Etwas unternehmen mit Michelin
In der Charta „Leistung und Verantwortung“ des Reifenkonzerns Michelin wird der Umgang mit dem gesellschaftlichen Umfeld folgendermaßen beschrieben: „Wir betrachten es als unsere Verantwortung, an der wirtschaftlichen Entwicklung der Regionen, in denen wir Standorte unterhalten, mitzuwirken und im Rahmen des Möglichen zur Schaffung von Arbeitsplätzen außerhalb unseres Unternehmens beizutragen. Zu diesem Zweck stellen wir Fachwissen zur Verfügung und bieten gegebenenfalls auch finanzielle Unterstützung an.“ Hier ist auch gleich anzufügen, dass die gesamte bei Michelin so bezeichnete Charta die Handschrift des 2006 im Alter von 43 Jahren tödlich verunglückten Konzernchefs Edouard Michelin trägt. Ihm kam es ganz besonders darauf an, nicht nur wohlklingende Sätze zu produzieren, sondern das zu leben, selbst auch vorzuleben, wozu man sich verpflichtet sieht.
Die hier zu beschreibenden Leistungen der im Jahr 2003 gegründeten Konzerntochter „Michelin Development“ haben gerade in der jetzigen, durch die Finanz- und Wirtschaftskrise geprägten Zeit an Interesse und Wert gewonnen. Michelin leistet inzwischen Beiträge zur regionalen Wirtschaftsförderung in neun Ländern und 38 Regionen. Das Thema wurde aktuell dadurch, dass die Belegschaftszahlen an den Michelin-Standorten Jahr für Jahr ausgelöst durch permanente Automatisierungs- und Rationalisierungszwänge mehr oder weniger stark zurückgehen und das trotz Wachstums. Um neuen Aktivitäten zum Durchbruch zu verhelfen, hat Michelin sich vor Jahren nun schon entschieden, Unternehmern im Umkreis von Michelin-Fabriken mit Rat und Tat, aber auch mit Finanzierungshilfen zur Seite zu stehen.
Mit Hans Fischer führt ein Mann diese Michelin-Tochtergesellschaft, der dem deutschen Reifenfachhandel seit fast drei Jahrzehnten als Berater bestens bekannt und verbunden ist. Fischer weiß, wie Mittelständler und Inhaber kleinerer Unternehmen „ticken“. Leider ist es aber, so viel ist bekannt, dann doch nur eine kurze Durchgangsstation geworden, denn er wird in wenigen Wochen auf eigenen Wunsch aus dem Unternehmen ausscheiden. Nicht zuletzt haben ihn gesundheitliche Gründe zu diesem Schritt veranlasst. Ohne den Druck aus den Tagesgeschäften wird er aber wohl noch einer ganzen Reihe von Hilfe suchenden Handelsunternehmen auch zukünftig zur Seite stehen.
Fischer sieht die Dinge sehr pragmatisch. Michelin Development suche keinen Daniel Düsentrieb, sei auch nicht erpicht darauf, Innovationen und Erfindungen zu fördern, vielmehr sei der Ansatz viel einfacher: Überall dort, wo es um konkrete Arbeitsplatzschaffungen geht, setzt man an. Das Michelin-Programm richtet sich dabei nicht nur an Firmengründer, sondern gleichermaßen an kleine und mittlere Unternehmen aus der Region – damit ist ein Umkreis von etwa 50 Kilometern um eine Michelin-Fabrik gemeint –, die expandieren und dabei Arbeitsplätze schaffen wollen. Und das Angebot beinhaltet praktische Nachbarschaftshilfe und zinsgünstige Darlehen. Michelin begleitet damit echte Wagnisse und geht selbst das Risiko ein, von dem ungesicherten Darlehen nichts wiederzusehen.
Die Darlehen werden aus rechtlichen Gründen über ein Partnerinstitut vergeben. Dabei ist minimale Grundbedingung für die Förderung, dass der Unternehmer innerhalb von drei Jahren mindestens zwei Vollzeitarbeitsplätze schafft. Das auf ungesicherter Basis gewährte Darlehen ist in Abhängigkeit von der Anzahl zu schaffender Arbeitsplätze auf 100.000 Euro begrenzt und sollte maximal ein Drittel des Fremdfinanzierungsvolumens ausmachen. Der attraktive Zinssatz von 2,5 Prozent wird durch Subvention des Reifenkonzerns erst möglich. Im Übrigen hat das Darlehen eine Laufzeit von fünf Jahren, wobei die ersten sechs Monate tilgungsfrei sind. Und es ist wesentlich noch einmal darauf hinzuweisen, dass die Michelin-Finanzierung da ergänzend eingreift, wo Kreditinstitute üblicherweise aufhören. Banken übernehmen nun mal keine ungesicherten Risiken. Das ist die eine Seite der Medaille.
Die andere Seite der Medaille ist schwerer zu beziffern, aber sie kann im günstigsten Fall weitaus wertvoller als Geld sein, denn Michelin gewährt technische Hilfe und Erfahrungsaustausch. Mit Hilfe erfahrener Mitarbeiter stellt Michelin technische und personelle Ressourcen in Form unverbindlicher Diagnosen und Ratschläge bereit und unterstützt auch in betriebswirtschaftlichen Fragen, so weit dies im Einklang mit den Steuerberatungs- und Rechtsberatungsgesetzen steht. So spielt zum Beispiel die Frage der Zertifizierung vorzugsweise im Umweltbereich eine immer größere Rolle. Bei der Abarbeitung dieses Verfahrens können die Michelin-Experten ihre Erfahrungen weitergeben und kleinen Unternehmern schnell und unbürokratisch helfen, die es allein gar nicht zu bewerkstelligen wüssten. Gleiches gilt für Fragen der Arbeitsvorbereitung oder bei der Lösung technischer Probleme. Oder Qualitätsmanagement im Allgemeinen. Wenn Probleme mit Maschinen auftreten, kann Michelin auf das Know-how seiner Maschinenbauer zurückgreifen.
Allerdings, das verschweigt Hans Fischer auch nicht, ist die Bereitschaft, sich umfassenden Rat zu holen, immer noch nicht sehr stark ausgeprägt. Das könnte einerseits daran liegen, dass sich Unternehmer grundsätzlich nur schwer eingestehen, etwas nicht gut genug zu können, und ist andererseits sicher auch mit der Angst begründet, zu viele Interna nach außen zu tragen, sich sozusagen in die Karten schauen zu lassen. Umso wichtiger ist es für Michelin Development, all denen, die sich Hilfe und Unterstützung versprechen, immer wieder klar und deutlich zu machen, dass der Reifenkonzern nichts anderes als ein guter Nachbar sein und bleiben will und keine eigenen Interessen verfolgt.
Michelin Development kennt keine Favoriten, beurteilt auch nicht die Wertigkeit einer Investition. Es ist vollkommen gleichgültig, ob sich ein Handwerker um die Hilfen bemüht oder ein Unternehmer mit neuem, sehr vielversprechendem Produkt. Es geht nicht um Arbeitsplätze, die nach einer langen Entwicklungs- und Planungsphase irgendwann einmal geschaffen werden könnten, sondern man konzentriert sich auf die einfachen Dinge, auf das, was machbar ist und auch sofort umgesetzt werden kann. Arbeitsplätze können nicht warten, es ist witzlos, etwa so etwas wie eine Warteliste für Arbeitsplätze erstellen zu wollen. Und so ist es auch kein Wunder, dass Mittel und Hilfen in unterschiedlichste Branchen geflossen sind, in Medizintechnik und Maschinenbau, in Holzverarbeitung oder Fleischverarbeitung und anderes mehr.
Die Frage drängt sich fast auf, ob es sich bei Michelin Development um so etwas wie ein modernes Feld von Social Sponsoring handeln könnte. Das aber wäre zu kurz gedacht. Die Idee, den Reifenkonzern Michelin zu einem guten Nachbarn zu machen, ist schon älter und geht auf das Jahr 1984 zurück. Nach einer beispiellosen Expansionsphase dank des Siegeszugs des Stahlgürtelreifens um die Welt, war Michelin zu gewaltigen Restrukturierungen gezwungen. Am Stammsitz in Clermont-Ferrand verloren letztlich weit mehr als 10.000 Menschen ihre Jobs, was zu einer großen Not in der Auvergne führte. Da setzte Michelin bereits an und bemühte sich, mit anderen neue Jobs zu schaffen. Was heute aber „in geordneten Bahnen“ abläuft, war damals auf eine Vielzahl von Einzelaktivitäten beschränkt. Ausgehend von diesen gruseligen Erfahrungen war Michelin jedenfalls sensibilisiert, auf ein besseres Umfeld zu achten bzw. an dessen Schaffung so aktiv wie möglich mitzuarbeiten. Es wird immer wieder an Standorten von Michelin-Fabriken zu Anpassungen kommen. Diese sind nur möglich ohne große Verwerfungen zu hinterlassen, wenn es ein gutes Umfeld gibt.
Als ein weiteres Beispiel für gelebte Verantwortung kann das Projekt Ouru Verde in Salvador/Bahia, Brasilien, gesehen werden. Statt die unrentabel gewordene Kautschukplantage einfach aufzugeben, haben viele Michelin-Mitarbeiter Grundlagen dafür geschaffen, dass heute noch alle Menschen ihren Job haben und in eigener Verantwortung leben können.
Die Befürchtung besteht durchaus, dass nach Edouard Michelins tragischem Tod die von ihm geprägte „Charta Leistung und Verantwortung“ ihren Stellenwert verlieren könnte. Doch auch der im Vorjahr ins Amt eingeführte Michelin-Chef Deutschland, Dieter Freitag, hält an Michelin Development fest. Er bezeichnete dies als einen konkreten, unbürokratischen Beitrag zur Förderung und Entwicklung kleiner Unternehmen und der Ausgewogenheit der Wirtschaftsstruktur im Umfeld von Michelin-Standorten.
Es ist nicht alles eine Frage des Geldes. So ist der finanzielle Einsatz eigentlich sehr gering, das Risiko, die eine oder andere Million irgendwo auf dieser Welt zu verlieren, ist nicht auszuschließen, aber auch nicht übermäßig wahrscheinlich. Viel wertvoller noch ist der Einsatz der Micheliner, die bereit sind, sich bei „Anfängern“ zu engagieren und ihnen zu helfen. Schade, dass es kaum Nachahmer in der Großindustrie zu geben scheint.
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