Kommentar: Geschichte schreiben?

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In den vergangenen Wochen zeigte sich einmal mehr, mit welcher Vehemenz die Konsolidierungswelle über den europäischen Reifenmarkt schwappt. Wenn sich selbst Unternehmen wie die Reutlinger Reiff-Gruppe „zu klein für einen europäischen Konsolidierer“ wähnen, und das trotz eines Umsatzes mit Reifen in der Größenordnung über 350 Millionen Euro, dann blickt man unweigerlich genauer hin. Bei den Recherchen zu unserem aktuellen „Thema des Monats“ zum Reiff-Verkauf an die in London ansässige European Tyres Distribution Ltd. (siehe dazu die Beiträge ab S. 24) stellte sich immer wieder eine Frage: Ist für den Erfolg eines Reifengroßhändlers ausschließlich Größe entscheidend? Natürlich nicht, wie jeder weiß, der schon einmal Reifen gekauft und wieder verkauft hat. Erfolg definiert sich langfristig darüber, dass die Kunden zufrieden sind und dass die Erträge stimmen.

Bekanntlich steht es um die Deckungsbeiträge, die heute noch mit dem Verkauf von Reifen erzielt werden können, nicht gerade zum Besten. Minimargen lasten dabei nicht nur auf dem Reifeneinzelhandel, der sich immerhin noch aus dem Produkt in die Dienstleistung am Endverbraucher retten kann, sondern ganz besonders auch auf dem Reifengroßhandel. Die Hoffnung vieler Grossisten ist es bekanntlich, die logistische Dienstleistung über die Maximierung der abgesetzten Menge zu finanzieren. Aber gerade dort liegt die Crux: Erfolgreiches organisches Wachstum ist heute nur noch ganz wenigen Unternehmen möglich.

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Die Großhändler, die dies aus eigener Kraft und ohne größere Akquisitionen geschafft haben, kann man an den Fingern einer einzigen Hand abzählen. Ein dabei vielfach genanntes Beispiel: Reifen Krieg. Die Logistikexperten aus der Mitte Deutschlands nähern sich umsatzseitig bekanntlich der 300-Millionen-Euro-Marke und sind dabei auch noch profitabel; eine EBIT-Marge, die dem Vernehmen nach zwischen zwei und drei Prozent allein beim Reifengroßhandel liegt, macht das Unternehmen zum Branchenprimus.

Viele andere ambitionierte Unternehmen setzen dabei auf Expansion über Akquisition. Die Reiff-Gruppe hat sich im Laufe der vergangenen Jahre ein Reifenhandelsimperium zusammengekauft, das sicherlich seines Gleichen sucht. Leider steht aber die Industrie immer weniger unter dem Druck, entsprechende Konglomerate mitzufinanzieren; durch die Diversifizierung der Absatzkanäle verpufft selbst die Einkaufsmacht von Unternehmen, die im Jahr mehrere Millionen Reifen vermarkten. Und wenn dann andererseits auch noch überdurchschnittlich hohe Akquisitions-, Integrations- und Logistikkosten anfallen, wird die Gemengelage für gewinnorientierte Unternehmer schnell zum Problem.

Wie ein hochrangiger Reifenmanager im Gespräch mit der NEUE REIFENZEITUNG kürzlich betonte, kenne er genau zwei Großhändler im Land, die noch nicht verkauft sind, also unabhängig von Reifenherstellern oder anderen Marktteilnehmern sind, und die derzeit auch nicht zum Verkauf stehen. Die Namen durfte man raten. Ein ähnlicher Befund ließe sich für andere Märkte in Europa feststellen. Nun lässt sich diese Zahl freilich nicht belegen, bewerten lässt sie sich aber allemal. Unternehmen wie European Tyres Distribution und das dahinter stehende US-amerikanische Beteiligungsunternehmen Bain Capital Private Equity, 75 Milliarden Dollar schwer, können sich offenbar die für sie passenden Unternehmen aussuchen, um ihre eigenen ambitionierten Wachstumsziele zu erreichen, und das europaweit. Bis zum avisierten Börsengang fehlt den Machern hinter der Reiff-Übernahme immerhin noch ein (hinzugekauftes oder entwickeltes) Umsatzvolumen von weiteren 700 Millionen bis 1,2 Milliarden Euro. Ob sie dann aus dieser Wachstumsgeschichte eine Erfolgsgeschichte machen, die schon andere versucht haben zu schreiben, müssen sie aber erst noch beweisen. arno.borchers@reifenpresse.de

 

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