Über die Pkw-Reifen-Erstausrüstung

In der NEUE REIFENZEITUNG liegt der Schwerpunkt beim Handelsgeschäft mit Reifen bzw. auf dem Reifenersatzmarkt. Das wird auch so bleiben. Aber das Erstausrüstungsgeschäft mit Reifen ist nun einmal Teil des Marktes. Im Übrigen aber nicht der transparenteste: So halten die Reifenhersteller die dort gängigen Reifenpreise unter Verschluss, von denen es schon mal heißt, sie seien „unauskömmlich“ oder es würden gar Verluste in diesem Bereich generiert. Und selbst die Verteilung der Marktanteile in der Erstausrüstung ist nicht genau bekannt und Gegenstand von Schätzungen. Wie bei den Zahlen für den Ersatzmarkt weiß jeder Reifenhersteller zwar genau, wie groß sein eigener Anteil ist, aber bei sämtlichen Wettbewerbern ist er auf Schätzungen angewiesen – mit recht großen Unsicherheitsfaktoren. Insofern ist auch das in diesem Zusammenhang veröffentlichte Schaubild nur eine recht vage Schätzung, aber vielleicht Anlass für den ein oder anderen Reifenhersteller, ein wenig mehr Transparenz zu wagen.

Dabei sein ist alles

Die Reihenfolge der Erstausrüstungslieferanten Pkw-Reifen gilt jedenfalls als wenig strittig. Wobei darauf hinzuweisen ist, dass die Zahlen sich jeweils auf den Konzern beziehen, bei Goodyear also die beachtlichen Dunlop- und bei Bridgestone die beachtlichen Firestone-Volumina enthalten sind und selbst Continental (mit Barum) nicht zu hundert Prozent auf ihre Premiummarke setzt, sondern aufgrund der besonderen Positionierung dieser Reifenmarke in ihrem Heimatmarkt Tschechien manches Auto mit Barum-Reifen vom Band rollt, womit selbstredend in erster Linie an Skoda gedacht ist. Was in Deutschland als „Premium“ gilt, muss dies nicht zwangsläufig in jedem anderen europäischen Land auch sein, so ist beispielsweise eine Marke Firestone in Spanien hoch angesehen, trotz Formel-1-Engagement tut sich der gemeine Verbraucher allerdings mit der Marke Bridgestone, die doch so sehr für anspruchsvollste Technik stehen soll, schwer.

Das Wort „Premium“ will natürlich jeder für sich reklamieren, der Techniker, der Verkäufer, der Marketingmann und auch die Verantwortlichen einer preisgünstigen Automarke. Und natürlich soll auch auf einem Logan oder Fox eine Reifenmarke mit bestem Klang verbaut werden, zumal es nur sehr wenige Möglichkeiten am Automobil gibt, das Image der Automarke zusätzlich durch das positive Image eines Zubehörproduktes aufzuwerten. Außer Reifen gibt es da nicht viele sichtbare Teile. Eine wesentlich breitere Markenstreuung macht beim Erstausrüstungsbauteil Reifen keinen Sinn, der Autohersteller wird kein Interesse haben, sich mit noch mehr Zulieferern auseinanderzusetzen und möchte tendenziell ebenso wie sein Reifenzulieferer, dass alle Ressourcen bei einer (Premium-)Reifenmarke gebündelt sind.

Sehr weitgehend haben die „Top Five“ den Erstausrüstungsmarkt Pkw-Reifen unter sich aufgeteilt. Und es ist nur sehr schwer vorstellbar, dass ein Reifenhersteller mit Übersee-Produktion größere Anteile erhält. Dass jedenfalls die beiden japanischen Hersteller Yokohama und Toyo – letzterer aktuell ohne rechtes OE-Engagement (OE wird gerne als Akronym für Original Equipment genommen) – ziemlich konkret planen, irgendwann auch in Europa eine Fertigungsbasis zu errichten und dann „echte Erstausrüster“ werden zu wollen ist bekannt; Hankook hat eine neue und sehr großdimensionierte Fabrik gerade im Juni in Ungarn angefahren unter anderem mit dem erklärten Ziel, von dort aus auch die europäischen Erstausrüstungskunden – bei denen die Koreaner sich anschicken, die Rolle des Nischenspielers zu verlassen – mit erstausrüstungstauglichen Reifen zu beliefern. Auch Kumho wird irgendwann den Sprung nach Europa – vielleicht wie Toyo erst nach Errichtung eines Werkes in Nordamerika – wagen, denn anders lassen sich die gesteckten Ziele kaum erreichen.

Im Ersatzgeschäft mögen Logistikkosten Herstellern vom anderen Ende der Welt nicht wirklich weh tun, in der Erstausrüstung ist das anders: Zum einen wird mit viel spitzerem Bleistift gerechnet, zum anderen lassen selbst Lkw-Distanzen von 1.500 Kilometern noch eine gewisse Flexibilität zu und sind gegenüber einem Container, der über Wochen auf den Weltmeeren schwimmt, im Vorteil. Übrigens: Ein Hersteller aus Japan, Korea oder auch China muss nicht nur die Kosten für den vollen Container Richtung Europa kalkulieren, sondern auch oftmals den leeren retour – die Welthandelsströme sind nun mal so. Klar ist: Je dichter der Zulieferer mit seinem Werk an der Autofabrik bzw. der dort zuständigen Komplettradmontage ist, desto größer sein Vorteil bzw. im umgekehrten Falle der Nachteil.

Warum nur verteidigen die „Big Five“ ihr Terrain so hartnäckig und versuchen jedenfalls Koreaner und Japaner partout auch Erstausrüsterstatus zu bekommen, wo doch im Nachrüstmarkt viel lukrativere Geschäfte winken und man jedenfalls – trotz allgemeiner Klagen über die Preise – recht „auskömmlich“ agieren kann? Die Erklärung: In der Erstausrüstung fallen die technologisch wichtigen Zukunftsentscheidungen, hier findet Fortschritt statt, machen sich die Unternehmen fit für die Ansprüche von morgen. Haben „Follower“ gerade mal eine Lücke geschlossen, weil sie mühsam die Reifen der renommierten und – aus deren Sicht – in der Champions League spielenden Unternehmen analysiert und verstanden haben, da fahnden die Konzerne Bridgestone, Continental, Goodyear, Michelin und Pirelli schon längst wieder nach noch mehr Entwicklungspotenzial. Die Erstausrüstung ist ein permanenter Technologietreiber. Dem Continental-Vorstandsvorsitzenden Manfred Wennemer – in Personalunion auch für die Pkw-Sparte zuständig – wird die Aussage zugeschrieben, man müsse die Erstausrüstung als Investition fürs Ersatzgeschäft begreifen. Wer Erstausrüstung in größerem Stil betreibt, tritt damit den Beweis an, über das erforderliche Know-how, das heißt auf der oberen Stufe der technologischen Entwicklung zu stehen.

Wer über Pro und Kontra Pkw-Erstausrüstung diskutiert, kommt irgendwann unweigerlich auf das Stichwort „Nachlauf“. Gemeint ist die Bereitschaft des Verbrauchers, bei anfallendem Ersatzbedarf genau jenes Fabrikat zu erwerben, das er bereits auf dem Auto vorgefunden hat, als er es neu gekauft hat. Je höherwertiger die Automarke und das -modell, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Kunde wie gewünscht „funktioniert“. Auf Volumenmarken und -modellen ist der Nachlauf geringer, mit dem Alter des Fahrzeuges nimmt darüber hinaus auch die Bereitschaft ab, für die im Reifenersatzgeschäft teure Premiummarke viel Geld zu bezahlen: Das ist die Stunde der Follower, der Zweit- und Drittmarken der großen Konzerne, aber auch der Importeure ohne jegliches Erstausrüstungsengagement.

Im Zusammenhang mit dem Ersatzgeschäft, das ja nicht völlig losgelöst von der Erstausrüstung gesehen werden kann, sei ein kleiner Schlenker erlaubt: Der Reifenhandel klagt gelegentlich, dass es in gleicher Dimension zwischen Audi-, BMW- oder Mercedes-Reifen technische Unterschiede gibt. Das ist so und lässt sich auch erfahren, nur ändern lässt es sich nicht mehr. Diese Uhr kann nicht mehr zurückgedreht werden. Diese Entwicklung wurde in den 90er Jahren initiiert, ob damals nicht genügend vom Reifenfachhandel bekämpft, ist heute eine müßige Frage. Logistisch hat der freie Reifenfachhandel einen Nachteil gegenüber einem BMW-Autohaus, das selbstredend den BMW-Reifen verkauft, und Mercedes, wo ebenso der Originalreifen verkauft wird – im Übrigen zu erkennen an speziellen Signaturen. Will der lokale Reifenhändler mit seinem betreffenden Autohaus vor Ort auf Augenhöhe sein, muss er auch den entsprechenden Reifen mit genau der Spezifikation dieses Autoherstellers vorrätig haben oder wenigstens sehr kurzfristig besorgen können. Qualifizierte Reifenhändler machen dies – vielleicht auch zähneknirschend – längst, indem sie bei ihrem Reifenhersteller entsprechend ordern. Gegenüber „Feierabendbuden“ grenzen sie sich damit positiv ab, gegenüber den entsprechenden Autohäusern geben sich die entsprechenden Betriebe jedenfalls keine Blöße und tragen das Siegel Reifenfachhändler zu Recht. Den Reifen gegenüber dem Hersteller genau zu definieren ist eine Zusatzaufgabe, sich entsprechende Reifen für die verschiedenen Automarken aufs Lager zu packen verlangt sehr genaue lokale Marktkenntnisse – es liegt letzten Endes beim Händler, den Nachteil gegenüber einem Autohaus zu minimieren. Um sich positiv von einem Audi- oder Mercedes-Autohaus abzuheben, bedarf es freilich anderer Instrumente als die Bevorratung.

Wieviel Erstausrüstung kann sich ein Reifenhersteller leisten, um nicht irgendwann in eine üble Ertragsfalle zu tappen? Da gibt es die Faustformel: soviel Anteil, wie der Markt Umfang hat und das auch noch in möglichst jedem Segment vom Kleinwagen bis zum Sportauto – also das Reifenvolumen bestehend aus Erstausrüstung plus Ersatzgeschäft. Da nun allerdings die Zweit- und Drittmarken der großen Konzerne sowie die Importeure in den Ersatzmärkten überproportional vertreten sind, kann diese Rechnung kaum aufgehen. Die „Big Five“ haben allesamt europaweit einen Erstausrüstungsanteil, der ihren Anteil am Gesamtmarkt übersteigt. Wer ihn zu stark überschreitet, der kann in seinem OE-Geschäft in der Tat kräftig bluten, wer ihn nur wenig überschreitet oder auch in der Erstausrüstung einen günstigen Mix aus Hochgeschwindigkeits- und Brot-und-Butter-Reifen hat (wie zum Beispiel Pirelli), kann dies schon entspannter sehen.

Das Procedere ist höchst uneinheitlich

Jeder Reifenhersteller hat seine ganz eigene Philosophie in der Erstausrüstung. Eine „Multi-brand“-Strategie ist in der Erstausrüstung viel schwerer realisierbar als im Ersatzgeschäft. Und wo aus historischen Gründen zwei starke OE-Marken sind, da ist es doppelt schwer, auf eine Premiummarke umzuswitchen, ohne Anteile zu verlieren. Als Goodyear die unternehmerische Führung bei Dunlop in Europa übernahm, hatten die Hanauer bei einigen Reifenherstellern eine formidable Reputation, die zu unterwandern töricht gewesen wäre. Und so hört man noch heute Klagen von Seiten der Produktion, dass ein gemeinsamer grüner Reifen für Goodyear und Dunlop einfach nicht durchsetzbar ist. Der Kunde Automobilhersteller verlangt nach unterschiedlichen Charakteristika von Goodyear und Dunlop – anderenfalls droht er zu einem Wettbewerber unter den Reifenherstellern zu wechseln. Dass Dunlop als Juniorpartner im Gespann mit Goodyear permanent in Gefahr ist, den Premiumstatus zu verlieren, ist geradezu mit den Händen zu fassen.

Die Strategie bei den Marken Bridgestone und Firestone ist eine andere, fußt aber gleichwohl ebenfalls auf einem historischen Prozess: So genießt eine Marke Firestone in Märkten wie Spanien oder Frankreich durchaus Anerkennung und ist es für Bridgestone sehr mühsam, in diesen Ländern in der Erstausrüstung schnell zu reüssieren. Also geht man den langen Weg über die Zeitleiste und behilft sich einstweilen mit der ja durchaus schlüssigen Strategie, die Marke Bridgestone stehe für überlegene Technologie, die Marke Firestone für das Niveau, auf dem sich alle anderen tummeln. Wobei mit überlegener Technologie nicht unbedingt gemeint ist, das UHP-Segment und Runflats seien für Bridgestone reserviert und für die Allerweltsautos käme – so es die Automobilhersteller denn so wünschen – Firestone in Frage. Vielmehr wird auch bei einem extrem rollwiderstandsoptimierten Reifen wie für den inzwischen längst aus den Verkaufsräumen verbannten Audi A2 gerne auf die „erste Marke“ zurückgegriffen, denn solch ein Reifen ist einfach eine große technologische Herausforderung.

Jeder der fünf Reifenhersteller ist bestrebt, seine Premium- oder Erstmarke auf einem Neufahrzeug zu platzieren. Sowohl Bridgestone mit Firestone wie Goodyear mit Dunlop haben zu realisieren, dass es nur mit bösen Einbrüchen verbunden wäre, solch einen Umbruch über Gebühr schnell herbei zu führen. Conti hat diesen Kraftakt mit Uniroyal – zur Verbitterung mancher Sympathisanten der Regenschirmmarke – bereits vor knapp zwei Jahrzehnten recht konsequent vorangetrieben, vielleicht auch, weil zum damaligen Zeitpunkt keiner so recht wusste, was aus den Namensrechten – die ja in Nordamerika bei Michelin liegen – werden würde. Aber auch Michelin selbst hat eine Marke Kleber an so manchem Fahrzeug „ausplätschern“ lassen.

Mitunter gebietet es die Vernunft, vom „Single-branding“ in der Erstausrüstung abzuweichen: Wenn beispielsweise der tschechische Ministerpräsident auf seinem Fahrzeug die Marke Barum präferiert und die in diesem „pocket market“ einen sensationell hohen Marktanteil hat, dann ist es opportun, die Fahrzeuge herauszufiltern, bei denen Continental meint, sie würden überwiegend in der Tschechischen Republik verkauft und könnten darum ruhig den Schriftzug Barum tragen. Übrigens wird Continental mit der just akquirierten Marke Matador ein ähnliches Problemchen kriegen, schließlich hat Matador in der Slowakei einen überragenden Marktanteil, ist auch in anderen osteuropäischen Ländern respektiert – und ein Erstausrüstungslieferant bei Skoda. Nur Pirelli fährt eine glasklare „Ein-Marken-Strategie“, allerdings mit dem Preis, im Volumenmarkt unterrepräsentiert zu sein.

Auch Billigautos haben Premiumlastenhefte

Nikolai Setzer – seit 1. Juli Leiter des Erstausrüstungsgeschäfts mit Pkw-Reifen bei Continental in Hannover und zuvor erst Leiter des Key Account Managements im Bereich Erstausrüstung in Europa und Asien sowie danach für drei Jahre in Nord- und Südamerika – räumt ganz entschieden mit dem Vorurteil auf, für die immer stärker in den Markt drängenden Billigautos seien die Lastenhefte möglicherweise etwas dünner. Es gibt kein Freigabeprocedere, das irgendein Reifenhersteller quasi „mit links“ bewältigen könnte. Und das bei ca. 200 Pkw-Freigaben (!), die Continental allein im letzten Jahr für sich verbuchen konnte.

Es gebe nur „Premiumlastenhefte“, sagt der OE-Verantwortliche bei Continental in Hannover, der aber weit davon entfernt ist, sich angesichts der unstrittigen OE-Erfolge in den letzten Jahren – in 2003 hat der deutsche Konzern die lange Jahre dominanten Franzosen in der Erstausrüstung von Platz Eins verdrängt – zurückzulehnen. Was ihn vor allem umtreibt ist das enorme und immer schneller werdende Entwicklungstempo, das von den Automobilherstellern vorgegeben wird, gleichzeitig die Ressourcen bei Forschung & Entwicklung aber nicht in gleichem Maße mitwachsen. Wer glaubt, mit den „Big Five“ habe sich ein Oligopol gebildet, der irrt. Setzer: „Haupttreiber in der Entwicklung ist der enorme Wettbewerbsdruck.“

Nun hören wir immer wieder von der Reifenherstellern, die von ihnen produzierten Produkte seien hochkomplex und ohnehin Hightech-Erzeugnisse. Das soll auch nicht in Abrede gestellt werden, aber übertüncht einen Aspekt, der gerade für die Automobilhersteller bei der Fahrzeugentwicklung von enormer Bedeutung ist: Durch Drehen an einzelnen Stellschrauben lassen sich auch noch relativ kurz vor der Markteinführung eines neuen Autos kleinere Entwicklungsdefizite ausbügeln und manchmal auch größere Änderungen (bis hin zum Dimensionswechsel) noch bewältigen. Während Komponenten wie Bremsen oder Achsen bereits Monate vor der Präsentation eines neuen Autos fest definiert sind und praktisch nicht mehr veränderbar, kann ein Automobilhersteller seinen Reifenzulieferer doch noch vier Wochen vor dem großen Präsentationstermin auffordern, doch beispielsweise den mühsam gefundenen Kompromiss zwischen Agilität und Komfort ein wenig in die eine oder andere Richtung zu verschieben.

Wobei beim Produkt „Reifen“ zwar auch manche Entwicklungen in den Geschäftsbeziehungen stattfinden, die den Zulieferern übel aufstoßen, dennoch hält sich so etwas wie ein „Ehrenkodex“, heißt: Blaupausen über die technischen Daten eines Zubehörteils, die ein Automobilhersteller einem anderen Zulieferer zuspielt, sind bei Reifen jedenfalls nicht an der Tagesordnung. Dass dennoch ein Reifenzulieferer ziemlich genau weiß, wie weit ein Wettbewerber ist, liegt an der engen Entwicklungspartnerschaft, die auch beinhaltet, dass der Reifenhersteller beim Freigabeprozedere auf dem Testgelände des Automobilherstellers auch die Produkte des Wettbewerbers sieht und natürlich die dort erzielten Resultate erfährt. Und wenn ein Automobilhersteller Freigabetests in Vizzola auf dem Areal Pirellis fährt, dann hat er auch den entsprechenden Conti- oder Michelin-Reifen im Gepäck. Und so mancher Test wird weder auf dem Gelände des Zulieferers noch auf dem des Autobauers, sondern auf angemietetem Testareal gefahren (wie Rennstrecken, Papenburg, sonstigen frei zugänglichen Einrichtungen etc.). Die Reifenhersteller versuchen in Kooperation mit dem jeweiligen Autohersteller so genannte „Korrelationen“ zu fahren, um zu gewährleisten, dass die Testergebnisse auf sämtlichen Geländen vergleichbar sind und Faktoren wie Temperaturschwankungen berücksichtigt werden.

Einen Reifen, der nur perfekt auf dem Contidrom funktioniert, in Ladoux bei Michelin aber durchfällt, gibt es nicht. Allerhöchstens werden Messunterschiede im Marginalbereich konstatiert. Die Reifenhersteller haben sicherzustellen, dass ihre Produkte unter allen Umständen funktionieren – mit der Folge, dass deren Charakteristika, jedenfalls was die für ein bestimmtes Fahrzeug entwickelten Reifen betrifft, durchaus sehr ähnlich sind. Ein Erstausrüstungsreifen von Bridgestone auf einem bestimmten BMW-Modell wird in seinen Eigenschaften dem entsprechenden Dunlop-Reifen in gleicher Größe sehr ähnlich sein. Was allerdings immer wieder passiert: Dass ein Reifenhersteller bei seiner Entwicklung in Verzug gerät und nachbessern muss, sodass sich der Namenszug dieses zum Zeitpunkt der Markteinführung eigentlich vorgesehenen Produzenten noch nicht auf den Reifen der Fahrzeuge befindet, die der Presse präsentiert werden.

Das hat dann natürlich Auswirkungen auf die geplanten Produktionskapazitäten in einem Wettbewerberwerk, in dem die entsprechenden Erstausrüstungsreifen hergestellt werden. Aber das ist im Allgemeinen nur von kurzer Dauer: Der Reifenhersteller erfährt – errechnet von den Verkaufs- und Marketingabteilungen der Automobilhersteller, welche Volumina wann abgefragt werden und beim Automobilhersteller direkt oder in der für diese Autofabrik zuständigen Komplettradmontage bereit zu stehen haben. Das geschieht wie bei anderen Zulieferteilen auch: Vielleicht ein Jahr vor der Montage der entsprechenden Autos wird dem Zulieferer mitgeteilt, ob und mit welchen ungefähren Volumina er dafür als Reifenlieferant vorgesehen ist. Auf der Zeitleiste werden diese Angaben immer präziser, je näher das Datum der Radmontage rückt. Die Abweichungen von den Zielvorgaben werden immer geringer, gleichwohl gibt es sie: So berichteten schon mal Aluräderhersteller von viel geringeren Abrufen – vielleicht so zwanzig Prozent – als prognostiziert. In den meisten Fällen war ein Automobilhersteller was die Absatzzahlen seines neuen Modells anbelangt zu optimistisch. Spezielle „Kundenbetreuer“ an der Nahtstelle zwischen Auto- und Reifenhersteller passen den größeren Zulieferern und also auch bei den großen Fünf in der europäischen Reifenerstausrüstung auf, dass es möglichst keine unangenehmen Überraschungen gibt.

Der leidige Preis

Das Problem für einen Zulieferer: Es kann ja sein, dass er bei seiner Preiskalkulation wesentlich höhere Stückzahlen kalkuliert hat und plötzlich nicht mehr mit dem errechneten Betrag hinkommt. Dass das im Prinzip auch beim Produkt Reifen gilt, bestätigt auch Nikolai Setzer. Befragt nach „strategischen Preisen“ – also solchen, bei denen man von vornherein weiß, dass man nur rote Zahlen wird schreiben können –, gibt er zu bedenken, dass doch auch ein Verkäufer auf Seiten des Zulieferers in der Verpflichtung steht, für seinen Arbeitgeber das Maximum herauszuholen. Ergo: Der Einkäufer auf Seiten des Automobilherstellers und der Verkäufer auf Seiten des Zulieferers haben einen Kompromiss zu finden, mit dem sie ihren jeweiligen Chefs unter die Augen treten können.

Natürlich ist auch das erwartete Volumen ein Bestandteil der Preisfindung, wobei es zwischen den Vertretern der Produktion, die sich möglichst viele „Long-runs“, also volumenstarke Losgrößen wünschen, und den Vertretern des Marketing, die besonders gerne prestigeträchtige Projekte sehen würden, eine Art „Spannungsfeld“ gibt. Dass bei geringen Reifenvolumina, weil beispielsweise von vornherein nur eine sehr übersichtliche Anzahl von Autos geplant ist, oder weil der Reifen extrem hochgeschwindigkeitstauglich sein muss, die Produktionskosten höher sind – das liegt auf der Hand. Bei „homöopathischen Dosen“ sollte einerseits der Preis extrem steigen, andererseits spielt der Reifeneinkaufspreis im Verhältnis zum Automobilpreis bei einem Ferrari sicherlich eine geringere Rolle als bei einem Ford Focus. „Es gibt keine Faustregel“, fasst Nikolai Setzer zusammen.

Auf Dauer „fix“ ist ein Preis ohnehin nicht, wobei es viele Faktoren geben kann, in der einen wie der anderen Richtung: Kräftig steigende Rohstoffpreise, gestiegene Energiepreise oder neue Tarifverträge, die die Lohnkosten in die Höhe treiben, können einen Zulieferer veranlassen, um eine Preisanpassung nachzusuchen. Umgekehrt wird der Automobilhersteller natürlich fragen, welche Produktivitätsfortschritte sein Zulieferer gemacht hat, die sich in geringeren Kosten niederschlagen und an denen auch er partizipieren möchte. Eine grundsätzliche Preisdiskussion findet alljährlich statt, kurzfristige Preisanpassungen sind allerdings ebenso möglich, bestätigt Setzer. Wobei im Gespräch mit ihm kein Wort fällt über einen in den Medien wiederholt publizierten „rüden Stil“, mit dem die Automobilhersteller ihre Zulieferer behandeln. Man darf allerdings unterstellen. Wenn das für das OE-Department Continentals auch gelten sollte, würde er es wohl kaum erwähnen.

So wie jeder Reifenhersteller seine Eigenheiten und Besonderheiten in der Organisation im Bereich Erstausrüstung haben dürfte, gibt es auch keine einheitlichen Verhaltensweisen der Kunden Automobilhersteller. Jeder hat so seine Schwerpunkte und Eigenheiten, gemeinsam ist ihnen wohl nur, dass sie allesamt glauben, ihr Vorgehen sei verglichen mit dem automobilen Wettbewerb das überlegene. Hersteller A glaubt die Reifen präziser zu testen als Autobauer B, Fahrzeugmarke C stellt an ein Produktionswerk des Zulieferers etwas andere Anforderungen als Fabrikat D usw. Ob Preisfindung oder Freigabe-Plazet – jeder Automobilhersteller hat da so seine eigenen kleinen Rituale.

Es gibt „Basis-“ oder standardisierte Beurteilungen gemäß ISO oder VDA-Normen, die zu einer Zertifizierung eines Werkes beispielsweise für Reifen führen. Damit ist den Besonderheiten eines Automobilherstellers noch nicht Genüge getan. Er möchte das Werk, aus dem die für seine Modelle bestimmten Reifen stammen, noch einer individuellen Auditierung unterziehen und wird sicherstellen wollen, dass die entsprechenden Reifen nicht aus einer nicht auditierten Reifenfabrik kommen. Usus ist im Übrigen, dass bei allen Reifenherstellern neben den Erstausrüstungsreifen auch solche fürs Ersatzgeschäft aus den Formen kommen. Reine „OE-Werke“ wie bei einigen anderen Autoteilen gibt es bis dato nicht und es zeichnet sich auch keine Entwicklung dorthin ab.

Das Lastenheft

Bevor es allerdings zur Produktion überhaupt kommt, hat der Zulieferer ein so genanntes Lastenheft abzuarbeiten. Natürlich wünscht sich ein Reifenhersteller – gerade auch angesichts der bei jedem begrenzten Entwicklungsressourcen – möglichst viel Zeit für diesen Prozess. Generell lässt sich wohl sagen, dass der ihm zur Verfügung stehende Zeitrahmen in den letzten Jahren immer knapper wurde. Partiell konnte das dadurch kompensiert werden, dass bestimmte Entwicklungen und Tests inzwischen recht präzise von Computern simuliert werden können und eine Vorhersage möglich ist, wie sich der Reifen denn später mal verhalten wird; manch ein langfristiger und manchmal auch etwas unpräziser Outdoortest konnte so gestrichen oder „eingedampft“ werden. Bei einem Vorlauf von etwa drei Jahren gilt die Entwicklungsarbeit für einen Erstausrüstungsreifen als „gut planbar“, wie der Conti-Verantwortliche ausführt. Oft genug aber steht nur etwa ein Jahr zur Verfügung.

Wer zur Markteinführung eines Autos Erstausrüstungslieferant ist, hat keine Garantie, dies auch bis zum Abschluss des Lebenszyklus dieses Modells zu bleiben. Erfolgt nach einer gewissen Zeit für ein Automodell ein „Facelift“, so können für alle Beteiligten die Kosten niedrig gehalten werden, wenn davon die Rad-Reifen-Kombination nicht betroffen ist. Oft genug bedeutet aber „Facelifting“ auch, das Auto beispielsweise sportlicher erscheinen zu lassen, es wird daher beispielsweise von 15 auf 16 Zoll in der Erstausrüstung aufgepeppt. Für den Reifenhersteller bedeutet dies im Prinzip, das Lastenheft noch einmal zu durchlaufen – vielleicht nicht in Gänze, weil man ja Erfahrungen mit dem Vorgängermodell gesammelt hat, auf denen aufzubauen sinnvoll ist. Aber: Jede Reifengröße ist ein separates Bauteil und hat darum sein eigenes Lastenheft.

Bei einer völligen Neukonstruktion fängt nicht nur der Automobilhersteller bei Null an, auch der Reifenzulieferer. Da ist die Gefahr größer, dass es zu einer Fehleinschätzung kommt. Als ein Beispiel ist das Kippen der A-Klasse in Erinnerung, das manche Gründe hatte, aber eben auch in der Konstruktion der dafür entwickelten Reifen eine Ursache hatte: Die Seitenwände der für die Erstausrüstung bei der A-Klasse vorgesehenen Reifen begünstigten das Umfallen des Autos beim Slalom, was dann zu dem berühmt gewordenen Elchtest führte, der heute auch ein Kriterium beim Freigabeprozedere ist.

Das Durchlaufen des Lastenheftes ist dem beiliegenden Schaubild zu entnehmen und sollte in der Freigabe und dann auch in der Belieferung des Automobilherstellers seinen krönenden Abschluss finden. Wobei am Anfang die Nachrichtenlage für einen Reifenhersteller immer etwas unbefriedigend ist. Er erfährt Dinge vom Autohersteller wie zum Beispiel, wo das Fahrzeug im Markt positioniert werden soll, wie schnell es maximal fahren wird, wie das Gewicht auf den vorderen oder hinteren Teil verteilt sein wird usw. Und er versucht, daraus seine Schlüsse zu ziehen und sich zu fragen, wie denn ein Reifen für solch ein neues Automodell auszusehen hat. Und er berücksichtigt die Prioritäten, die der Automobilhersteller setzt: Waren in den 90er Jahren Kriterien wie Nässe auf der Liste ganz weit oben, so heißt der heutige „Megatrend“ Rollwiderstand, wobei natürlich das Entwicklungsziel Fahrsicherheit nie ernsthaft in Gefahr raten dürfte, auf der Prioritätenliste zurückzufallen.

Und der Reifenhersteller wird sich daraufhin in seiner eigenen bestehenden Palette umschauen, ob er dort bereits ein Produkt hat, das dem Anforderungsprofil nahe kommt bzw. wird versuchen, sein bestehendes Produktangebot wie einen „Baukasten“ zu nutzen. Dieser Reifenhersteller – und er weiß, dass er nicht der einzige Entwicklungspartner ist und seine Kollegen vom Wettbewerb vor ähnlichen Fragen stehen – hat sich möglicherweise an einem so genannten „Referenzreifen“ zu orientieren. Das ist ein Reifen einer Marke (nicht unbedingt der eigenen), der bei diesem Fahrzeughersteller irgendwann mal besonders gut funktioniert hat, inzwischen zwar technologisch überholt sein mag, aber ganz gewiss immer noch ein guter, wenn auch nicht (mehr) unbedingt der beste Reifen sein muss.

Bei den Indoortests (Punkt 6) weiß der Entwickler schon einigermaßen genau, wie sich der Reifen auf dem Fahrzeug verhalten wird. Sollte die Entwicklung tatsächlich in die falsche Richtung gelaufen sein, wird man prüfen, ob sich mit einer Modifikation die Vorarbeit noch nutzen lässt oder man besser abbricht und die Entwicklung völlig neu aufnimmt. Die Crux: Zu Entwicklungsbeginn werden die Tests auf einem Referenzauto durchgeführt, von dem man dachte, dass es so ähnliche Anforderungen wie das geplante Fahrzeug stellen dürfte, später tauscht man dieses gegen einen – herbeigesehnten – Prototypen, mit dem sich dann in Richtung Komfort (Punkt 9: Geräusch, Vibrationen etc.) schon konkreter weitermachen lässt.

Wobei es im Interesse des Automobilherstellers wie seines Zulieferers liegt, die Entwicklungsteams von beiden möglichst eng miteinander zu verzahnen, um die Gefahr von Fehlentwicklungen zu verringern bzw. diese gar zu vermeiden. Eine Verzögerung des Einführungstermins ist für alle Beteiligten nicht nur unschön, sondern kann auch negative wirtschaftliche Auswirkungen haben. Manchmal klappt der gemeinsame Versuch von Auto- und Reifenhersteller im ersten Anlauf, oft aber heißt es auch: nachbessern. Das kann dann bedeuten, dass der eine Reifenhersteller seine Hausaufgaben auf Anhieb fehlerfrei abliefert, ein anderer nachsitzen muss. Treffen kann es dabei jeden mal. Im Idealfalle ist der Reifen jedenfalls etwa ein halbes Jahr bevor das neue Modell in den Verkauf kommt fertig konstruiert.

Zusammenfassung

Wer nach branchendurchgängigen typischen Mechanismen beim Thema Reifenerstausrüstung fahndet, wird nur sehr bedingt fündig. Es gibt Mindeststandards bei den Produkten und bei deren Fertigung. Wo genau diese Standards liegen, ist schon Sache des betreffenden Unternehmens. Jeder Automobilhersteller hat letzten Endes seine eigenen Unternehmensphilosophien, jeder Reifenhersteller auch. Das gilt in technischer Hinsicht, im Bereich Marketing und bei der Preisfindung auch. Nicht bei jeder europäischen Automarke sind die Reifenhersteller adäquat zu ihrer Marktbedeutung vertreten, bei jedem Volumenhersteller sind es die „Big Five“ Continental, Michelin, Goodyear, Bridgestone und Pirelli aber sehr wohl. Diskussionen, ob ein Hersteller von „Autos fürs Volk“ die Anzahl seiner Zulieferer auf zwei oder drei beschränken könnte, werden bei einigen Bauteilen wegen tatsächlicher oder vermeintlicher Kostenvorteile geführt und sogar „Single-sourcing“ betrieben, beim Produkt Reifen ist so etwas nicht in Sicht; fällt von drei in etwa gleich gut vertretenen Herstellern nur einer aus, droht der GAU – ein fertig produziertes Fahrzeug, an dem aber die Reifen fehlen. Solch einen plötzlichen Ausfall können die beiden anderen Lieferanten nur selten auffangen und für sich nutzen. Gerne sehen sie es, wenn ihre überproportional auf den Premiummodellen der Autobauer montiert werden; und gerne sehen sie es, wenn die Reifen für die Volumenmodelle an Standorten mit möglichst geringen Kosten wie in Tschechien, Polen oder Rumänien hergestellt werden können. Das klappt nicht immer wie in einem perfekten Modell, wie sollte es auch bei einem Geschäft voller individueller Besonderheiten.

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