Wann wird’s mal wieder richtig Winter?
„Wann wird’s mal wieder richtig Sommer?“ sang Rudi Carrell im Jahre 1975 und landete damit einen echten Hit. Reifenhersteller, -groß- und -einzelhändler allerdings fragen sich in Anlehnung an diesen Ohrwurm „Wann wird’s mal wieder richtig Winter?“ Es ist, als sei das Winterreifensegment das wichtigste überhaupt.
Rudi Carrells Song liegt mehr als dreißig Jahre zurück, der 20-jährige Rückblick auf die 80er Jahre verrät uns, dass wir damals froh waren, wenn mehr als vier Millionen Pkw-Winterreifen verkauft wurden. Der Absatzrückgang von 2006 auf 2007 war höher als das, was Mitte der 80er Jahre das „normale“ Verkaufsvolumen eines ganzen Jahres war (nur alte Bundesländer). Die endgültigen Zahlen für den Vergleich 2007 auf 2008 liegen zwar noch nicht vor. Dass aber das Minus der ersten zehn Monate in Höhe von sechs Millionen Einheiten (von 18,9 Mio. auf 12,8 Mio.; Industrie an Handel) nicht mehr aufgeholt werden kann, selbst wenn es permanent schneit, liegt auf der Hand.
Dass an dieser Stelle der Rückblick weit über die Zeit ab dem 1. Januar 2008 hinausgeht, sei angesichts der oben genannten Zahlen und der offenkundig „vergessenen“ Vergangenheit vielleicht einmal erlaubt. Die Reifenhändler in Deutschlands Norden kamen ganz gut ohne das Wintergeschäft aus, sie hatten sich arrangiert; fiel dann doch einmal Schnee und verirrten sich einige Verbraucher zu ihnen, um Winterreifen montieren zu lassen, so war das das Sahnehäubchen des Geschäftsjahres. Anders damals schon die Situation in Deutschlands Süden: Wer das alljährliche Winterreifengeschäft gewohnt ist, mag es nicht missen, irgendwann kann er’s vielleicht auch nicht mehr missen; für ihn ist das Winterreifengeschäft eine betriebliche Notwendigkeit.
Heute ist ein Ausbleiben der Winterreifenkäufer für viele Händler im Norden wie im Süden gleichermaßen eine betriebswirtschaftliche Katastrophe. Gewiss: In den drei deutschen Stadtstaaten, in Bundesländern wie Schleswig-Holstein oder Ballungsräumen wie dem Ruhrgebiet ist die Umrüstquote signifikant unterhalb des Bundesdurchschnitts. Der Reifenhändler im Voralpenland oder im Thüringer Wald hingegen weiß, dass selbst der schlimmste Umrüstmuffel irgendwann zu ihm kommen muss, will er weiterhin bei schnee- oder eisbedeckter Piste den Berg hinauf und anschließend wieder heil hinab. Es gibt immer noch Reifenhändler mit privilegiertem Standort.
Und es gibt im Übrigen Reifenhändler, die eine Sonderkonjunktur zu haben scheinen: Auf die Markteinbrüche angesprochen, zeigen sie sich völlig unbeeindruckt, bei ihnen laufe das Geschäft in etwa wie in jedem Jahr zu dieser Zeit. Das muss nicht geschwindelt sein, der Versuch einer Erklärung: An den Sell-in-Zahlen dürfte kaum „gedreht“ worden sein, die Reifenhersteller mussten also Federn lassen. Die (zu hohen) Bestände beim Reifengroßhandel wird man auch nicht wegdiskutieren können, bei dieser Klientel geht es verschärft darum, Altbestände halbwegs vernünftig noch irgendwie absetzen zu können. Und der Reifeneinzelhandel? Da haben einige doch beherzigt, was ihnen in den letzten Jahren immer wieder ins Lastenheft geschrieben wurde: Baue nicht zu hohe Lagerbestände auf, verlagere das Risiko weg vom eigenen Betrieb hin zur Industrie und zum beliefernden Großhandel.
Still und heimlich hat sich in den großen Städten oder in Küstennähe mit mildem Meeresklima der Ganzjahresreifen etabliert. Das gefällt der Händlerschaft zwar nicht, aber immerhin verschleißt dieser Reifensatz tendenziell schneller, als wenn sich der Konsument für die allseits favorisierte Lösung zweier spezialisierter Sätze Sommer- und Winterreifen entscheidet.
Auch mit der Umrüstquote ist das so eine Sache: Die in vielen Medien wiedergekäute Zahl von 50 Prozent plus X suggeriert, dass es ein Potenzial von 40 Prozent plus X gebe, das noch erreicht werden müsste. Ausgeblendet wird, dass die in Rekordjahren verkauften Winterreifen sich nicht in Luft auflösen, sondern beim Reifenfachhandel, in Räderhotels und vielen Kellern der Republik nur darauf warten, aufgezogen zu werden. Wie kann es denn sein, dass der Auslastungsgrad des Reifenfachhandels im Oktober 2008 deutlich höher war als im Winterreifenlieblingsmonat November? Ganz einfach: Die auf die saisonale Zweiteilung setzenden Verbraucher haben einen kompletten Sommer- und einen kompletten Winterreifensatz. Sie montieren entweder selber um an einem sonnigen Herbsttag oder gönnen dem Fachhändler gerade mal noch das Umstecken, das soviel Geld nicht in die Kasse spült.
Im Januar dieses Jahres berichteten wir, dass beim Kauf von Winterreifen der Preis das dominante Kriterium des Verbrauchers ist, auch wichtig gute Testergebnisse usw. Das hat eigentlich nicht überrascht, aber sehr wohl, dass das Kriterium „Marke“ – womit im Wesentlichen der Premiumanspruch gemeint ist, der auch eine preisliche Höherstellung erlaubt – bei der Wichtigkeit hinsichtlich der Kaufentscheidung nur eine marginale Rolle spielt. Hallo, haben da etwa Michelin, Conti, Pirelli und Co. etwas falsch gemacht? Verpufft ihre teure Werbung, ist sie vielleicht zu einfallslos? Trifft die Reifenhersteller eine Mitschuld, wenn der Handel – diese Zahl nennt der BRV erstmalig – in 2007 gegenüber dem Vorjahr 17,4 Prozent weniger verkauft hat?
Im Februar haben wir uns einem „Feind“ des Winterreifens gewidmet: dem Ganzjahresreifen. Der hat, wie Untersuchungen ergeben haben, auf Deutschlands Straßen einen Marktanteil von acht Prozent. Darüber kann man nicht so ohne Weiteres hinweggehen. Reifenhändler wünschen sich zwar aufgrund der häufigeren Frequenz zum Umrüsten und Reifenhersteller vor allem aufgrund des lukrativen Ersatzgeschäftes mit Winterreifen – hier sind im Allgemeinen die Margen besser – die Zweiteilung, aber letzten Endes entscheidet der Verbraucher. Und der Blick in andere Länder – genannt seien die USA – zeigt immerhin, dass das Potenzial für diesen Reifentyp riesig ist. Die hiesigen Protagonisten der Zweiteilung in Sommer- und Winterbereifung Michelin, Conti oder Bridgestone haben in ihrem US-Produktportfolio selbstverständlich auch Reifen für alle Wetter. Ein technischer Aspekt: Mit Hilfe vor allem moderner Mischungen ist ein heutiger Ganzjahresreifen einem winterlichen Spezialisten aus den 90er Jahren in der kalten Jahreszeit glatt überlegen. Und ein verbraucherorientierter: In Ballungsräumen, in denen die Räumkommandos schnell handeln oder zur Not öffentliche Nahverkehrsmittel parat stehen, kann man es vielleicht manch einem nicht verdenken, auf Ganzjahresreifen zu setzen. Und wer in unmittelbarer Küstennähe wohnt, der kann auf die klimatische Begünstigung seiner Heimat verweisen, in der Dauerfrost nicht zu erwarten ist.
Im März konnten wir den Winterreifenspezialisten schlechthin und den vielleicht profitabelsten Reifenhersteller der Welt im Kreis der Firmen begrüßen, die die Schwelle von einer Milliarde Euro Jahresumsatz überschritten haben: Finnlands Nokian Tyres. Zwei weitere M+S-relevante Themen fanden sich in der NEUE REIFENZEITUNG: Bankanalysten stehen nicht unbedingt in bestem Ruf, hier muss man ihnen aber zustimmen; denn sie prognostizieren angesichts der hohen Bestände an Winterreifen bei Industrie und Handel eine negative Preisentwicklung für die Saison 2008/2009. Ein Trost – innerhalb des Winterreifensegmentes gibt es einen Teilbereich mit anhaltendem Wachstum: den der 4×4-Winterreifen.
Im April waren die Zahlen (Sell-out, Handel an Verbraucher) für das Vorjahr 2007 zusammengetragen: Bei neuen Pkw-Winterreifen war das Minus in deutschen Landen von 24 Millionen auf 19,8 Millionen am schmerzhaftesten. Aber selbst bei den Absatzzahlen der so zukunftsweisenden Runflats stand ein Minuszeichen vor den Winterreifenabsatzzahlen: Statt 900.000 wurden nur noch 800.000 Einheiten verkauft; und bei den runderneuerten Pkw-M+S-Reifen hält die Auszehrung an: von 600.000 Einheiten auf 500.000. Stagnierend die Winterreifenabsatzzahlen LLkw-Reifen: 1,54 Millionen Stück.
Dass 2007 in die Geschichte des Reifenmarktes eingehen würde, teilte uns zum Mai die Marketing + Management-Systeme MMS mit. Die Winterreifensaison sei „praktisch erdrutschartig“ zusammengebrochen. Insgesamt herrschen „extrem hohe Lagerbestände“ beim Handel, die für „drei bis fünf Jahre“ den Markt belasten würden. Differenziert, inwiefern sich die Lagerbestände auf Einzel- und Großhandel verteilen, hat MMS nicht.
Dass ein Amtsgericht der Frage nachgegangen ist, wann ein Pneu denn überhaupt als „Winterreifen“ bezeichnet werden kann, beschäftigte uns im Juni. Die M+S-Kennzeichnung allein ist nicht ausreichend ist, um einen Reifen als wintergeeignet zu erkennen, das war den Branchenfachleuten hinsichtlich Offroad-Reifen schon lange geläufig: Grobe Profile mit den beiden für „Matsch“ und „Schnee“ stehenden Buchstaben auf der Seitenwand von Offroadern sind den viel feineren, aber eben mit der richtigen Mischung versehenen Laufflächen in der kalten Jahreszeit hoffnungslos unterlegen. Zwar sind bislang kaum (überwiegend aus Fernost stammende) Pkw-Reifen nach Deutschland gelangt, deren Profile ganz eindeutig auf sommerliche Auslegung schließen lassen, die aber dennoch auf der Seitenwand die Kennzeichnung M+S tragen, einige sind aber eben doch erhältlich gewesen. Weil es für die gängigen beiden Buchstaben nur eher unverbindliche Anhaltspunkte und überhaupt keine zur Identifikation vorgeschriebene Prüfbedingungen gibt, ist der Verbraucher besser beraten, wenn er sich an dem Schneeflockensymbol orientiert.
Wenn „echte“ Winterreifen weniger als vier Millimeter Restprofiltiefe aufweisen, dann – das wissen alle Techniker – verlieren sie ihre Eignung für die kalte Jahreszeit mit jedem weiteren Abrieb gravierend. Löblich (darüber berichten wir im Juli) wenn die Initiative PRO Winterreifen den Finger in diese Wunde legt und sich mit einer weitverbreiteten Zeitung wie der „Bild am Sonntag“ eine Medienkooperation ergibt. Es geht nicht nur um die Kennzeichnung, sondern auch um die objektive Leistungsfähigkeit: Einem gesetzlich erlaubten Winterreifen mit 1,6 Millimetern Restprofil fehlt die Eignung für die kalte Jahreszeit, um auf den Wortlaut der neuen Straßenverkehrsordnung anzuspielen, in der explizit auf eine „geeignete Bereifung“ hingewiesen wird.
Marktführer bei Winterreifen ist im deutschen Ersatzgeschäft über alle Marken der Continental-Konzern. Neben der Premiummarke haben auch Skandinavien- (Viking und Gislaved) oder alpine Spezialisten (Semperit) ihre Bedeutung. Außer der Traditionsmarke Uniroyal sei auch die im Budgetbereich stärkstwachsende Hausmarke Barum im Wintersegment erwähnt. Dieses lukrative Zusatzgeschäft kann Continental zwar durch die Übernahme des finnischen Spikeherstellers Tikka Spikes Oy hierzulande, wo Spikereifen verboten sind, nicht nutzen. Aber dieser Deal, von dem wir im August berichten, wird Continental in vielen anderen Märkten und nicht zuletzt in Osteuropa helfen, die Marktführerschaft in diesem lukrativen Teilsegment zu verteidigen.
Im September, direkt vor dem Winterreifengeschäft, ruft der Bundesverband Reifenhandel und Vulkaniseur-Handwerk (BRV) zu „Vernunft und Besonnenheit“ auf. Aber nicht nur der Verband, auch Hersteller und die Fachpresse werden in ihren Mahnungen nicht müde, den puren Preis gegenüber dem Endverbraucher ja nicht als Verkaufsargument zu nutzen. Endverbraucherzeitschriften und auch Automobilverbände machen mitunter genau das Gegenteil, sie fordern zur Suche nach dem Schnäppchen auf und legen die Fährten zu den Internetangeboten. Das Internet sorgt für Transparenz, das hört sich toll an, es spielt aber auch den Billigheimern in die Hände. Wer viel Geld bei einem Reifenfachhändler für ein Markenprodukt bezahlt, wird am Stammtisch von denen verlacht, die das gleiche Produkt auf irgendeiner Plattform signifikant billiger gefunden oder ein No-Name-Produkt für die Hälfte oder gar noch weniger „geschossen“ haben.
Wer sich als Endverbraucher im Oktober noch nicht mit dem Thema Winterreifen beschäftigt hat, der kennt die Regel „Von O(ktober) bis O(stern)“ nicht. In diesem Zeitraum sollten in hiesigen Breiten die auf die kalte Jahreszeit spezialisierten Produkte montiert sein. Wie wir anhand von Untersuchungen wissen ist bei einer Quote von mehr als 80 Prozent Winterreifennutzern das Reifenbewusstsein bei den Verbrauchern eigentlich so schlecht nicht. Aber: Was ist überhaupt ein echter Winterreifen? Einer mit M+S-Kennung? Einer der zusätzlich das Schneeflockensymbol trägt? Auch noch einer, der weniger als vier Millimeter Profiltiefe hat? Und – ein unterschätzter Absatzkanal – wie verhält es sich mit Gebrauchtreifen, die via Kleinanzeige von Verbraucher an Verbraucher verkauft werden, was weiß man von deren „Vorleben“? – Hohe Umrüstquote hin oder her: Es ist Zeit für Endverbraucheraufklärung!
21. November: Endlich schneit es landauf, landab. Nicht nur in den privilegierten Gegenden Deutschlands, sondern auch im norddeutschen Tiefland und sogar an der Küste. Die Schneefälle sind ergiebig, die Temperaturvorhersagen lassen erwarten, dass uns die weiße Pracht einige Tage erhalten bleibt. Die gerade in der ersten Novemberhälfte vielerorts beim Reifenhandel herrschende Ruhe – ungewöhnlich zu dieser Zeit – weicht geschäftigem Treiben. Gewiss, erste Klagen gibt es auch, der Wintereinbruch kam an einem Freitag: „Ach, wenn’s doch erst Montag wär!“ Ja, ja, manche Reifenhändler erinnern an die sprichwörtlich immer jammernden Landwirte. „Wann wird’s mal wieder richtig Winter?“ hatten wir in der Überschrift gefragt. Jetzt!
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