Kommentar: Ganzjahresreifen und Feigenblätter

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Es ist ja nicht so, dass das Angebot von Ganzjahresreifen etwas ganz Neues im deutschen bzw. europäischen Markt wäre. Schließlich beackern Hersteller wie Goodyear und Vredestein sowie nicht zu vergessen auch Hankook dieses Marktsegment bereits seit einigen Jahren. Allerdings ohne das entsprechende Engagement dabei allzu stark in den Vordergrund zu rücken. Im Gegenteil wurde und wird selbst von diesen Unternehmen immer wieder mehr oder weniger deutlich vorrangig die Botschaft „Sommerreifen im Sommer – Winterreifen im Winter“ propagiert.

Nun kommt es seitens immer mehr Industrievertretern aber offenbar zu einem zumindest teilweisen Umdenken. Denn selbst diejenigen Hersteller, die bisher immer „klare Kante“ in Bezug auf Allwetterreifen gezeigt bzw. prinzipiell den dahinter stehenden Ansatz abgelehnt haben, bringen in letzter Zeit verstärkt entsprechende Produkte auf den Markt – selbst wenn sich mancher beinahe zwanghaft bemüht zu vermeiden, sie als das zu bezeichnen, was sie sind: Ganzjahresreifen.

Während Bridgestone sich noch langsam vortastet mit dem „Multiseason“ genannten Profil seiner Zweitmarke Firestone, ist mit Blick auf den neuen „Cinturato All Season“ bei Pirelli von einem echten Universalreifen die Rede, der durch „ausgezeichnete Performance im Sommer“ überzeugen und „keinerlei Leistungseinbußen, die ansonsten häufig bei Fahrten mit Winterreifen unter heißen Bedingungen auftreten“, zeigen soll. Gleichzeitig komme er auch mit den in Städten oft typischen, zumeist gemäßigten winterlichen Witterungsverhältnissen sehr gut zurecht, heißt es weiter.

Zu offensichtlich möchte der italienische Hersteller das Thema Ganzjahresreifen wohl dennoch nicht forcieren. Denn als eine Art von „Feigenblatt“ wird darauf hingewiesen, dass für leistungsstarke Autos sowie bei extremen Straßenverhältnissen ungeachtet der Einführung des „Cinturato All Season“ auch weiterhin den Einsatz von Winterreifen empfohlen wird. Wie es weiter heißt, wird der neue Reifen vor alle als Option gesehen für „Autofahrer in Städten (…), bei denen eine extreme Performance nicht im Vordergrund steht“.

„Ist das nicht die Mehrheit der europäischen Autofahrer?“, hat ein Leser der NEUE REIFENZEITUNG in diesem Zusammenhang als absolut berechtigte Frage aufgeworfen. Und dass Michelin bei der Vorstellung seines neuen „CrossClimate“ erhebliche Klimmzüge vollführt, um nur ja nicht das Wort Ganzjahres- oder Allwetterreifen in den Mund zu nehmen, sondern stattdessen von einem Sommerreifen spricht, der auch als Winterreifen zugelassen sei, ist wohl ebenfalls unter der Kategorie „Feigenblatt“ zu verbuchen.

Aber wer könnte Unternehmen Vorwürfe machen, Produkte auf den Markt zu bringen, für die nach ganz überwiegender Meinung aller Branchenexperten eine in Zukunft steigende Nachfrage seitens der Verbraucher erwartet wird. Denn augenscheinlich ist ein größer werdender Anteil der Autofahrer des saisonalen Wechsels von Sommer- auf Winterreifen überdrüssig. Die Gründe dafür dürften in den zuletzt eher milden Wintern oder Dingen wie den durch Reifendruckkontrollsysteme (RDKS) bedingten höheren Kosten für einen zweiten Radsatz zu suchen sein.

Dass Reifenservicebetrieben diese Entwicklung nicht gefällt und nicht gefallen kann, ist dabei vollkommen nachvollziehbar. Denn dem Handel geht dadurch fraglos einiges an Geschäft verloren: Mit einer steigenden Verbreitung von Ganzjahres- statt des saisonalen Wechsels von Sommer- und Winterreifen fällt das Umstecken im Frühjahr/Herbst samt aller üblichen Dienstleistungsumsätze ebenso weg wie Erlöse, die über die Einlagerung des jeweils nicht montierten Reifensatzes generiert werden.

Nun mit dem Finger auf die Industrie oder auch die EU-Politik zu zeigen, weil sie entsprechende Produkte in den Markt bringen bzw. der Entwicklung durch die RDKS-Gesetzgebung Vorschub leisten, greift zu kurz. Zumal sich gegen den Kundenwunsch auf Dauer kein erfolgreiches Geschäft betreiben lässt und technologische Fortschritte bei den so auch sogenannten „Kompromissreifen“ für die kalten wie die warmen Tage des Jahres Allwetterreifen – nicht zuletzt auch aus Kostengründen – für immer mehr Autofahrer nachvollziehbar eine Option sind.

Insofern ist es vielleicht nicht ganz falsch, wenn der französische Reifenhersteller Michelin mit Blick im Besonderen auf seinen „CrossClimate“ sowie auf Ganzjahresreifen im Allgemeinen von einem „Meilenstein in der Reifengeschichte“ bzw. einem „Wendepunkt“ spricht. Denn auch im Reifenhandel wird die erwartete Zunahme der Nachfrage nach Reifen für eine ganzjährige Nutzung zwangsläufig Veränderungen nach sich ziehen. Darauf gilt es sich wie auch auf alle anderen Markttrends möglichst frühzeitig einzustellen – einzig und allein die vermeintlich „Schuldigen“ an den jeweiligen Entwicklungen anzuprangern und vergangenen „glorreichen Zeiten“ nachzutrauern, wäre nichts anderer als ein weiteres „Feigenblatt“, um fehlende Eigeninitiative zu überdecken. christian.marx@reifenpresse.de

3 Kommentare
  1. Rainer Bartelheim says:

    Sehr geehrter Herr Marx,
    Ich zitiere:”Denn auch im Reifenhandel wird die erwartete Zunahme der Nachfrage nach Reifen für eine ganzjährige Nutzung zwangsläufig Veränderungen nach sich ziehen. Darauf gilt es sich wie auch auf alle anderen Markttrends möglichst frühzeitig einzustellen.”
    O.k., danke für den Tipp, aber wie stellt man sich auf den möglichen zukünftigen Wegfall von Dienstleistungserträgen in Höhe von 70% der Gesamtjahreskosten ein?

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    • Christian Marx says:

      Sehr geehrter Herr Bartelheim,

      Sie haben ja völlig recht: Ein Patentrezept, wie der (erwarteten) Entwicklung in Sachen Ganzjahresreifen begegnet werden könnte, habe auch ich nicht in der Schublade. Aber der spontane Reflex so manchen Reifenhändlers, der Industrie Vorwürfe zu machen, dem offensichtlich stärker werdenden Kundenwunsch nach Ganzjahresreifen mit entsprechenden Produkten Rechnung zu tragen, ist ganz sicher nicht zielführend. Vielleicht ist ein Mehr an Autoservice ein Weg, den Reifenhändler gehen könnten und sollten, aber einfach nur weiter so wie immer zu agieren, ist wohl definitiv keine Lösung. Möglicherweise zeigt ja auch die vom Bundesverband Reifenhandel und Vulkaniseurhandwerk e.V. (BRV) in Auftrag gegebene Studie zum Thema „Geschäftsmodell Zukunft“ im Reifenfachhandel, deren Ergebnisse im Rahmen der BRV-Mitgliederversammlung am 1. Juni in Köln veröffentlicht werden sollen, weitere Handlungsoptionen auf. Nötig – da sind wir uns sicher einig – wäre es jedenfalls.

      Christian Marx
      (Redaktion NEUE REIFENZEITUNG)

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  1. […] eine seitens der Verbraucher offenbar zunehmende Nachfrage nach solchen Produkten zwangsläufig nicht ohne Folge für die Reifenbranche und hier insbesondere für Reifenservicebetriebe bzw. den Handel. Vor diesem Hintergrund ist die […]

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