„Stolz auf die geschaffte Wende“

Wie wir wissen, gibt es nicht ausschließlich Erfolgsgeschichten unter den Unternehmen der ehemaligen DDR, die den Übergang in die Marktwirtschaft des wiedervereinten Deutschlands suchten. Ein Traditionsunternehmen jedoch, das die Wende ohne große Brüche überstanden und den Weg in die Privatisierung gefunden hat, ist das Reifenwerk Heidenau aus der Nähe von Dresden. Von den einst 800 Mitarbeitern, die unter der Führung des ehemaligen VEB Pneumant Kombinats noch in Heidenau arbeiteten, sind zwar mittlerweile nur noch 135 übrig. Dennoch hat sich der Zweiradreifenhersteller mittlerweile in seiner Nische fest etabliert und blickt mit Zuversicht in die unternehmerische Zukunft.

Für das Reifenwerk Heidenau macht es keinen Sinn, in die Entwicklung von Radialreifen zu investieren. Laut Verkaufsleiter Reinhard Jäger seien solche Fragen nach der Neuausrichtung des Produktsortiments zwar gerade während der unsicheren Wendezeiten gestellt worden. Die Antwort fällt damals wie heute jedoch klar aus: „Das wäre unser Untergang; in diesem Wettbewerb kann ich nur verlieren, denn ich habe keine Chance in diese Phalanx einzubrechen.“ Entsprechend nüchtern ist die Analyse des Reifenwerkes Heidenau, das sich zwar nicht grundsätzlich vor dem direkten Wettbewerb mit den großen Weltkonzernen des Reifenmarktes scheut. Dennoch haben die Verantwortlichen des Unternehmens nie den Schritt unternommen, in diesen Markt einzutreten, wissend, dass dafür immense finanzielle und personelle Mittel aufgewandt werden müssten. „Wir haben noch nicht einen Cent in die Entwicklung von Radialreifen investiert“, sagt Reinhard Jäger, der bereits seit 46 Jahren in den Diensten des Reifenwerkes steht.

Stattdessen ist es Heidenau – gerade nach der Wende – gelungen, sich einen festen Platz unter den etablierten Zweiradreifenherstellern Europas zu erarbeiten. Zu den wichtigsten Produkten, die heute im Reifenwerk Heidenau gefertigt werden, zählen Roller-, Motorrad- und Kartreifen sowie Schläuche für Zweiradreifen. Darüber hinaus stellt die Fabrik etwa Reifen für Seilbahngondeln her und ist dabei quasi Monopolist in Europa. Gleichfalls entstehen dort weiterhin Pkw-Reifen etwa der Größe 5.20-13, wie sie auf dem Trabant montiert werden. Dazu aber später mehr.

Nachdem das Reifenwerk Heidenau vom Direktorium des Pneumant-Kombinats während der Wendezeit in die unternehmerische Unabhängigkeit (nicht Privatisierung) entlassen wurde, brachte insbesondere Auftragsarbeit für Hersteller aus dem Westen Deutschlands eine gewisse finanzielle Sicherheit mit sich. Reinhard Jäger bezeichnet „insbesondere“ die frühe Zusammenarbeit mit einem anderen führenden deutschen Zweiradreifenhersteller als „lebensnotwendig“ für das Reifenwerk Heidenau. Zu Beginn der 1990er Jahre fertigte man teilweise 100 Prozent der von diesem Hersteller vermarkteten Schläuche. Zeitweise machte der Anteil des Kunden am Gesamtumsatz des Reifenwerks Heidenau über 20 Prozent aus. Es wurden zwar auch Auftragsarbeiten für andere Kunden unter den namhaften Zweiradreifenherstellern Deutschlands erledigt, nur erlangte keiner dieser Kunden jemals die Bedeutung, die der namhafte Auftraggeber für Heidenau direkt nach der Wende hatte.

Heute ist das Reifenwerk Heidenau, was seine Kundenbasis und das Produktportfolio betrifft, wesentlich breiter und somit auch sicherer aufgestellt. 40 Prozent seines Umsatzes stammen aus dem Zweiradbereich, wobei Rollerreifen daran einen leicht größeren Anteil als Motorradreifen haben. Weitere 16 Prozent des Umsatzes, den Verkaufsleiter Reinhard Jäger mit 14 Millionen Euro jährlich beziffert, stammen aus dem Geschäft mit Kartreifen, wobei Heidenau in diesem Marktsegment immer noch zu den Top-5 der Branche zählt. Noch einmal 16 Prozent des Umsatzes stammen aus dem Auftragsgeschäft, dazu gehören heute eben auch die Reifen für Seilbahngondeln. Das Reifenwerk Heidenau beliefert die drei größten Seilbahnhersteller Europas und kann dies ohne Wettbewerber tun. Früher wurden für entsprechende Anwendungen herkömmliche Straßenreifen genutzt; Heidenau-Reifen haben sich aber als überlegen erwiesen. Des Weiteren kommen acht Prozent des Heidenau-Umsatzes aus der Vermarktung von Handelsware, wozu auch bis zu 10.000 Pkw-Reifen jährlich wie auch nicht selbst gefertigte Schläuche zählen. Heidenau betreibt am Produktionsstandort übrigens auch einen kleinen Reifenhandel, über den eigene wie auch die Handelsware teilweise abgesetzt wird. Zu guter Letzt trägt die Herstellung von sonstigen Reifen einschließlich Oldtimerreifen noch rund 20 Prozent zum Unternehmensumsatz bei. Zu diesen Reifen zählen etwa auch die Trabbi-Diagonalreifen.

Auch wenn das Reifenwerk Heidenau sich vielleicht mit der Herstellung von Trabbi-Reifen den Vorhalt der „Ostalgie“ gefallen lassen muss, ein rückwärtsgewandtes Produktportfolio ist jedenfalls nicht der Grund, warum das Unternehmen in seinen Märkten oftmals zu den Marktführern zählt. Den deutschen Ersatzmarkt für Motorrollerreifen dominiert das Unternehmen aus Sachsen sogar deutlich mit einem Anteil von rund 40 Prozent. Außerdem ist Heidenau führend bei der Entwicklung und der Herstellung von Racingreifen für Motorroller und dem historischen Rennsport sowie von Winterreifen für Zweiräder. Vor zehn Jahren wurden die ersten Rollerreifen mit Winterprofil und eigener Wintermischung auf den Markt gebracht, heute wird dieses innovative Konzept von etlichen Wettbewerbern kopiert. Und seit der vorletzten Saison vermarktet Heidenau auch Motorradreifen mit Winterprofil und einer eigenen Mischung. Es handele sich bei diesem Markt zwar nicht um einen riesigen Markt. Dennoch sei es „eine Frage des Image“, auch solche Produkte zu fertigen und vor allem auch (technisch) fertigen zu können. Außerdem spiegeln solche Produktinnovationen auch das Selbstverständnis eines etablierten und zufriedenen Nischenherstellers wider. Verkaufsleiter Jäger erwartet, dass andere Hersteller demnächst bei Motorradreifen mit Winterprofilen und -mischungen nachziehen werden.

Während das Reifenwerk Heidenau früher (unter dem Dach des Pneumant-Kombinats und zuvor) beim Export vorwiegend auf die Länder hinter dem Eisernen Vorhang angewiesen war, haben sich die Exportmärkte mittlerweile zu einem weiten Feld entwickelt, erzählt Reinhard Jäger. Roller- und Motorradreifen werden europaweit vermarktet und sind dort auch bei renommierten Herstellern in der Erstausrüstung gefragt. Erst kürzlich lief sogar eine Erstausrüstungsverpflichtung in Südkorea aus. Kartreifen von Heidenau finden sogar weltweit Absatz. Heute stammen rund 40 Prozent des Umsatzes aus den Exportmärkten. All die hier genannten Umsatz- und Anteilszahlen hätten sich in der jüngsten Vergangenheit stabil entwickelt, so der Verkaufsleiter.

Dass sich das Reifenwerk Heidenau so stabil entwickelt, die Wende überstanden und den Weg in die private Unabhängigkeit gefunden hat, ist schon eine Erfolgsgeschichte für den Produktionsstandort Deutschland. Das Reifenwerk wurde bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg durch die sowjetische Militäradministration gebaut. Die Sieger des Krieges installierten in Heidenau vor den Toren des zerstörten Dresdens eine Fabrik für Gummiwalzen. Erst im Laufe der Jahre begann man am Standort defekte Lkw-Reifen zu reparieren – die erste Verbindung mit Reifen entstand. Bis zur Spezialisierung auf Zweiradreifen während der 1960er Jahre stellte das Reifenwerk Heidenau unter anderem auch Fahrrad- und Karrenreifen her. In den 1970er Jahren kam dann der Zusammenschluss der verschiedenen Produktionsstätten für Reifen in der DDR unter dem Dach des VEB Kombinat Pneumant, wozu dann auch unter anderem die heute von Goodyear-Dunlop betriebenen Reifenwerke in Riesa und Fürstenwalde zählten. Ab da wurden die Reifen, die in Heidenau gefertigt wurden, nicht mehr als „Heidenau“-, sondern als „Pneumant“-Reifen verkauft.

Am Ende der DDR drohte auch die Liquidation auf das Kombinat Pneumant zuzukommen, wovon im Volkseigenen Betrieb in Heidenau direkt 800 Mitarbeiter betroffen gewesen wären. Nach der Loslösung vom restlichen Kombinat durch den Beschluss des Direktoriums kam das Reifenwerk unter die Obhut der Treuhand Gesellschaft. Diese wiederum veranlasste die Reduzierung der Mitarbeiterzahl von damals 800 auf unter 100. Während man auf der Suche nach einem Investor war (die Continental AG war zwischendurch sogar im Gespräch), konnte das Reifenwerk immer weiterproduzieren, zwar auf niedrigerem Niveau, aber immerhin. Selbst Investitionen in geringem Umfang waren möglich, so Reinhard Jäger, und Löhne wurden auch stets pünktlich gezahlt. 1993 kam dann die Übernahme durch die Gummi-Hansen GmbH & Co. Produktions KG aus Hannover, einem damaligen Kunden des Reifenwerkes Heidenau, mit dem das Gespräch über eine Übernahme eher zufällig zustande kam.

Es ist gerade diese Phase des Übergangs in die Privatisierung, die beim Reifenwerk Heidenau für den größten Bruch in der mittlerweile über 60-jährigen Geschichte des Unternehmens gesorgt hat. Reinhard Jäger, der im kommenden Jahr sein 65. Lebensjahr vollendet und seit 46 Jahren in den Diensten des Reifenherstellers – zunächst als Produktionsarbeiter mit der Ausbildung zum Facharbeiter für Gummitechnologie – steht, musste gerade während dieses Übergangs auch Entscheidungen treffen, die nicht immer einfach sind, aber die Verbundenheit mit dem lokalen Produktionsstandort festigen. Wie bereits erwähnt, musste ein Großteil der ursprünglich 800 Beschäftigten entlassen werden, darunter viele, mit denen man sich durch etliche gemeinsame Jahre im Unternehmen verbunden fühlte. Dies beschreibt Jäger als „bitteren Weg“, weist aber im Gespräch mit der NEUE REIFENZEITUNG darauf hin, dass das Unternehmen heute wieder Menschen neue Arbeitsplätze gibt. „Wir sind stolz, dass wir es über die Wende hin geschafft haben“, so Jäger. Am Standort in der Nähe von Dresden ist nicht mehr allzu viel von der alten Industrie übrig geblieben. Das Reifenwerk Heidenau jedenfalls sieht sich auf einem guten Weg in eine sichere Zukunft und investiert weiter in die Sicherung des eigenen Standortes, des Produktionsstandortes Deutschland.

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