohren von Betrieben ist, die neben dem Reifengeschäft einen umfangreichen Autoservice bieten. Die anfälligsten Autos sind vom Markt „gewrackt“ und die neu erstandenen Wagen brauchen noch keinen Service noch neue Reifen.
Doch es gibt auch positive Aspekte durch die Abwrackprämie zu vermelden. So könnte es im Wintergeschäft zu Sonderverkäufen kommen; welcher Fahrer eines neuen Fahrzeugs will es schon bei zu erwartendem Eis und Schnee weiter auf Sommerreifen versuchen? Weiteres Wachstum versprechen auch die Segmente 4×4- und Runflat-Reifen sowie anspruchsvolle Reifen für die oberen Geschwindigkeitsklassen. Dabei handelt es sich um Reifen, die besonderer Sorgfalt bei der Montage bedürfen, die eben nicht jeder Hinterhof erbringen kann. Hülzer streifte auch noch einmal die Weiterbildungsmöglichkeiten, die vom Verband erarbeitet worden sind, und zumindest Zwischentöne in seinem Vortrag lassen Zweifel zu, dass der Handel in gebührender Zahl von dieser Weiterqualifizierung Gebrauch macht. In einer jetzt bereits als überbesetzt geltenden Branche, die im Wettbewerb z.B. mit Autohäusern steht, kann sich nur der qualifizierte Anbieter profilieren und erfolgreich bleiben. Und unter diesem Gesichtspunkt ist der Verband heutzutage in der Lage, seinen Mitgliedern Ausrichtung und Hilfen aller Art geben zu können.
Dass zu Euphorie kein Anlass besteht, ist jedermann klar. Allerdings ist jedes Spiel auch erst dann vorbei, wenn es abgepfiffen ist. Wer im Spiel ist, kann gewinnen. Reifenhändler müssen keine Angsthasen sein, sollten es nicht sein. Hülzer zitierte seinen österreichischen Kollegen: „Zu Tode gefürchtet, ist auch gestorben.“
Hans-Jürgen Drechsler, BRV-Geschäftsführer, ist in der Regel ein ziemlich ruhiger Mann. Wenn er aber seine Themen hat und diese präsentiert, kann er den trockensten Stoff noch leidenschaftlich vortragen. Drechsler brachte die Mitglieder auf den neuesten Stand hinsichtlich der aktuellen Einflussnahme der Politik auf die Reifenentwicklung, berichtete über Richtlinien, Verordnungen etc. über Typengenehmigungsverfahren, Reifenlabeling. Der lehrreiche und interessante Vortrag ist in der Kürze der Zeit hier einfach nicht wiederzugeben, aber es empfiehlt sich auf jeden Fall, diesen bei der Geschäftsstelle anzufordern und nachzulesen.
Ein echtes Highlight hätte die Diskussionsrunde mit namhaften Teilnehmern werden können. So berichtete der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU, Wolfgang Bosbach, darüber, dass und wie politische Einflussnahme vorgenommen werden soll. Allein rund 2.000 Berufs- und Branchenverbände gebe es in Berlin, und die Politiker hätten mit rund 8.000 Interessensvertretern zu tun, die natürlich „die Politik“ nur beraten wollten, dabei aber ihr eigenes höchst persönliches Ziel nie aus den Augen verlören. Bosbach versuchte, eine Bewertung der Maßnahmen der Bundesregierung zur Überwindung der Krise vorzunehmen. Er wolle keine Parteipropaganda betreiben, aber er komme von „den Guten“. Dies ließ den am linken Flügel der SPD politisch angesiedelten Bremer Hochschulprofessor Rudolf Hickel nun gar nicht ruhen, er komme jedenfalls von „den Besseren“. Hickel beschrieb den Status quo der Wirtschafts- und Finanzmarktkrise und wollte „Wege aus der Krise“ aufzeigen. Dr. Hartmut Wöhler, bei Continental zuständig für den gesamten europäischen Reifenersatzmarkt Pkw, zeigte in seinem Vortrag auf, wie die wirtschaftliche Delle zu überwinden sei. Der Reifenfachhandel jedenfalls bleibt vorrangiger Absatzmittler, über den Reifenhändler laufen die Kaufentscheidungen der Endverbraucher, „Reifenkauf ist Musskauf und kein Lustkauf.“
Von großem Interesse sicher auch der Vortrag von Professor Bratzel, der sich als Autoexperte in den letzten Jahren einen Namen zu erarbeiten wusste. Für Bratzel ist klar, dass es auch ohne Wirtschaftskrise zu einer Absatzkrise in Europa kommen würde. Die Automobilwirtschaft befinde sich in einer Strukturkrise, die Finanzkrise sorge nun lediglich für eine Beschleunigung des Wandels.
Sich selbst und die Zuhörerschaft überforderte der Unternehmensberater Ulrich Eggert mit seinem Vortrag zur „Auswirkung der Finanzkrise auf den Facheinzelhandel in Deutschland und Maßnahmeempfehlungen“. Eggert wollte zu viel auf einmal, nahm den anderen Referenten Zeit ab, obwohl er sich redlich bemühte, sein vollgestopftes Programm schnellstmöglich herunterzuleiern. Schade, Konzentration auf wesentliche Punkte wäre wohl besser gewesen. Man hätte sich zum Abschluss eine etwas eingehendere Diskussion gewünscht, die aber aus Zeitgründen ins Wasser fallen musste.
Insgesamt ist es dem Verband unter Hülzers Führung gelungen, ein wertvolles Programm zu erstellen und abzuspulen. Dass dabei auch die Nerven gelegentlich überstrapaziert werden können, lässt sich an zwei Beispielen festmachen.
Eine Münchner Händlerin, die einen bekannten Reifenhandel mit mehreren Filialen gemeinsam mit ihrem Bruder vor vielen Jahren geerbt hat, gab nun Einblick in einen Familienkrieg. Was durch eine einfache Anfrage bei der Geschäftsstelle zu erfahren gewesen wäre, musste aber vor allen Leuten abgespult werden. Bezahlt der Verband die Reisekosten seiner ehrenamtlichen Mitarbeiter? Bezahlt er Spesen? Wie hoch? Sitzungsgeld? Warum wird es dem ehrenamtlichen Mitglied ausgehändigt und nicht dem Unternehmen, von dem das Mitglied kommt. Also, es wurde prächtig insinuiert, der Bruder rechne wohl doppelt ab, stopfe sich die Taschen voll auf Kosten der anderen Familienhälfte. Das war alles äußerst unfein. Doch der Schuss ging nach hinten los. Der Bruder wurde nicht vorgeführt, das erreichte die Dame für sich selber dafür umso prächtiger. Von Verständnislosigkeit bis hin zur klaren Verachtung der Dame reichte das Bewertungsspektrum. Und elegant höflich hatte sie von Peter Hülzer die erbetenen Antworten bekommen.
Ein ebenfalls nicht unbekannter Reifenhändler aus Braunschweig, bekannt dafür, Dinge problematisieren zu können, schaffte es nicht mal, sein Anliegen in eine Frage zu kleiden. Die Zuhörer wussten nach seinem ellenlangen Statement, wie schwer eine 10-Euro-Note ist, wie schwer dann eine Milliarde Euro in dieser Geldnote aufzuwiegen ist, wie viele Lkw man für den Transport benötigt und viele andere hoch spannende Dinge mehr. Nur, was der allseits bekannte Dichter, hier der kluge Reifenhändler, uns damit sagen wollte, blieb offen. Dafür bekamen Gäste des BRV von ihm noch einen Fußtritt. Professor Hickel wurde in die Nähe des Kommunisten gerückt, verbunden mit der Anregung an den Verband, die Honorare zu kürzen, da Hickel und Bosbach „vorzeitig“ bereits gegangen seien. Tatsächlich aber war die Diskussion aus dem Zeitrahmen herausgefallen, aus wichtigen Gründen. Allerdings hatten weder Bosbach noch Hickel dies zu verantworten.
Schreiben Sie einen Kommentar
An Diskussionen teilnehmenHinterlassen Sie uns einen Kommentar!