Was bleibt von der Causa Lidl – Viel Lärm um Nichts?

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Groß war der Aufschrei in der Branche, als die Handelskette Lidl Anfang Oktober auf ihrer Internetseite ein für Endverbraucher verlockendes Angebot in Sachen Reifen machte. Der BRV schaltete sich ein, mahnte vor der „Margengefährdung dieser Aktivität“ und fragte bei den „betroffenen Herstellern“ Goodyear und Hankook „Stellungnahmen“ an. Fast so, als wäre ein diplomatischer Zwischenfall ersten Ranges geschehen. Nun wurden die ‚Botschafter’ der Reifenhersteller quasi zum Rapport einbestellt. Nur, hat hier wirklich jemand falsch gehandelt? Ist dieser ‚jemand’ einem wie auch immer definierten Gemeinwohl der Reifenbranche verpflichtet? Und wieso ist der Aufschrei gerade jetzt dermaßen groß, tauchen doch immer wieder Reifenchargen auf Märkten auf, wo das schwarze Gold ansonsten eher selten versilbert wird.

Sicher, die im Lidl-Shop angepriesenen Kompletträder auf Goodyear- und Hankook-Reifen wurden zu einem Preis angeboten, der es in sich hatte, ein Preis, mit dem ein klassisch aufgestellter Reifenhändler – jedenfalls unter normalen Bedingungen – eigentlich nichts mehr verdienen kann, ein Preis, der bestenfalls der Liquidität hilft. Unter den üblichen Bedingungen würde jeder Händler vermutlich draufzahlen. Geschieht so etwas freiwillig? Aus einer Verpflichtung den Mitbewerbern gegenüber? Wohl kaum!

Sicher ist auch, dass es eigentlich keine vernünftige Antwort auf die Frage gibt, warum Autofahrer Kompletträder im Webshop eines Discounters kaufen müssen, den man trotz eines starken Non-Food-Sortiments zuallererst als Lebensmittelhändler sieht. Und dass man Endverbraucher sowieso nur schwer verstehen kann, die einen Satz Kompletträder online kaufen und ihn sich nach Hause schicken lassen, nur um sich dann jemanden für die Montage zu suchen, ist auch klar. Aber: Ist das überhaupt die Frage?

Der Strukturwandel, den das Internet so ziemlich jeder erdenklichen Branche bereitet hat bzw. immer noch bereitet – und dazu gehört jetzt ganz sicher auch zunehmend die Reifenbranche –, ist und bleibt nahezu unkontrollierbar. Das Medium Internet ist da. Es entwickelt sich schneller, als viele mitkönnen. Es wird genutzt. Punkt.

Das Internet dient als Informationsquelle, es wird von uns allen privat als Kaufhausersatz genutzt, es ist ein netter Zeitvertreib nach Feierabend, hilft – im Geschäftsalltag – beim Kontakt mit Lieferanten und Kunden, ist aber auch zu einem Vertriebs- und Beschaffungskanal geworden, der wegen seiner nahezu unendlichen Transparenz und dem Potenzial zur Effizienzsteigerung für viele im Reifenmarkt einfach nicht mehr wegzudenken ist. Während das Medium Internet also viele segensreiche Entwicklungen mit sich bringt, treten eben auch Risiken und Nebenwirkungen auf, die unerwünscht sind. So ist das Spiel.

Und dass man in der Causa Lidl den beiden besagten Reifenherstellern keine böse Absicht unterstellen darf, die das vermutlich unmoralische Angebot des Discounters quasi provoziert hat, ist doch klar. Warum sollten sich Goodyear oder Hankook für den Verkauf ihrer Reifen verantworten? Nun kann man sagen: Dann hätten die doch weniger Reifen produzieren können, ihre Absatzplanung hätte genauer sein müssen, damit nicht Tausende oder Hunderttausende Reifen beim Discounter oder sonst wem landen. Aber genauso, wie es Verbänden in der Branche mitunter nicht gelingt, die Absätze für das kommende Jahr so halbwegs richtig vorherzusagen, gelingt es auch Herstellern in einem solchen Markt nicht immer, ihre Absatzprognosen auf den letzten Container hin abzustimmen.

Natürlich, der Verkauf der Reifen an einen Discounter an sich war natürlich nicht das eigentliche Problem – Absicht hin oder her. Das Problem war der Preis, zu dem die Ware dann dem Kunden im Lidl-Shop angeboten wurde. Seit Jahren tauchen Reifen immer wieder in branchenfremden Webshops auf, ob bei Tchibo, Plus, Amazon, eBay oder gar Karstadt. Es gilt die alte Weisheit: Der beste Reifen ist immer der, der am Lager liegt! Liegen dort aber zu viele, entstehen Probleme. Diese Probleme können jeden in der kompletten Wertschöpfungskette treffen, ob Hersteller, Großhändler und Einzelhändler. Das Problem mit Prognosen ist eben, dass sie stets von der Zukunft handeln.

Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hat der Lidl-Lieferant, der – wie mittlerweile bekannt ist – im deutschen Großhandel zu suchen ist und nicht unter den Reifenherstellern, die Ware nicht zum Listenpreis angeboten. Auch wird der Preis, den Lidl – ebenfalls mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – vermutlich bezahlt hat, nicht entstanden sein, weil der Lidl-Lieferant daran Spaß hat, Reifen (wie gesagt: vermutlich) unter dem oder quasi zum eigenen Einkaufspreis weiterzugeben. Man darf annehmen, dass sich dahinter kein Geschäftsmodell an sich verbirgt, sondern dass der Verkauf der Ware an Lidl einer wirtschaftlichen Notwendigkeit geschuldet war, Überbestände abzubauen.

Dass weder Goodyear noch Hankook auch nur einen einzigen Reifen direkt an Lidl geliefert haben, bekunden beide Hersteller in ihren vom Bundesverband Reifenhandel und Vulkaniseur-Handwerk angefragten Stellungnahmen. Dies nimmt man zur Kenntnis, will man die Causa Lidl beurteilen. Vielleicht haben diese aber ja eine entsprechend große Charge an den besagten Großhändler weitergereicht zu einem Preis, mit dem dieser immer noch bei Lidl verdienen konnte. Irgendwo auf dem Weg vom Hersteller zum Lidl-Kunden hat jedenfalls jemand mit einem Preis leben müssen, der kein nachhaltiges Auskommen ermöglicht, während ein anderer vermutlich eine günstige Gelegenheit genutzt hat. Aber solches Verhalten kann nur logisch mit einem Marktzwang erklärt werden, höchstwahrscheinlich bedingt durch falsche unternehmerische Planungen und Entscheidungen. Noch einmal: Darin ein Geschäftsmodell zu vermuten fällt schwer.

So oder so, dass der Lidl-Preis die Margen im Reifenfachhandel gefährdet, stimmt ja grundsätzlich, auch wenn damit die Bedeutung des Lidl-Angebots für das vermeintliche Marktgleichgewicht vermutlich überschätzt wird, sorgt verständlicherweise aber trotzdem für Unmut im Markt. Kunden, die online ihre Reifen kaufen wollen, suchen auch online nach dem richtigen Produkt und vergleichen dort die Preise. Dass diese Kunden dann eher beim Lidl-Preis auf den Kaufen-Button klicken als beim stationären Reifenhändler, der das Internet bestenfalls als Kundenzuführungsinstrument nutzt, ist klar.

Mit dem Finger auf Hersteller oder Großhändler zu zeigen und auf vermeintliche Spielregeln zu verweisen, die den Handelnden im Reifenmarkt eben Vorgaben für ihr Handeln machen sollen, verkennt auch die Tatsache, dass im Reifenmarkt jedes Unternehmen am liebsten ganz billig kaufen und ganz teuer verkaufen will, um dazwischen eine auskömmliche Marge zu erzielen. Dass es dazu immer auch einen Verkäufer geben muss, versteht sich – und gerade Überkapazitäten und volle Läger in der Industrie und im Großhandel sorgen dafür, die Reifenpreise auf den Plattformen in ständiger Bewegung zu halten – zum Nachteil des einen und zum Vorteil des anderen.

Das Bedürfnis, Reifen möglichst günstig einzukaufen, wird der BRV auch seinen Mitgliedern zugestehen. Roland Hehner, Direktor bei Hankook Reifen Deutschland, umschrieb dies in seiner Stellungnahme an den BRV folgendermaßen: „Der Handel, der sich jetzt darüber echauffiert, bedient sich auf der anderen Seite auch über die gleichen Lieferanten im B2B für sein Tagesgeschäft und fördert dieses [Verhalten; d.Red.] zusätzlich und verteidigt diese Plattformen gegenüber den Herstellern.“ Treffender kann man das Verhalten vieler im Reifenhandel nicht umschreiben, auch wenn der BRV diesen Hinweis als „eher politische Stellungnahme“ zu den Akten legen will, die keiner „weitergehenden Interpretation“ bedarf.

Was bleibt also übrig von der Causa Lidl, jetzt, wo der erste Aufschrei verklungen ist? Die knappe Antwort: Nichts Substanzielles. Spielregeln im Reifenmarkt werden eben nicht gemacht, man spielt nur danach.

Übrigens: Jetzt, wo das Wintergeschäft so richtig auf Touren kommt, bietet Lidl keine Reifen mehr in seinem Shop an. arno.borchers@reifenpresse.de

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