Standard- oder nicht doch eher eine Systemfrage?

Standen im Rahmen der letztjährigen Tagung der IQPC Gesellschaft für Management Konferenzen mbH – das Akronym steht für International Quality & Productivity Center – zum Thema „Intelligent Tire Technology“ noch mehr oder weniger deutlich Notlaufreifen und Pannenlaufkonzepte im Vordergrund, kam diese Rolle bei der dritten Veranstaltung dieser Art eher den im Markt erhältlichen Reifendruckkontrollsystemen im Allgemeinen bzw. deren spezifischen Vor- oder Nachteilen im Besonderen zu. Wobei natürlich vor allem die Frage im Raum stand, welcher Systemansatz – direkt messend per Druck- bzw. Temperatursensor im Reifen oder via Raddrehzahlanalyse über die ABS-Infrastruktur im Fahrzeug – sich langfristig wohl wird durchsetzen können.

Das bedeutet nicht, dass bei der diesjährigen Konferenz nicht auch von Notlaufreifen die Rede gewesen wäre. Doch viel Neues an dieser Front gibt es offenbar nicht: Nach wie vor scheint lediglich BMW kompromisslos auf die serienmäßige Ausstattung seiner Fahrzeugmodelle mit seitenwandverstärkten Reifen zu setzen, die auch im Falle eines vollständigen Druckverlustes eine gewisse Wegstrecke das Weiterfahren ermöglichen. Dass andere Autohersteller nicht auf die gleiche Linie einschwenken, hängt im Wesentlichen mit deren Bedenken in Sachen Komfort zusammen. Denn eine steifere Seitenwand hat nun einmal nicht die gleichen Dämpfungseigenschaften wie die eines konventionellen Reifens. BMW sucht dem durch eine entsprechend angepasste Auslegung der Fahrwerke seiner Fahrzeuge entgegenzusteuern, doch die Wettbewerber des bayrischen Herstellers geben sich nach wie vor eher abwartend.

Sie hoffen möglicherweise auf eine solche Generation von Notlaufreifen, wie sie Michael Markoff, Projektkoordinator RunOnFlat-Technologie vom Goodyear Technical Center in Luxemburg, in groben Zügen skizzierte. Ziel der Entwickler bei Goodyear Dunlop ist es seinen Worten zufolge, die Verbesserungen bei den Runflats so weit voranzutreiben, dass sie fast die gleichen Eigenschaften wie konventionelle Reifen aufweisen. „Das heißt, die ‚Next-Generation-RunOnFlat-Reifen’ müssen leichter werden und mehr Komfort bei einem niedrigeren Rollwiderstand und geringen Kosten bieten“, so Markoff, der aufgrund jahrelanger Erfahrungen die Führerschaft in Sachen Notlaufreifentechnologie für sein Unternehmen reklamiert.

Trotz aller vermeintlicher oder tatsächlicher Fortschritte auf technischer Seite scheint die Botschaft bezüglich der Vorzüge von Notlaufreifen mit verstärkten Seitenwänden – Stützringsysteme werden nach dem Stopp der PAX-Weiterentwicklung durch Michelin ohnehin möglicherweise weiterhin nur ein Nischendasein fristen – beim Endverbraucher bislang nicht zu verfangen. Wie sonst lässt sich erklären, dass der Europool-Statistik zufolge der Absatz beispielsweise von Runflat-Winterreifen (Industrie an Handel) während der ersten neun Monate 2007 in Deutschland wie in ganz Westeuropa um runde 16 Prozent in Bezug zur Vergleichsperiode des Vorjahres zurückgegangen ist? Zumal der Pkw-Winterreifenabsatz insgesamt – wohl aufgrund des milden Winters 2006/2007 und den dadurch aufgebauten Lagerkapazitäten im Handel – im gleichen Beobachtungszeitraum „nur“ um acht Prozent rückläufig war und für so manches Marktsegment (Geschwindigkeitsindex H und höher) teilweise sogar Zuwachsraten gemeldet werden.

Wen wundert’s? Bei ihrer Überzeugungsarbeit rund um den Kauf eines neuen Autos fahren die Verkäufer in den Autohäusern im Gespräch mit einem interessierten Verbraucher sicherlich eine Vielzahl von Argumenten auf, die für das jeweilige Fahrzeugmodell dieser oder jener Marke sprechen – das Thema (Notlauf-)Reifen bleibt dabei höchstwahrscheinlich weit öfter außen vor als beispielsweise das trendige Navigationsgerät als Extra oder sogar als Serienausstattung. Und das vor dem Hintergrund, dass – wie Markoff meint – Runflats „durch die OEMs in den Markt gedrückt werden müssen“, was laut Mark Shaw, Senior System Engineer bei der US-amerikanischen Freescale Semiconductor Inc., im Übrigen in gleichem Maße für die in immer mehr Fahrzeugen verfügbaren Reifendruckkontrollsysteme gilt. Wobei es, sagt Shaw, seinen aus dem US-Ersatzgeschäft stammenden Erfahrungen nach selbst gestandenen Reifenservicefachkräften zunehmend schwerer falle, alle im Markt befindlichen Reifendruckkontrollsysteme bzw. deren Besonderheiten zu überblicken und im Falle eines Falles in korrekter Weise zu warten.

Wie bereits im Rahmen der CTI-Konferenz in Stuttgart (vgl. bereits NEUE REIFENZEITUNG 9/2007) wurden die Anbieter indirekt messender Reifendruckkontrollsysteme zwar auch im Rahmen der IQPC-Tagung in Frankfurt nicht müde, die baldige Konformität ihrer neuesten Entwicklungen mit den Anforderungen des amerikanischen Federal Motor Vehicle Safety Standard (FMVSS) 138 zu proklamieren. Doch bisher erfüllen nach wie vor nur direkt messende Systeme die von der die National Highway Traffic Safety Administration (NHTSA) der Vereinigten Staaten festgeschriebenen Kriterien für Reifendruckkontrollsysteme, die seit September dieses Jahres in allen in den USA verkauften Neufahrzeugen mit einem zulässigen Gesamtgewicht bis 4,5 Tonnen installiert sein müssen.

Insofern rühren die von Shaw beschriebenen Systemwirren weniger von einer Konfusion in Sachen direkter und indirekter Reifenfülldruckbestimmung her. Vielmehr zielt Shaws Kritik beispielsweise auf die Vielzahl unterschiedlicher Sensormodule im Markt ab. Da es keinen festgeschriebenen Standard hinsichtlich etwa der Sensorbauform, des Übertragungsprotokolls bei der Übermittlung der von den Sensoren gemessenen Daten per Funk an ein Steuergerät sowie des Einbaus oder der Inbetriebnahme der Druck-/Temperatursensoren gebe, sei Frustration – beim Servicepersonal wie beim Verbraucher – so gut wie vorprogrammiert. Mit Beschädigungen der Drucksensoren beim Montieren bzw. Demontieren von Reifen in der Werkstatt oder falschen Warnmeldungen eines Systems aufgrund fehlerhafter Installation desselben etwa durch Verwendung nicht passender Komponenten nennt Shaw beispielhaft zwei nach seinen Erfahrungen recht häufig vorkommende Praxisfälle.

„Die Gesetzgebung in Sachen Reifendruckkontrollsysteme für die im US-Markt angebotenen Fahrzeuge hat den Zulieferern nur wenig Zeit gelassen, entsprechende Systeme zu entwickeln. Nachdem die endgültige FMVS138-Version feststand, blieben nur drei Jahre Zeit für die Umsetzung einer 100-Prozent-Quote bei der Ausrüstung der in den USA verkauften Fahrzeuge. Dabei ist eine Diskussion und die Entwicklung von einheitlichen Standards noch vor der Einführung von Systemen der ersten Generation auf der Strecke geblieben“, kritisiert Shaw und meint, dass dieses Hauruck-Verfahren bzw. die daraus resultierenden und zuvor von ihm beschriebenen Auswirkungen im Markt der Akzeptanz entsprechender Systeme nicht gerade zuträglich gewesen sei. Daher ist es nur logisch, dass er für eine Standardisierung plädiert, um Problemen in den Werkstätten vorzubeugen und offenbar bereits verloren gegangenes Vertrauen in die elektronische Reifendruckkontrolle bei den US-Verbrauchern zurückzugewinnen. Das Austauschen eines Drucksensors sollte seiner Meinung nach so einfach sein, wie das Wechseln einer Zündkerze.

Das Einführen neuer Technologien in einen bestehenden Markt ist jedoch immer mit gewissen Reibungsverlusten verbunden. Nicht umsonst wird derzeit unter dem Dach des Wirtschaftsverbandes der deutschen Kautschukindustrie e.V. (WdK) ein Leitfaden für die Montage von Runflat-Reifen erarbeitet, weil es hier – wie Bernhard Hoffmann, Leiter Produktmanagement bei Rema Tip Top, im Rahmen der IQPC-Tagnung noch einmal darlegte – mitunter schon zu vermeidbaren Beschädigungen der Pneus gekommen ist. Und sicher können sich einige noch daran erinnern, dass es auch hierzulande in der Anfangsphase des Öfteren zu Problemen kam, als die ersten Fahrzeuge mit Drucksensoren im Inneren ihrer Reifen in die Werkstatt rollten. Dank zahlreicher entsprechender Schulungsangebote seitens der Reifenhersteller, Werkstattausrüster, Verbände etc. sollte all dies in Deutschland mittlerweile aber eigentlich kein Thema mehr sein.

Anders als etwa bei den (noch) bestehenden prinzipbedingten Nachteilen beispielsweise in Sachen des Komforts von Notlauf- gegenüber konventionellen Reifen, dürften insofern wohl weniger technische Gründe Ursache der immer noch vergleichsweise geringen Marktdurchdringung von Reifendruckkontrollsystemen bei Neufahrzeugen außerhalb der USA sein. Eher ist es wohl als Marketingproblem zu bezeichnen, dass es noch nicht auf breiter Front gelungen ist, den Autofahrern den Vorteil entsprechender Überwachungssysteme für den Reifenluftdruck ihrer Fahrzeuge zu vermitteln. Aber auch das Kostenargument spielt hierbei unter Umständen eine Rolle: Denn selbst wenn der Verbraucher weiß, dass ein entsprechendes System einen Beitrag in Sachen Fahrsicherheit zu leisten in der Lage ist – was ist ihm die Sache letztendlich als in Euro und Cent zu bezahlende (Sonder-)Ausstattung seines nächsten Fahrzeugs wert?

Nicht umsonst wird einerseits fieberhaft daran gearbeitet, den als kostengünstiger geltenden indirekten Reifendruckkontrollsystemen mithilfe immer weiterer Verbesserungen und Verfeinerungen der Technologie über die FMVSS-138-Hürde der NHTSA zu verhelfen. So stellte Christoph Methfessel von der Dunlop Tech GmbH während der Tagung in Frankfurt beispielsweise ein weiterentwickeltes System unter dem Akronym TPM-F vor, bei dem eine zusätzliche Analyse von etwaigen Verschiebungen der Reifenresonanzfrequenzen erlauben soll, auch den gleichzeitigen Druckverlust in mehr als einem Reifen – eines der zu erfüllenden NHTSA-Kriterien, an denen indirekte Lösungen bisher meist scheitern – zu detektieren.

Andererseits versucht das Lager von Vertretern direkter Systeme, die den Reifenfülldruck mittels Sensoren tatsächlich messen, den Fahrzeugherstellern ihre aufgrund der dafür nötigen zusätzlichen Hardware teureren Lösungen durch so genannte „Added-Value“-Funktionen schmackhaft zu machen. Das Motto dabei lautet: Wenn die Lösungen nun schon teurer als indirekte Systeme sind, dann sollten sie wenigstens auch gleich noch viel mehr Sinnvolles leisten als diese. Als Beispiel dafür kann man das von Siemens VDO in Zusammenarbeit mit Goodyear entwickelte Intelligent Tire System (ITS) heranziehen, das Dr. Gregor Kuchler von dem nun wohl bald zu Continental gehörenden Unternehmen in Frankfurt vorstellte und über das die NEUE REIFENZEITUNG bereits mehrfach ausführlich berichtet hat (zuletzt in unserer September-Ausgabe).

Welcher Systemansatz – indirekte Bestimmung von Fülldruckabweichung über die Raddrehzahlanalyse mittels ABS-Infrastruktur oder direkt messend per Drucksensor – sich letztendlich langfristig wird durchsetzen können, lässt sich momentan noch nicht beurteilen. Laut Volker Taggruber, Manager Produktmarketing TPMS bei dem Chiphersteller Infineon, ist einer Prognose der Strategic Analystics vom Ende vergangenen Jahres zufolge aber davon auszugehen, dass zukünftig etwa ein Viertel bis ein Drittel aller eingesetzten Druckkontrollsysteme weltweit mittels der indirekten Methode vor Fülldruckabweichungen in den Reifen warnen wird. Dies würde darauf hindeuten, dass direkt messende Systeme leicht an Boden verlieren, denn für 2007 wird für sie von einem weltweiten Marktanteil von etwa vier Fünfteln – verbaut in 18 Millionen von weltweit insgesamt 22,6 Millionen Fahrzeugen mit Reifendruckkontrolle (siehe Schaubild) – ausgegangen. Wobei Siemens VDO dem von Dr. Kuchler in Frankfurt präsentierten Zahlenmaterial zufolge von regional sehr unterschiedlichen Entwicklungen in den USA, Europa und Japan/Asien ausgeht.

Auch wenn sich Reifendruckkontrollsysteme – abgesehen von dem Muss in den USA – möglicherweise nicht ganz so schnell im weltweiten Markt durchsetzen, wie es vielleicht wünschenswert wäre, so deutet jedoch alles darauf hin, dass dieser Bereich nichtsdestotrotz ein Wachstumsmarkt zu sein scheint. Und damit sind nicht nur etwa die von Taggruber oder Kuchler präsentierten Zahlen gemeint – auch die rege Forschungs- und Entwicklungstätigkeit auf diesem Gebiet, die einen entsprechenden Niederschlag im diesjährigen Programm IQPC-Konferenz fand, könnte als weiterer Beleg dafür gewertet werden. Umgekehrt muss man abwarten, ob die von Januar bis September dieses Jahres beobachteten rückläufigen Verkaufszahlen an Winter-Runflats und das im Rahmen der Frankfurter Tagung nur wenig Neue in Sachen Notlaufreifen wirklich als Indiz für eine mangelnde oder zurückgehende Akzeptanz dieser Reifengattung im Markt interpretiert werden dürfen. Sicher ist schon heute allerdings, dass die IQPC Gesellschaft für Management Konferenzen mbH auch 2008 wieder eine Tagung „Intelligent Tire Technology“ veranstalten wird. Sie ist für den 7. bis 10. Oktober kommenden Jahres geplant und soll dann – bei ihrer immerhin schon vierten Ausgabe – in Wiesbaden stattfinden.

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