Eine historisch gewachsene Unternehmenskultur – Im Gespräch mit Alberto Pirelli

Die NEUE REIFENZEITUNG hatte anlässlich einer Pirelli-Veranstaltung am türkischen Produktionsstandort Izmit die Möglichkeit, mit Alberto Pirelli (57) – in direkter Linie Nachfahre des Firmengründers Giovanni Battista Pirelli und unter anderem verantwortlich für die Region MEA (Middle East Africa) sowie das Produktsegment Landwirtschaftsreifen – ein Gespräch zu führen. Ausgehend von seiner persönlichen Biographie gibt der Stellvertretende Chairman des Konzerns Pirelli C. S.p.A. Einblicke in die Unternehmensstrategie.

NEUE REIFENZEITUNG: Herr Pirelli, Ihr Ururgroßvater war vor fast 140 Jahren Gründer des Unternehmens, das bis zum heutigen Tage den Namen Ihrer Familie trägt. Im Spitzenmanagement von Großkonzernen sind nach so vielen Jahren nur noch höchst selten Nachkommen des Firmengründers vertreten. Was bedeutet das für Sie persönlich?

Alberto Pirelli: Der Eintritt ins Unternehmen vor vielen Jahren war gewissermaßen eine Rückkehr zur eigenen Geschichte. Mein Vater, mein Großvater, mein Urgroßvater und mein Urgroßvater haben getan, was sie wohl tun mussten – und so erging es auch mir. Die Firma Pirelli ist Teil meiner Familie, ich trage das Unternehmen Pirelli im Herzen.

NEUE REIFENZEITUNG: Es gab in den letzten Monaten und gibt in der Region, für die Sie bei Pirelli verantwortlich sind, schwere Unruhen: Tunesien, Ägypten, Bahrain, Libyen, Syrien und Jemen. Welche Auswirkungen hatte das auf das Unternehmen?

Alberto Pirelli: Wir stellen in unserem ägyptischen Werk Lkw-Reifen her und in den Monaten Februar/März war aufgrund der Lage die Produktion für insgesamt etwa eine Woche unterbrochen. Weil aber unsere Produktionsstätten gut miteinander vernetzt sind und sehr flexibel reagieren können, gab es keinerlei Lieferbeeinträchtigungen in den Märkten und für die von Alexandria belieferten Kunden. Vor allem die Fabrik im türkischen Izmit hat zur Kompensation beigetragen.

NEUE REIFENZEITUNG: Welche Bedeutung hat die von Ihnen verantwortete Region MEA für den Konzern? Neben der erwähnten Fabrik in Ägypten ist schließlich das Werk in Izmit der größte Produktionsstandort im Konzern, in dem Pkw-, LLkw-, Lkw-, Motorsportreifen und Stahlkord praktisch unter einem Dach hergestellt werden.

Alberto Pirelli: Insgesamt sind die Einzelmärkte der Region sehr differenziert. Sehr dynamisch entwickelt sich beispielsweise der Golf-Bereich, für den wir in Dubai eine Dependance eingerichtet haben; vor Jahren noch unvorstellbar, entwickelt sich dort zum Beispiel für Lkw-Reifen ein „Preis-pro-Kilometer-Bewusstsein“, sodass wir mit unserer neuen Produktlinie „Serie:01“ dort zum richtigen Zeitpunkt sind. Es gibt aber auch Länder, da spielen noch Schlauchreifen auf niedrigem Preisniveau und in starkem Maße versorgt von einigen Fernostanbietern eine große Rolle. In diesen Ländern verläuft die Entwicklung hin zu Qualitäts- und Premiumprodukten leider noch langsam, und das Budgetsegment ist nicht die Pirelli-Welt: Es geht ja nicht nur um den niedrigen Preis für den Reifen, vielmehr ist damit auch ein Service verbunden, der nicht unseren Ansprüchen genügt.

NEUE REIFENZEITUNG: Wir aber sind hier in der Türkei, und die türkische Wirtschaft hat sich in den letzten drei Jahren ganz ausgezeichnet entwickelt. Die Türkei ist auch für Pirelli ein sehr wichtiger Markt, nun mahnen aber einige Wirtschaftsexperten, dass sich das hiesige Wachstum als Blase erweisen könnte.

Alberto Pirelli: Wir sind seit 50 Jahren in der Türkei vertreten, in dieser Zeit sehr stark im Lande gewachsen und Marktführer bei Premiumreifen. In all den Jahren haben wir in diesem Land einen dramatischen gesellschaftlichen und politischen Wandel gesehen. Wir haben ausgezeichnete Mitarbeiter in der Türkei, haben immer kräftig investiert und glauben an das Land!

NEUE REIFENZEITUNG: Welche Bedeutung hat der Export von Reifen, vor allem solchen aus der Fabrik in Izmit, nach Europa?

Alberto Pirelli: Wo wir einen Standort haben, wollen wir auch als nationaler Spieler wahrgenommen werden. Aber unsere Fabriken, auch die in Izmit, sind sehr exportorientiert, womit auch die Erstausrüstungsbelieferung von Premiumautomobilherstellern zum Beispiel in Deutschland gemeint ist. Wir bedienen den lokalen Markt, können aber auch Exportchancen nutzen, weil unsere Fabriken prinzipiell mit einer hohen Flexibilität ausgestattet sind.

NEUE REIFENZEITUNG: Benötigt Pirelli nicht gerade in einer Region wie die, die Sie verantworten, eine zweite Marke? Schließlich sind Premiummarken für viele Verbraucher schlicht zu teuer.

Alberto Pirelli: Wir haben ja nie wie Mitbewerber eine ausgeprägte Mehr-Marken-Strategie verfolgt (die allerdings ohnehin keine große Rolle spielende Marke Ceat läuft bei Pirelli dieser Tage aus, d. Red.). Wir investieren in Märkten, an die wir glauben, im Hochleistungsbereich und sehen uns dort mit der Marke Pirelli bestens positioniert. Hochleistungsbereich bezieht sich aber nicht nur auf das Produkt und den damit verbundenen Service, sondern auch auf die Fertigung. Und die können wir mit Reifen der Marke Pirelli gut auslasten: auf diesen Anlagen beispielsweise Budgetreifen herzustellen, erscheint uns nicht sinnvoll.

NEUE REIFENZEITUNG: Bei anderen Reifenfirmen spielen unter anderem daher sogenannte „Offtakes“ eine größere Rolle. Warum macht Pirelli da nicht mit?

Alberto Pirelli: Diese Aktivitäten sind in der Tat bei uns sehr limitiert. Offtakes passen nicht so recht zu unserer Geschäftsphilosophie. Wir wollen alles vom Einkauf der Materialien für die Fertigung bis hin zum Vertrieb an den Handel und darüber hinaus bis zur Weiterverwertung oder Entsorgung von Reifen kontrollieren, wo möglich. Das erscheint uns bei Offtakes sehr schwierig zu sein.

NEUE REIFENZEITUNG: In der von Ihnen verantworteten Region sowie in Südamerika ist Pirelli Vollsortimenter. Sie verantworten auch das Segment Landwirtschaftsreifen. Wann wird es die wieder von Pirelli in Europa geben?

Alberto Pirelli: Wir hätten tatsächlich das Recht gehabt, im Jahre 2011 mit Landwirtschaftsreifen der Marke Pirelli in den europäischen Markt zurückzukehren. Wir halten ja auch Landwirtschaftsreifen für sehr bedeutsam, wie wir gerade erst mit kräftigen Investitionen in dieses Segment in Südamerika bewiesen haben. Aber unsere Investitionsentscheidungen sind immer sehr maßgeblich bestimmt von zwei Voraussetzungen: Verspricht der jeweilige Markt starkes Wachstum und sind die Produktionskosten vergleichsweise günstig, dann sind wir auch entschlossen, schnell und kräftig zu investieren, wie wir dies ja in den „emerging markets“ tun. Außer auf Südamerika schauen wir aktuell bei Landwirtschaftsreifen vor allem auf Russland sowie die umgebenden Länder und registrieren, dass die international bedeutenden Fahrzeughersteller diese Region auch für sich entdeckt haben. In Zusammenhang mit unserer Mehrheitsbeteiligung an Sibur werden wir für Landwirtschaftsreifen in dieser Region in den nächsten Wochen Entscheidungen treffen. Was Europa anbelangt, so sehen wir bei Landwirtschaftsreifen einen weitgehend gesättigten Markt mit einigen sehr potenten Wettbewerbern, das werden wir bei unserer längerfristigen Planung zu bedenken haben.

NEUE REIFENZEITUNG: Eines Tages wird es sicherlich in dieser Industrie wieder eine Konsolidierungsrunde geben. Der Chairman des Konzerns Marco Tronchetti Provera hat jüngst gesagt, er kaufe keine Firmen, sondern allenfalls Fabriken. Welche Rolle wird Pirelli spielen, wenn solch eine Konsolidierungsrunde Fahrt aufnimmt?

Alberto Pirelli: Wir haben einen ganz klaren Investitionsplan bis zum Jahre 2015. Wenn eine Reifenfabrik zu den beiden genannten strategischen Voraussetzungen passen sollte, könnten wir eine solche Gelegenheit schnell nutzen. Der Pirelli-Konzern bestreitet heute ca. 98 Prozent seines Umsatzes mit Reifen, von denen 70 Prozent auf den Bereich Consumer (Pkw und Motorrad, d. Red.) und 30 Prozent auf den Bereich Commercial entfallen. Wir sind international sehr gut aufgestellt, Europa nimmt beim Konzernumsatz „nur“ 24 Prozent ein.

NEUE REIFENZEITUNG: Sie wollen damit also ausdrücken, dass die Geschichte des Reifenmarktes auch in den nächsten Jahren von Pirelli mitgeschrieben wird?

Alberto Pirelli antwortet mit einem zufriedenen Lächeln.

Das Gespräch mit Alberto Pirelli führte Detlef Vogt, Redakteur.

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