Weniger müssen mehr leisten – Strukturwandel in der Runderneuerung

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Der deutsche Runderneuerungsmarkt gehört mit jährlich über eine Million verkaufter Reifen zu den größten in Europa. Doch in den vergangenen zehn Jahren hat jeder dritte Runderneuerer entweder den Betrieb komplett eingestellt oder zumindest von diesem Geschäft verabschiedet. Ein deutlicher Strukturwandel, der sich in ähnlicher Form auch auf anderen europäischen Märkten abgespielt hat. Doch was wird die Zukunft bringen? Wie geht es mit dem Strukturwandel weiter? Im Interview mit der NEUE REIFENZEITUNG erläutert Hans-Jürgen Drechsler, Geschäftsführer des Bundesverbands Reifenhandel und Vulkaniseur-Handwerk (BRV), wie die Entwicklung am Markt weitergehen könnte und welche Faktoren uns die aktuelle Marktsituation beschert haben.

NEUE REIFENZEITUNG:
Können Sie sagen, wie viele Runderneuerer insgesamt wir heute in Deutschland zählen?

Hans-Jürgen Drechsler:
In Deutschland gibt es zurzeit (Anfang 2012) nach unseren Unterlagen insgesamt 68 Runderneuerungsbetriebe, drei davon runderneuern Pkw-Reifen, 13 Lkw-Reifen im Heißverfahren und 64 Lkw-Reifen im Kaltverfahren.

NEUE REIFENZEITUNG:
Könnten Sie diese Zahlen ins Verhältnis zu vor zehn Jahren setzen?

Hans-Jürgen Drechsler:
Angang 2002 waren noch insgesamt 109 Runderneuerer aktiv, 25 in der Pkw-Reifenrunderneuerung, 22 in der Lkw-Heißerneuerung und 91 in der Lkw-Kalterneuerung. Demnach nahm die Anzahl der Runderneuerer in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren insgesamt um 36,6 Prozent ab, die der Pkw-Runderneuerer um 88 Prozent, also am deutlichsten, die der Lkw-Heißerneuerer um 40,1 Prozent und die der Kalterneuerer um 29,6 Prozent. Das ist, wenn man so will, allerdings nur die quantitative Entwicklung. Betrachtet man auch die qualitative – die Entwicklung der abgesetzten Stückzahlen an runderneuerten Reifen in Reifenersatzgeschäft in Deutschland –, so kann man feststellen, dass sie zwar bei Pkw-Runderneuerungen de facto identisch ist – von 1,83 Millionen Stück (das entspricht einer Runderneuerungsquote von 3,6 Prozent) auf 0,5 Millionen Stück (0,96 Prozent Quote), also einem Rückgang um rund 73 Prozent. Bei runderneuerten Lkw-Reifen sieht das aber anders aus. Von 1,25 Millionen Stück (38,8 Prozent Quote) auf 1,15 Millionen Stück (37,1 Prozent Quote), d.h. die verbliebenen 64 Lkw-Runderneuerungsbetriebe produzieren heute fast die gleiche Menge, wie die deutlich größere Anzahl in 2002.

NEUE REIFENZEITUNG:
Würden Sie also vor diesem Hintergrund von einem Strukturwandel sprechen?

Hans-Jürgen Drechsler:
Von Strukturwandel kann man sicherlich in Bezug auf die Pkw-Runderneuerung sprechen. Sie hat sich zur tatsächlichen Nische in Deutschland entwickelt, insbesondere im Winterreifenbereich, während sich in der Lkw-Runderneuerung nur ein bedingter Strukturwandel vollzogen hat, hin zu deutlich größeren Stückzahlen pro Produktionseinheit.

NEUE REIFENZEITUNG:
Was sind Ihrer Meinung nach die Hauptgründe, die diese Veränderungen in Deutschland beflügelt haben?

Hans-Jürgen Drechsler:
Die Hauptursache für diesen – wie gesagt – bedingten Strukturwandel in der Lkw-Runderneuerung sehe ich in erster Linie in der Notwendigkeit der Steigerung der Produktivität und den damit notwendig werdenden größeren Losgrößen in der Produktion, um letztendlich insbesondere über die Reduzierung der Stückkosten wettbewerbsfähig zu bleiben.

NEUE REIFENZEITUNG:
Können Sie dies genauer beschreiben? Was hat dies für die einzelnen Betriebe konkret bedeutet?

Hans-Jürgen Drechsler:
Es hat sich insofern sicherlich primär der damit verbundene Investitionsbedarf in den vergangenen zehn Jahren bei den vielen insbesondere kleineren Runderneuerungsbetrieben mit jährlichen Stückzahlen deutlich unter 5.000 Stück geändert. Dies hat dazu geführt, dass die Betriebe vor dem Hintergrund eines immer intensiver werdenden Wettbewerbs – hier sicherlich in erster Linie durch Importe billiger Neureifen aus Fernost, aber auch das zunehmende Engagement der Neureifenindustrie in der Runderneuerung selbst und im Flottengeschäft – das Risiko dieser Investitionen gescheut und die Produktion eingestellt haben. Begleitet wurde diese Entwicklung sicherlich auch mit der verbindlichen Einführung der Typengenehmigung für runderneuerte Lkw-Reifen nach der ECE-R 109 ab Produktionsdatum 13. September 2006. Sie war aber vor dem Hintergrund, dass in Deutschland die Mehrzahl der Lkw-Runderneuerungsbetriebe bereits beginnend ab 1999 auf freiwilliger Basis die ECE-Genehmigung erworben hatte, nicht ausschlaggebend.

NEUE REIFENZEITUNG:
Nehmen Sie auch beim Verhältnis zwischen Heiß- und Kalterneuerung einen Strukturwandel wahr?

Hans-Jürgen Drechsler:
Einen generellen Strukturwandel beim Verhältnis zwischen Heiß- und Kalterneuerung kann ich am deutschen Markt nicht wahrnehmen. Wohl aber eine wieder gestiegene tendenzielle Bedeutung der Heißerneuerung für bestimmte Einsatzgebiete.

NEUE REIFENZEITUNG:
Wie sind die Runderneuerer ganz allgemein aufgestellt, die im Strukturwandel bestehen? Was müssen Runderneuerer tun, um auch weiterhin im Geschäft zu bleiben?

Hans-Jürgen Drechsler:
Ich gehe davon aus, dass die verbliebenen Lkw-Runderneuerer in Deutschland gut aufgestellt sind, sowohl was ihre Produkte, Marken, Produktionstechnik und Investitionen als auch ihren Vertrieb und ihre Absatzkanäle betrifft. Dies insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass in Deutschland im Lkw-Reifenersatzgeschäft das so genannte Flottengeschäft – dort wo die Reifenhersteller sowohl mit Neureifen als auch zunehmend mit eigenen Runderneuerungen stark engagiert sind und bleiben werden – ‚nur’ nach wie vor einen Marktanteil von 30 bis 40 Prozent hat. Das heißt auf der anderen Seite, dass 60 bis 70 Prozent sehr stark geprägt sind von kleineren und mittleren Speditionen und Transportbetrieben, bei denen wiederum der Anteil der so genannten ‚Kundenerneuerungen’ sehr hoch ist und die in der Regel von den Werkserneuerungen der Reifenhersteller nur bedingt bedient werden können. Hier ist in erster Linie die Flexibilität der mittelständischen Runderneuerer ausschlaggebend.
Und so sich diese – und davon bin ich überzeugt – neben der permanenten Weiterentwicklung der Produkttechnik, der Produkte und Marken, genau insbesondere diese Flexibilität am Markt erhalten, sehe ich auch zukünftig sehr gute Wettbewerbschancen für die mittelständischen Runderneuerer, ohne den Wettbewerb durch die Runderneuerungsaktivitäten der Reifenhersteller und billige Importneureifen zu unterschätzen.

NEUE REIFENZEITUNG:
Hat dieser Strukturwandel auch Einflüsse auf den Reifenhandel bzw. das Verhältnis von Industrie und Reifenhandel?

Hans-Jürgen Drechsler:
Selbstverständlich werden die zunehmenden eigenen Runderneuerungsaktivitäten der Reifenhersteller im Lkw-Reifenersatzgeschäft auch die einen oder anderen Auswirkungen auf das Verhältnis von Industrie und Handel haben. Aber auf der einen Seite ist ja eine große Anzahl der Runderneuerer selbst professioneller Lkw-Reifenvermarkter, also auch Dienstleister, und auf der anderen Seite hat der Reifenfachhandel – hier insbesondere als Dienstleister – nach wie vor einen Distributionsanteil im Sell-out von 98 Prozent im Lkw-Reifenersatzgeschäft. Das heißt weder heute noch zukünftig werden die Reifenhersteller bei der Lkw-Reifenvermarktung – sowohl bei Neureifen, als auch bei Runderneuerungen – ohne den Reifenfachhandel und damit auch den mittelständischen Runderneuerungsbetrieb auskommen können.

NEUE REIFENZEITUNG:
Denken Sie, dass sich die Veränderungen aus dem Strukturwandel auch in den nächsten Jahren fortsetzen werden?

Hans-Jürgen Drechsler:
Diese Konstellation wird sich meines Erachtens – zumindest mittelfristig – auch nicht ändern.

NEUE REIFENZEITUNG:
Sollte die Einführung des Reifenlabels Auswirkungen auf die Runderneuerung haben?

Hans-Jürgen Drechsler:
Bekanntermaßen nimmt der Einfluss der Politik, des Gesetzgebers auf insbesondere die Performance-Eigenschaften der Lkw-Reifen deutlich zu. Dies sowohl über das Typengenehmigungsverfahren nach EU-Verordnung 661/2009, d.h. die schrittweise Einführung von Grenzwerten für den Rollwiderstand und die Nasshaftung und die weitere Verschärfung der Grenzwerte für das Reifenabrollgeräusch bis 2017 und die Einführung verbindlicher Testkriterien für Winterreifen (M+S-Reifen), als auch über die Reifenkennzeichnungsverordnung (1222/2009) – das Reifenlabel – ab 2012, für Lkw-Reifen vorerst bezüglich des Rollwiderstandes und des Reifenabrollgeräusches.
Priorität dabei für die Lkw-Runderneuerung hat das o.g. Typengenehmigungsverfahren, da es Grundvoraussetzung für die Zulässigkeit im Straßenverkehr ist. Runderneuerte Lkw-Reifen sind zwar vorerst bis 2017 ausgenommen, aber bis dahin muss eine wirtschaftlich vertretbare Lösung für die Prüfung runderneuerter Lkw-Reifen hinsichtlich deren Rollwiderstand, Nasshaftung und Reifenabrollgeräusch in Analogie zur ECE-R 109 gefunden werden, damit sie auch nach 2017 überhaupt im Straßenverkehr zulässig sind. Genau deshalb haben wir, gemeinsam mit unseren europäischen Kollegen im BIPAVER das „Re-Tyre-Projekt“ mit EU-Kofinanzierung auf den Weg gebracht.
Die dort dann gewonnenen Erkenntnisse können auch auf das Reifenlabel angewandt werden, sodass wir damit absichern, dass auch runderneuerte Reifen zukünftig gelabelt werden können, die ja bekanntermaßen auch hier vorerst ausgenommen sind.
ab

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